Unser Boot. Christoph Büchels Strategien der subversiven Affirmation

Der Basler Künstler Christoph Büchel sorgt für Aufreger – auch jetzt auf der 58. Venedig Biennale. Doch sieht man bei seinem Projekt BARCA NOSTRA genauer hin, geht seine Kunst weit über den kalkulierten Skandal hinaus.

I. Venedig Biennale im Juli

Es ist schwül-warm in Venedig. Am Wochenende zog ein Unwetter über die Stadt. Das italienische Kreuzfahrtschiff Costa Deliziosa hätte um ein Haar die Mole an den Giardini touchiert. Das ist jetzt in aller Munde. Der staubtrockene Kies knirscht unter den Schuhen der wenigen Besucherinnen, die es hinter die alten Lagerhäuser der Arsenale geschafft haben. Der einstige Militärhafen der Serenissima ist der zweite Ausstellungsort der 58. Venedig Biennale. Hier liegt Christoph Büchels umstrittenes Wrack BARCA NOSTRA. Steil ragt sein Bug in den Sommerhimmel. Drei verwitterte Medaillons mit arabischen Schriftzeichen und ein fünfzackiger Stern prangen zuoberst. Ihre Glücksversprechen scheinen nichts genutzt zu haben. Der Elendskahn mit verwitterter türkisblauer, rostroter Farbe am Rumpf, vier weit klaffende Risse in den Bordwänden, liegt durch Stahlträger gestützt an der Mole. Rechts vom Wrack stehen niedere Baracken, ein Café lockt zum Aperol Spritz, dahinter steht ein ausgedienter Lastkrahn auf einem schweren steinernen Sockel. Wie der Krahn wirkt der Kahn wie ein Relikt aus betriebsamen Zeiten. Die meisten gehen achtlos vorüber. Daran ändert auch das schwarze Absperrband nichts. Es fehlen die erklärenden Schilder, jeder Hinweis auf ein Kunstwerk, eine Künstlerin.

Dennoch hat kein Kunstwerk der 58. Venedig-Kunst-Biennale so für so viel Aufruhr gesorgt. Vor vier Jahren hatte der Basler es schon einmal mit einer Moschee geschafft, Venedig und das rechte Italien auf die Barrikaden zu treiben. Nun also ein Kutter, mit dem 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise vor der italienischen Küste über 800 Menschen ertrunken waren. Der Innenminister und stellvertretende Ministerpräsident Italiens Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega Nord sprach schon vor der Eröffnung reflexartig von Propaganda und einer „unzulässigen Einmischung in die Politik des Landes.“ Auch die Kunstszene zeigte sich gespalten: Während der britische Guardian die Biennale insgesamt für gelungen hielt, feuerte er gegen das Schiff Breitseite: Es sei die mit Abstand schlechteste Arbeit, falsch platziert, „just crass“. Gegenteilig, doch ebenso dogmatisch, wertet das deutsche Kunstmagazin Monopol. Sein Verdikt gegen die gesamte Biennale, nimmt nur eine Arbeit aus, BARCA NOSTRA. Ihre Qualität liege gerade darin, dass völlig unklar sei, „ob es nun Kunst ist oder nicht.“ An keiner Stelle der Biennale war ihr Leitthema Kunst und Politik, Erinnerung und der Skandal Tausender Opfer, die seit 2015 bei der Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen sind, so komplex enggeführt und hitzig debattiert worden. Die Schlagzeilen beherrschten kurz darauf allerdings die Deutsche Kapitänin Carola Rackete und die erneuten Positionierungsversuche europäischer Politikerinnen dem Problem Herr zu werden. Es lohnt sich also genauer hinzusehen. Das führt zur Recherche in die Schweizer Provinz – nach Sankt Gallen. 

II._ “House of Fiction (Pumpwerk Heimat)“

Dort ist Büchels einzige Installation erhalten, House of Fiction (Pumpwerk Heimat) an der Lockremise aus dem Jahr 2003. Die einstige Fust-Eigentümmerin und Mäzenin Ursula Hauser präsentierte dort bis 2004 ihre Sammlung von Gegenwartskunst. Dazu wurde jährlich ein site-spezifisches, eigens für die Räume geschaffenes Kunstwerk in Auftrag gegeben. Christoph Büchel bespielte den nebenan errichteten Wasserturm, der erste Stahlbetonbau der Schweiz aus dem Jahr 1906. Nach dem Abzug der Hauser-Sammlung blieb Büchels Installation geschlossen. Erst nach einer Volksabstimmung zur Nutzung der Remise 2008 wurde die Arbeit angekauft, in die Trägerschaft des Kunstmuseums Sankt Gallen überführt, saniert und durch den Künstler erweitert. Seit 2013 steht sie an Sonntagen für jedermann offen. In Absprache mit Büchel hat man auch hier auf jede Werbung und Hinweisschilder, einen grösseren Besucherandrang könnte das House of Fiction ohnehin nicht bewältigen. Die Besucherinnen werden nur einzeln und nacheinander für 30 und 60 Minuten eingelassen. Sie erhält an der Kasse Instruktionen und einen Schlüssel, steigt über Leiter, öffnet die Tür in drei Metern Höhe und befindet sich nun auf Büchels labyrinthischer Bühne. Eine Herausforderung! Der Künstler schickt sein Publikum sportlich über Stiegen, morsche Leitern und Rutschen in eine aberwitzige Folge inszenierter Räume. Wirklichkeit erscheint verschoben, surreal, vertraut und angstbesetzt. Dabei gelingt der Szenografie das Vorgefundene vom Taubenkot bis zum Wassertank so einzubinden, dass Inszenierung und Wirklichkeit kaum mehr zu unterscheiden sind. Die Besucherin gelangt zuerst in einen Vorraum der ohne nennenswerten Eingriff aus der Betriebszeit des Pumpwerks stammt, doch längst jene Patina angenommen hat, mit der die Vergangenheit beklemmend heranrückt. Wie Alice in Wonderland steht die Besucherin als nächstes vor der Wahl eine von zwei Türen zu öffnen um weiterzukommen. Eine ist verschlossen. Die andere durch ein Sofa verbaut. Man zögert darübersteigen und findet sich in einem engen, seit langem verlassenen Wohnzimmer. Eine Kleinbürgerexistenz hatte sich hier offensichtlich heimelig gemacht. Letztes Lebenszeichen, eine BLICK-Ausgabe vom 13. Dezember 2001, Schlagzeile: „Drama in Dietlikon. Blutbad aus Eifersucht.“ Das Kino im Kopf, der Fährtenleser, Detektiv und Geschichtenerzähler wird aktiviert. Solchermassen vorprogrammiert steigt man von Raum zu Raum in die Abgründe und Höhen des Kleinbürgerlebens, das auch den Distanzierten abholt und berührt. Wer neidete in den 1970er-Jahren nicht die Besitzer einer Autowerkstatt, die am Motorblock eines Opel-Manta-GSI herumschraubten? Bei Büchel wird dieser Traum zum Finale greifbare Realität und zum Bild gelebter und ungelebter Möglichkeiten.

Was hat das mit BARCA NOSTRA zu tun? Eine einfache Erklärung wäre der Hinweis auf das Konzept der Appropriation. Der Künstler wählt vorgefundene Objekte und Materialien aus, arrangiert sie neu und stellt sie in den Kontext der Kunst. Nun arrangiert Büchel in Sankt Gallen Gebrauchsgegenstände zu einem neuen Bühnen-Set und transferiert das Schiff in den Kunstkontext der Biennale. Tatsächlich bekommt der Wohnungsplunder und das Wrack dadurch eine Aufmerksamkeit, die sie vorher nicht hatten. Durch diesen Transfer aus einer diffus formatierten Wirklichkeit in eine Sphäre des künstlichen Scheins, erhalten sie für das Publikum Bedeutsamkeit und die Möglichkeit Narrative daran festzumachen. Das gelingt Büchel jedoch gerade darin, die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Schein offen und fliessend zu halten. Seine Arbeiten werden daher nicht im Sinne Marcel Duchamps, dem ersten Gewährsmann dieser Strategie, kraft Künstlersetzung zu einem Kunstwerk erklärt. Den Arbeiten Büchels fehlt die Signatur, die das Objekt in die Sphäre der ästhetischen Betrachtung hebt. Er ist nicht anwesend. Er hat sich als Erklärer seiner Arbeit seit Jahren vollkommen zurückgezogen.

Damit ergibt sich ein zweiter Ansatz: Die Diskretion des Künstlers setzt den mündigen Betrachter frei. Auch hier wird Marcel Duchamp als Gewährsmann aufgerufen: Bloss viszerale, an Oberflächenreize appellierende Kunst unterschlägt den wesentlichen Aspekt der Kunst. Der spricht den Geist und das Lesevermögen des Publikums an. Einfach gesagt: Christoph Büchel produziert kein autonomes Kunstwerk, sondern stellt Situationen her, in denen sich Denkmal und Aktion durchkreuzen. Weder in Sankt Gallen noch in Venedig gehen die Arbeiten im de facto Gegebenen auf. Das Kunstwerk entsteht im Kopf des Betrachters.

III._ Von Sankt Gallen nach Venedig

Doch zwischen dem introvertierten Kammerspiel in Sankt Gallen und dem dramatischen Auftritt in Venedig bestehen auch erhebliche Differenzen und eine Werkentwicklung von sechzehn Jahren. Zu Beginn seiner Karriere, nach einem Kunststudium in Basel, New York und Düsseldorf bis 1997, verlegte sich Büchel Ende der 1990er-Jahre auf den Bau von lebensnahen, klaustrophoben Interieurs in Galerien, Museen aber auch kunstfernen Orten, die die Besucherin, den Besucher als aktiven Mitspieler forderten. In Zürich machte seine mit dem Aktionskünstler Gianni Motti geplante Aktion Capital Affair, 2002, im Zürcher Helmhaus Furore. Das Ausstellungsbudget von 50.000 Franken sollte im ansonsten leeren Haus versteckt und dem Finder zuerkannt werden. Dazu kam es nicht. Der kurz vorher ins Amt gehobene Stadtpräsident Elmar Ledergerber intervenierte und überwies das Geld an das vom Elbehochwasser geschädigte Dresden. Wie hätten sich die Besucher verhalten? Das Helmhaus eine Bühne von Aktionisten und Beobachtern, von Haltungen und Distinktionsrochaden. An solchen Bühnen zwischen Wirklichkeit und Kunst baut Büchel weiter. Sie besetzen ein Zwischenreich. Schon im Winter 2002 verwandelte er einen Musik-Keller im Kunstverein Hannover in eine Gefrierzelle, MINUS. Tribuanl im Kunstmuseum Basel 2004, zeigte US-amerikanische Verhör- und Gerichtszellen, die man über eine Leiter in der Decke erreichte. Guantanamo wiederum mit Motti zur 51. Venedig Biennale 2005, oder die Strassenaktion Salzburg bleibt frei (2006) griffen Reizthemen auf wie das US-Gefangenen Lager auf Kuba und den Rechtsradikalismus.

Seit den 1960er-Jahren schufen Künstlerinnen wie George Segal, Ed Kienholz oder Emilia und Illja Kabakow realitätsnahe Environments. Ihre Botschaft sollte näher an die Lebenswirklichkeit des Publikums transportiert werden. Doch es wurde noch auf Objekt-Distanz gehalten. Das änderte sich mit der darauffolgenden Generation. Teilhabe, Partizipation hiess jetzt mittendrin und dabei sein: Gregor Schneider, Jahrgang 1969, schickte seine Betrachter im Totes Haus U r 2001 auf der 49. Venedig Biennale durch beklemmende Situationen, die sein über die Jahre labyrithisch ausgebautes Elternhaus bereitgestellt gestellt hatte, und erhielt den Goldenen Löwen. Mike Nelson, 1967 geboren, baute 2011 den Britischen Pavillon I, Impostor zu einem gerade verlassenen orientalischen Haus um, dessen vormaligen Bewohnern es nachzuspüren galt. Damit hatte sich eine Kunstgattung etabliert, die längst nicht mehr nur von Bildenden Künstlerinnen bedient wird. Theaterkollektive wie Rimini Protokoll, das Duo Signa und Arthur Köstler oder die diesjährigen Venedig-Preisträgerinnen Rugilė Barzdžiukaitė, Vaiva Grainytė und Lina Lapelytė mit The Sun and the Sea im Litauischen Pavillon entwerfen aufwendige Parcours, in denen gecastete Darsteller mit dem Publikum interagieren. Auch Büchel belebt seine Installationen. Zum ersten Mal 2008, als die Installation Deutsche Grammatik das Kassler Fridericianum in eine Shoppingmal verwandelt, die Kulturinstitution im Abwicklungsprozess: Ein Baustellenplakat vor der Tür kündigte den Umbau zu einer Filiale der Bundesagentur für Arbeit an. Statt den Fundus zu plündern, suchte er Kollaborationspartner aus der Wirtschaft. Mit ihrer Logistik und den Angestellten nun das Haus bespielt. Während draussen in Anspielung auf Joseph Beuys’ Eichenpflanzaktion zur documenta 7 Tannenbäumchen gepflanzt wurden, lockte drinnen die Weihnachtstanne zum Shoppen in einer Mc-Geiz-Filiale, boten Versicherer ihre Dienstleistungen an, während eine Spielothek, Sportgeräte und Sonnenbänke für Freizeitspass und Entspannung sorgten. Eine vermüllte Kegelbahn im Keller und die verlassene Abwartswohnung verrieten bessere Zeiten. Von der Kunst in den Obergeschossen waren nur zertrümmerte Vitrinen übrig. Dazu lud Büchel, zu einer Parteien-Messe, auf der sich im Rahmen der Deutschen Grammatik politische Vereinigungen von der Linken bis zur AfD und NPD an Ständen präsentieren konnten. Bei den Politwerbern wie den Angestellten an der Kasse handelte es sich weder Schauspieler noch „Experten des Alltags“, die ihre Geschichte erzählen, wie man sie von Rimini Protokoll her kennt. Büchels Arbeitenunterbrechen jedes vorgefertigte Narrativ. Es geht um den mündigen Zuschauer.

IV.Kollaboration und Interaktion. Vom Swinger-Club zur Moschee

Kollaborationen werden in der Folge zum treibenden Motor Büchels Projekte. Der Kunst ihre Kunst. Der Freiheit ihre Zeit, 2010 in der Wiener Sezession, dem Allerheiligesten der K.u.K.-Moderne, arbeitete mit einem stadtbekannten BDSM-Swingerclub. Büchel organisierte seinen Umzug. Tags war das schwüle Ambiente zu besichtigen. Nachts ging es nach den Regeln des Clubs zur Sache. Das Picadilly Community Center bot 2011 Sozialeinrichtungen Londons Gelegenheit in den eigens arrangierten Räumen der Galerie Hauser & Wirth Programme durchzuführen. Kochen, Tanzen, Gitarre spielen oder an der Bar hängen, war nun für alle im hochgentrifizierten Zentrum der Stadt geboten. In Museumspädagogik, 2013, im Kunstmuseum Herford gestalteten Behinderte zwischen Arno Breker-Skulpturen Tonfiguren, die Messe Land of David (AFFBR), (2014) gab im tasmanischen Berriedale Esoterikmarktanbietern eine Plattform.

Büchels bisher komplexeste Arbeit gelang 2015 mit The Mosque, dem offizieller Beitrag Islands zur 56. Venedig Biennale. Sein Projekt sah vor, dass zum ersten Mal in der Geschichte Venedigs ein islamisches Gebetshaus eröffnet wird. Die Behörden hatten dies den über 3.000 Muslimen der Stadt bisher verwehrt. The Mosque war ein Lehrstück der Kooperation und Kollaboration. Christoph Büchel hatte mit dem Icelandic Art Institute (IAC) im Rücken eine Vielzahl kommunaler Behörden und kirchlicher Instanzen zu gewinnen. Auf der Ebene der Kollaboration hingegen die venezianischen Islamgemeinschaften, zu denen die 750-Seelen-Gemeinde Islands die Türen geöffnet hatte. In diesem Setting besaß der Künstler allenfalls eine moderierende, keine kontrollierende Rolle. Mit diesem kollaborativen Aspekt war jedoch der Konflikt mit der kooperativen Seite vorprogrammiert. 8. Mai wurde The Mosque eröffnet. Dazu hatte der Künstler das Innere der ehemaligen Klosterkirche Santa Maria della Misericordia behutsam dem Ritus angepasst: Gebetsteppich statt Kirchenbänke, eine Mihrāb ragte aus der Ostwand, daneben eine steile Minbar und tief in den Raum hing ein achteckiger Leuchter. Auch für die r die Wuḍū, die Fusswaschung war gesorgt. Während Getränkeautomaten Wasser und Mecca-Cola spendeten, bot der Shop allerlei für das geistige und körperliche Wohl. Büchel war, wenn auch nur für kurz, ein unaufdringlicher Ort der kulturellen Begegnung gelungen. Als Teil eines partizipativen Clusters erfreuten sich die Biennalebesucher des schönen Raums, während die anderen ihr Haupt gen Mekka neigten. Die Behörden schlossen daher den Isländischen Pavillon bereits nach zwei Wochen – man habe eine Kunstinstallation genehmigt, aber keine Moschee in Betrieb.

V. Das Boot

Auch der BARCA NOSTRA prophezeiten einige das vorzeitige Ende. Auch sie nimmt sich als Skandalon sondergleichen aus. Im ursprünglichen Wortsinn. Sie ist eine Falle, ein Ärgernis, – ein Artefakt, in dem sich wieder Performanz und Monument durchkreuzen, ohne in einem dieser Momente aufzugehen. Das Wrack am Kai der Arsenale ruft die Hunderten auf, die mit ihm ertrunken sind, ihre abwesenden Körper, ihre nicht gelebten Leben, und mit ihnen die Geschichte vom Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik. Büchels Monument zwingt zum Nachfragen, zur Rekonstruktion eines Vorgangs, dessen Ungeheuerlichkeit ein grelles Licht auf den Wahnsinn unserer Tage zurückwirft. In der ersten Juliwoche ertranken über 80 Menschen vor der tunesischen Küste bei dem Versuch nach Italien zu gelangen. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) waren es allein 682 auf dieser Route, 426 von Libyen aus, Resultat einer verantwortungslosen Europäischen Migrations- und Seenotrettungspolitik.

Wird der Kahn von den Besuchern auch darum ignoriert? Will man nicht allzu direkt damit konfrontiert werden? Und ist es nicht zynisch, den Kutter wie ein Requisit aus einem Filmset zu präsentieren? Ja, wenn das Schiff für mehr gehalten würde, als eben das, was es ist, ein schäbiger Kahn, ein Sarg für die Namenlosen, die mit ihm starben, ein Mahnmal menschlichen Versagens. Der performative Konzeptualismus Büchels verbietet gerade auch darum, den Kahn zum Kunstwerk zu erklären. Manch einer mag sich an der Patina erfreuen, oder an labile Zustand des Kolosses, 21 Meter lang, 17 Meter breit. Doch jede Betrachterin, jeder Betrachter schweigt vor den rechteckigen Schweißlöchern, durch die, nachdem das Schiff nach vielen Monaten gehoben war, die Leichen geborgen wurden. Und woher stammen die vier gewaltigen Risse in der Bordwand? Wie konnte die massive Stahlkonstruktion, auf der das Schiff ruht, im vorderen Teil so brachial verbogen werden? Auf diese Fragen erhalten wir vor Ort keine Antwort. Wir sind auf den Kurztext im Katalog, auf die Presseerklärung, Informationen aus dem Internet und Nachfragen beim Projektteam angewiesen.

Der Reihe nach. Am 18. April 2015 kollidierte ein portugiesischer Containerfrachter mit dem Flüchtlingsschiff 190 km vor Lampedusa beim Versuch dem überfüllten Boot zu Hilfe zu kommen, das zuvor SOS gefunkt hatte. Der ehemalige Fischkutter, von syrischen Schleppern gekauft und von einem Strand bei Tripolis in See gestochen, war für fünfzehn Mann Besatzung ausgelegt. Nach Zeugenberichten waren nun 700 bis 950 Menschen an Bord, aus Mali, Gambia, Senegal, Somalia, Eritrea und Bangladesch. Durch unsachgemäße Manöver von Kapitän und Steuermann, beide überleben und wurden später zu Haftstrafen von 18 und 5 Jahren verurteilt, kenterte das überladene Schiff nach einer Massenpanik. Der namenlose Fischkutter, lediglich „Gesegnet von Allah“ ist in den Medaillons zu lesen, riss alle in die Tiefe. Nur 28 überleben. 27 Leichen barg man aus dem Meer. Das Unglück machte Schlagzeilen. Kurz zuvor im Oktober 2014 war das allein von Italien getragene Unternehmen Mare Nostrum zur Rettung von Bootsflüchtigen durch die Operation Triton unter Leitung der 2004 gegründeten Europäischen Grenzbehörde Frontex ersetzt worden. Triton war finanziell deutlich geringer ausgestattet, sollte zuerst die Grenzen sichern. Die Rettung Schiffbrüchiger kam erst an zweiter Stelle. Man beschränkte die Einsätze daher von vornherein auf einen Aktionsradius von 30 Seemeilen vor der italienischen Küste. NGOs und Reederverbände warnten rasch vor einem drohenden Anstieg der Todesfälle von Flüchtlingen im Mittelmeer. Tatsächlich kamen allein in der dritten Aprilwoche 2015 bei mehreren Unglücken 1.200 Menschen ums Leben. Die Havarie des im Namen Allahs geweihten Fischerkahns sollte jedoch das gemessen an den Opferzahlen schwerste Schiffsunglück im Mittelmeer seit Beendigung des zweiten Weltkriegs sein. Das Grauen hatte damit kein Ende. Zunächst hielt man die Bergung des Schiffes für Überflüssig, die Opfer blieben Namenlos, Öffentlichkeit und Angehörige im Ungewissen. Während der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi eine Bergung ankündigte, hielt die italienische Staatsanwaltschaft diese für die strafrechtlichen Ermittlungen für irrelevant und zu kostspielig. Ein erster Bergungsversuch aus 370 Metern Tiefe scheiterte – daher rühren die vier Risse in den Bordwänden –, der zweite glückte Ende Juni 2016.

Das Wrack gelangte anschließend auf die NATO-Marinebasis Melilli bei Augusta auf Sizilien, wo unter Beteiligung Hunderter Fachleute und Freiwilliger die Identifikation wenigstens eines Teils der Opfer unternommen wurde. Während der Vorgang mit der Information der Angehörigen und der Bestattung der Opfer 2017 abgeschlossen war – samt Hebung des Schiffes waren Kosten von 23 Millionen Euro entstanden –, blieb das Schicksal des Schiffes strittig. Verschiedene Interessengruppen reklamierten Deutungshoheit. Die politische Rechte und Stimmen in der italienischen Regierung forderten eine schnelle Entsorgung des Elendskahns. Der Ministerpräsident ließ verlauten, das Wrack solle als Mahnmal nach Brüssel geschickt werden. Europa müsse die Verantwortung für den „Skandal der Migration“ übernehmen. Dagegen forderten verschiedene Initiativen von Mailand bis Palermo das Wrack als Mahnmal im öffentlichen Raum zu platzieren, allen voran das kurz nach Überführung des Schiffs gegründete Comitato 18 Aprile 2015, das es ins Zentrum Augustas in einen „Garten der Erinnerung“ stellen will. Doch der Streit verhinderte, dass das Schiff seinen Standort auf dem Militärgelände verließ.

Die Form der subversiven Affirmation, die mit The Mosque vier Jahre zuvor erprobt worden war, sollte nun auch mit dem glücken. Nachdem Büchel zur Biennale eingeladen war, begannen lange und zähe Verhandlungen mit Interessenvertretern und Behörden, um die vertraglich gesicherte Freigabe des Schiffes für das Projekt BARCA NOSTRA unter der Flagge der Kunst, dessen Transport nach Venedig und die anschließende Rückführung an die neue Eigentümerin, die Gemeinde Augusta. Bei BARCA NOSTRA handelt es sich also wieder um ein Husarenstück, bei dem unterschiedliche Interessengruppen zu einem Konsens verpflichtet wurden, der auf anderem Weg kaum hätte hergestellt werden können. Diese narrativperformative Seite der Ermöglichung des Projektes durchkreuzt den Bedeutungsgehalt des Wracks als bloßes Monument und hebt es über gut Gemeintes und viel Bemühtes der Kunstproduktion der letzten Jahre hinaus.

Zuerst redaktionell  überarbeitet online unter dem Titel „Ein grelles Licht auf den Wahnsinn unserer Tage“ am 24.07.2019 bei Republik.ch

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
Dieser Beitrag wurde unter Ausstellungen, Geschmacksfragen, Kulturgeschichte, Kunst im öffentlichen Raum, Psychogeografie, Theorie, Zeitgenössische Kunst abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..