Giacometti/ Dalí. Traumgärten

Alberto Giacometti, Projet pour une place, 1931/32, Foto: Peggy Guggenheim Collection, Venice
© Succession Alberto Giacometti / 2023

Zürich – Zwei Kometen treffen sich in den unendlichen Weiten des Alls und winken sich zu. Die Szene auf die Geschichte der klassischen Moderne heruntergebrochen spielt zu Beginn der 1930er-Jahre im Salon der Pariser Aristokraten und Mäzene der surrealistischen Bewegung Marie-Laure und Charles de Noailles. Die Kometen heissen Salvador Dalí und Alberto Giacometti. Sie waren dort im illustren Kreis gern gesehene Gäste. Im zweiten Stock des Chipperfield-Baus des Zürcher Kunsthauses treffen die beiden Künstlerkometen nun in der Ausstellung „Tagträume“ erneut zusammen.

Den Zürcher Ausstellungsmacherinnen und des Pariser Institut Giacometti, wo die Schau zuvor gezeigt wurde, gelingt ein dichter, ja atemberaubender Parcours von gut hundert Objekten, Skulpturen und Zeichnungen aus der surrealistischen Hochzeit Dalís und Giacomettis. Die viszeralen Albtraumwelten des katalanischen Feinmalers wie „Architecture surréaliste“, um 1932, treffen zum ersten Mal in dieser Fülle auf die skulpturalen Fantasien des Bildhauers aus dem Bergell. Seine aggressiv-erotische Bronze „Homme et femme“, 1928/29, öffnete nicht nur dem Katalanen einen produktiven Echoraum.

Doch war da mehr als ein „Hallo“ der Künstlerkometen, mehr als eine gegenseitige Kenntnisnahme und Salongespräche? Gar eine künstlerische Zusammenarbeit, eine Kooperation, wie es die Ausstellungsmacherinnen behaupten? Die Faktenlage ist dünn. Ein von Giacometti und Dalí gemeinsam geschaffenes Werk fehlt. Dass sich beide in unterschiedlicher Weise Traumwelten näherten und sich gegenseitig geschätzt haben – gebongt. Aus wenigen Skizzen, wie Dalís „Parc d’attraction“ 1932, in der eine Plastik Giacomettis auftaucht, und einem Notizbucheintrag des Schweizers – „Das Projekt Dalí jetzt beiseiteschieben“ – eine Kollaboration an einer Gartenskulptur für den Sommersitz der Noailles im südfranzösischen Hyères zu konstruieren, ist jedoch gewagt. Ein Auftrag der Noailles erging im Gegensatz zu einer Stele Giacomettis „Figure dans un jardin“, 1931 entstanden, hierfür nicht. Giacometti entwirft in der Folgezeit das sechsteilige Skulpturenensemble „Projet pour une place“ (1931/32). Nie umgesetzt, ist es lediglich in einem Holzmodell, Skizzen und Fotos von einzelnen Maquetten in Originalgrösse überliefert. Rekonstruiert steht es nun im Zentrum der Ausstellung und die neugierigen Betrachterinnen dürfen raten, wieviel Dalí im Giacometti steckt.

Der Text erschien redaktionell überarbeitet in Kunst Bulletin 6/2023

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Der Irrwisch. „Professor der Apokalypse“ erzählt die vielen Leben des Religionsphilosophen Jacob Taubes

Zum 100ten Geburtstag des Judaisten und Philosophen Jacob Taubes am 25. Februar 2023 legt der U.S.-amerikanische Historiker Jerry S. Muller eine gewichtige Biografie des bewunderten und verachteten Ausnahmedenkers vor.

Jacob Taubes, Foto: Klaus Mehner/ Ullstein

Abgründe, Einblick in das Leben eines Intriganten – Im Oktober 1951 erhält der junge, aufstrebende Dozent Jacob Taubes in New York einen eingeschriebenen Brief aus Jerusalem. Ein akademisches Todesurteil. Nachdem Taubes in der Schweiz, wohin er mit der Familie des Wiener Rabbiners Zwi 1934 gezogen war, keine Aussichten auf eine Karriere hatte, versuchte er nach der Promotion zur „Abendländische Eschatologie“, 1947 in Bern veröffentlicht, in Amerika Fuß zu fassen. Eine Stelle am Jüdischen Theologischen Seminar, das ursprünglich für die Ausbildung von Rabbinern eingerichtet war, blieb unbefriedigend. Eine Alternative tat sich mit dem einstigen Freund Walter Benjamins, dem großen Religionshistoriker und einer der ersten Dozenten an der Hebräischen Universität Jerusalem, dem 20 Jahre älteren Gershom Scholem auf.

Anfängliche Sympathie und gegenseitige Bewunderung schlugen um in rigorose Ablehnung des Jüngeren durch den Älteren. „Gescheit sind wir alle,“ bekundete Scholem später, „Sitzleder muss man haben.“ Das hatte Taubes nicht. Blitzgescheit und belesen mangelte es ihm von jeher an Disziplin und Ausdauer längere Texte zu schreiben. Die „Eschatologie“ blieb sein einziges Buch, die einzige Monografie. Endgültig zu Bunt wurde es Scholem jedoch, als er feststellen musste, dass Taubes sein Vertrauen sträflich missbraucht hatte. Taubes hatte Scholems negatives Urteil über einen Promovenden taufrisch an diesen übermittelt. Das war Scholem zu Ohren gekommen. Ein „Vertrauensbruch der schwersten Art,“ so Scholem. Dem Hochbegabten Taubes blieb trotzt Entschuldigung nichts weiter übrig, als fortan als akademischer Ahasver zu nomadisieren. Und ihm lief der Ruf des Intriganten lebenslang voraus.

Besuch bei Carl Schmitt

Nach Taubes befragt, verdrehen heute viele Kommilitoninnen, die wie ich in den 1980er-Jahren in seinen Seminaren zu den Paulusbriefen des Neuen Testaments und ihrer Politik des Kreuzes saßen, die Augen und winken ab. Scharfsinnig sei er gewesen, ja, aber übertrieben arrogant und selbstverliebt. Geblieben ist uns die Einsicht, dass vor allem das in Texten zählt, was nicht geschrieben steht, im Subtext aber durchscheint, wenn die Leserin hineinhorcht. Es waren die Leserinnen, an die sich seine Lektüren vornehmlich richteten.

Wer war also Jacob Taubes? Der provokante „Erzjude“ und Adept des Apostel Paulus, als den er sich selbst bezeichnete, eine faszinierende Ausnahmepersönlichkeit oder schlicht der falsche Jakob, ein unverantwortlicher Scharlatan und Schürzenjäger? In seinen sozialen Rollen war er Hochschullehrer, Rabbiner, Judaist, Religionssoziologe und -historiker, Hermeneut und Philosoph, Nach dem Jüdischen Thologischen Seminar und dem Intermezzo bei Scholem erhielt der Tausendsassa immerhin noch ein Rockefeller-Stipendium an der Harvard  und konnte eine Gastprofessur in Priceton wahrnehmen, wo er sich mit Herbert Marcuse anfreundete, bis er in den 1960ern konnte an die renommierten Columbia University, New York, aufsteigen konnte und von dort ab 1966 als Professor an die Freie Universität Berlin, wo er bis zu seinem Krebstod 1987 lehrte. Er war zwei Mal verheiratet, 1946 bis 1967 mit der US-amerikanisch-jüdisch-ungarischen Autorin und Religionswissenschaftlerin Susann, geborene Feldmann, die bei Paul Tillich zur Philosophin Simone Weil promoviert hatte und mit der Taubes einen Sohn und eine Tochter in die Welt setzte. Sie nahm sich 1969, auch wegen der gescheiterten Ehe, das Leben. Dann nach langem Vorlauf 1967 bis 1975 mit der Philosophin Margarita von Brentano, ein Lebensbund, der über die Scheidung hinaus bis zu seinem Tod währte.

Wer also war Jacob Taubes? Hat er uns heute bei dem vergleichsweisen schmalen, unsystematischen und verstreuten Werk, das er hinterlassen hat, noch etwas zu sagen? Die Frage lässt sich heute uneingeschränkt mit Ja beantworten. Allein der kleine Text, „Noten zum Surrealismus“ in Poetik und Hermeneutik 1966 (S.139-155), öffnet Augen auf ungeahnte Tiefenschichten der Kunstbewegung.

Wir tun also gut daran, seine Person als das eine und die intellektuelle Leistung als das andere zu bewerten. Auch und gerade, weil die Faszination für das eine ins Andere, das süffig Anekdotische ins tiefgründige Durchdachte übergeht wie in keiner Intellektuellenexistenz der zweiten Hälfte des 20ten-Jahunderts. Das zeigt auf beeindruckende Weise die Biografie „Professor der Apokalypse. Die vielen Leben des Jacob Taubes“ des U.S.-amerikanischen emeritus für Geschichte und Autors Jerry Z. Muller, die nun im Jüdischen Verlag bei Surkamp auf Deutsch vorliegt.

Wir können an Kleinigkeiten kritteln, warum gibt es kein Interview mit Taubes Assistentin an der Columbia, Susan Sonntag? Wie kann es sein, dass Taubes auf Seite 145 „im September 1947 New York erreicht“, aber auf Seite 136 „im Oktober 1947 auf der R.M.S. Queen Elisabeth in die Neue Welt aufbrach“? Ärgerlich auch, dass von der bei Taubes früh manifesten Bipolaren Störung ostentativ medizinisch und grammatisch-logisch falsch von einer „manischen Depression“ gesprochen wird. Dennoch ist das Buch Mullers ein Meisterstück der Intellektuellenbiografie, über 20 Jahre hervorragend recherchiert und fesselnd geschrieben. Unabhängig, was man am Ende von der Person, der Figur, der Persönlichkeit Taubes halten möchte. Abgestoßen oder angezogen, wir sind hier von Anfang bis Ende in eine Geschichte gezogen, die wie keine andere das geistige Gemengelage der Post-WW-II-Zeit im Westen einfängt und reflektiert, in seiner ganzen Anstrengung und Brüchigkeit erzählt.

Nicht nur in Susan Taubes‘ Emanzipationsroman „Divorcing“, 1969 spielt Jacob als Ezra Blind, der Mädchenname Jacobs Mutter Fanny, die Hauptrolle. Eng mit Susan Taubes verbunden, drehte sie Autorenfilme. Jacob Taubes diente in „Duet for Cannibals“ 1969 als Vorbild für den Protagonisten, einem „wahnsinnigen Professor“ mit „dämonischen Zügen“.

Abgründe zum Zweiten.

Das ist die berühmte Bertram von Hildesheim-Anekdote vom intellektuellen Rummelboxer Taubes: Zwei Kollegen an der Columbia University versuchten Taubes beim Cocktail-Empfang eine Falle zu stellen, um ihn seiner Aufschneiderei zu überführen. Ihr Setting, sie unterhielten sich über das Konzept der Seele beim mittelalterlichen Scholastiker Bertram von Hildesheim. Taubes stieg ein und legte nonchalant dessen Theorien aus, bis die beiden Jungs den Vortag mit der Bemerkung stoppen, Bertram habe nie existiert. Betretenes Schweigen. Auch Muller legt nahe, Taubes habe sich in diesem Moment seiner narzistischen Neigung überführt gezeigt. Eine zweite Version könnte mit Mullers luzider Biografie aber auch so lauten: Taubes ist seiner Überlegenheit bewusst und extemporiert gerade darum ein Phantasma der Sonderklasse, um die beiden in ihrer Mittelmäßigkeit zu deklassieren. Peinlich war ihm die Episode nie.

Faszinierend war Jacob Taubes, weil er schwer zu fassen, sich nicht einordnen mochte, sich weder intellektuell noch politisch in der politisch so aufgeladenen Zeit der 1968er vor den Karren spannen ließ, im Gegensatz zu seinem Freuend Ludwig Marcuse. Obwohl sich Taubes als politisch links verstand, verkehrte er schon zu Studentenzeiten auch mit dem rechten Lager. Er besuchte den greisen NS-Staatsrechtler Carl Schmitt in Plettenberg 1978, um mit ihm über den jüdischen Christen Paulus und dessen politischen Konzept des Neuen Bundes zu diskutieren. Mit ihm teilte er die Auffassung, die Annahme einer hereinbrechenden Endzeit, öffne Handlungsspielräume für die politische Gegenwart. Taubes machte Schmitts These vom Katechon, dem Gegenspieler des Antichristen, und die Idee, Souverän sei, wer den Ausnahmezustand bestimmt, in der Linken populär und übte damit beträchtlichen Einfluss auf Denker wie Giorgio Agamben aus.  

Und heute? Alles Schnee von gestern? Ist in der Demokratie nicht der Souverän, der Wohlstand und guten Schlaf verspricht? Doch Taubes Analyse der Figur des Paulus geht tiefer. Im Gegensatz zu Jaques Derrida, der von Taubes mehrfach eingeladen, kaum an die Wirkmacht des Wortes glaubte, sieht Taubes hinter den Schriften ein Transzendentes wirken, das auch in die Gegenwart geholt werden kann. Der Klimawandel und die Frage, nach der Legitimation von Aktionismus, die Kriege in der Ukraine, Tigray, Jemen, Postkolonialsmus-Debatten und Migrationswellen, der Apokalyptiker Taubes hätte zu den Apokalypsen unserer Tage noch einiges zu sagen.

Der Text erschien zuerst redaktionell überarbeitet in Der Freitag Nr. 13, 30. März 2023, S. 24

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Zillas Mondfahrt. Zilla Leutenegger „I Love You to the Moon and Back” in der Zürcher Galerie Kilchmann

Zilla Leutenegger, Moby Dick, 2022 © the artist and Galerie Peter Kilchmann, Foto: Sebastian Schaub

Zürich – Der Klassik ist die grosse Erzählung eigen, der Romantik poetische Sehnsucht, Ironie und Fragment. Das Biedermeier bescheidet sich im Anekdotischen. Von all dem findet sich im Werk der Zürcher Zeichnerin, Malerin, Video- und Installationskünstlerin Zilla Leutenegger. Nach ihren tollen Ausstellungen in Chur 2021 und Schaffhausen 2022, hier mit Sandra Böschenstein, stellt sie das nun wieder souverän, dramaturgisch klug und anrührend in den grosszügigen Räumen der Galerie Kilchmann mit „I Love You to the Moon and Back“ im MAAG Areal unter Beweis.

Ihr Parcours beginnt mit handwerklich-anekdotischen Augenzwinkern. Im Flur hängt über der langen Holzbank eine Batterie Wasserhähne, 38 Stück in Reihe aus handmodelliertem Ton, wiess glasiert, dergestalt allesamt Unikate, die die Rücklehne der Bank zur Ablaufrinne erklären. Unmerklich doch penetrant tönen Wassertropfen aus einem Lautsprecher. Das harmlose Arrangement kippt ins Reale, damit ins Unheimliche, Unbehauste.

Diese Kippfigur vom scheinbar Vertrauten ins Unvertraute beherrscht Leutenegger meisterlich. Sie begleitet uns vom Anfang bis zum Schluss, im Video und Serien von teils grossformatigen Monotypien, einem Medium, dem sich die Künstlerin in jüngster Zeit angenommen hat. Bemerkenswert, sie verzichtet dabei auf ihr Markenzeichen, die stillen Zimmer, die kargen Interieurs. Es geht ins Offene, zum Mond eben, den Zilla im dritten Raum auf einer monumentalen Videoprojektion als Orbit im Stratosphärenrauschen mit Sonnenbrille und wehendem Blumenschaal umkreist, ‚Behind the Moon‘, 2023, bevor wir in den hinteren Galerieräumen wieder in Monotypien zu Birkenwäldchen mit Mondbällen spielenden Mädchen entführt werden, u.a. ‚Moonrise‘, 2022.

Zuvor aber wird’s wuchtig. Noch das Präludium des tropfenden Wasserhahns im Ohr, geht’s in den Ozean. Im grossen Saal der Galerie warten fünf monumentale querformatige Monotypien, 152 x 250 cm, ‚Bartwal‘, ‚Blauwal‘, ‚Moby Dick‘, ‚Bartwal‘ 2‘ und ‚Buckelwal‘, alle 2022. Die Gravität und Anmut der Tiere findet Entsprechung in der aufwändigen Herstellung der Bilder im Hochdruckverfahren, das für weiche Konturen und charmante Fehlstellen wie weisse Punkte sorgt: Für die grossen Formate gab es keine Presse, sodass die Künstlerin das Atelier verlassen musste und den nötigen Druck – schöne Pointe am Rande – im Freien mit einem Gabelstapler herstellen musste. In diesem Kunstwinter lässt’s sich mit Zillas Mondfahrt erfreut, tief und befreit durchatmen.

Der Text erschein redaktionell überarbeitet zuerst in Kunst Bulletin 3/2023

Zilla Leutenegger, Moony, 2022 © the artist and Galerie Peter Kilchmann, Foto: Sebastian Schaub

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Megalässig. Isa Genzken. Zeichnung Plan Collage 1965-2018, in der Berliner Galerie Buchholz

Auschnitt Collage © Isa Genzken | Buchholz

Isa Genzken in der Galerie Buchholz noch bis 25. Februar 2023 – Glamourös und vulgär, verletzlich und stark, niemals berechenbar kommt die Kunst von Isa Genzken daher. Längst zu Ruhm und Ehre gelangt, lässt sich die junggebliebene Grand Dame der deutschen Gegenwartskunst nicht festlegen. Skulpturen, Objekte, Assemblagen, Installationen, Architekturen, aber auch Bücher und Videos gehören in ihr umfangreiches Repertoire.

Dass die Raumkünstlerin auch eine begnadete Zeichnerin ist, konnte man ahnen. Nun gibt die Galerie Buchholz, die seit 25 Jahren mit der Künstlerin zusammenarbeitet, einen umfangreichen Einblick in ihr graphisches Werk. Eine kleine Sensation. Denn hier breitet sich die künstlerische Entwicklung Genzkens von ihren figurativen Anfängen in den frühen 1970er-Jahren in allen verblüffenden Findungen und Wendungen aus.

Wir begegnen ihr sehr nahe in einer Fotocollage aus dem Jahr 2003, «Balance». Wie Filmstreifen klebt sie hochkant Schwarz-Weiss-Fotos eines fröhlichen Gelages in den 1970ern mit ihrem damaligen Lebensmenschen Benjamin Buchloh auf blauen Karton. «Alles, was ich mache, ist in gewissem Sinn auch ein Selbstportrait,» gab sie einmal zu Protokoll. Hier wird es greifbar. Ebenso wie ihr performativer Ansatz, der mathematisch-technische, konkrete und minimalistische Momente ihrer Kunst in der Lebenswirklichkeit, vor allem auch in der gebauten Umgebung mit großem Humor und Gespür für lebendige, soziale Körper erdete.

Buchholz stellt zum Beispiel den fast fünfeinhalb Meter langen Computerausdruck «Untitled» 1976/77 aus, den die Künstlerin mit einem IT-Spezialisten in Köln erstellte, Vorarbeit zu einem ihrer «Ellipsoide», die als langgestreckte Bodenskulpturen den Raum wie die Bewegung der Betrachtenden strukturieren. Faszinierend auch ihre Suche nach einer gültigen Form für Eingriffe im öffentlichen Raum wie die Zeichnung «Scetch for ‘ABC’» 1987 für die Landesbibliothek Münster. Wir sehen Genzken unplugged und megalässig. Nichts wie hin!

Redaktionell überarbeitet erschienen in Tip-Stadtmagazin im Dezember 2022

© Isa Genzken | Buchholz

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Aufruf zum rLSD – dem redLipStickDay: 24. Oktober

Wie die NZZ heute, Freitag, den 10. Februar, berichtete, ist am vergangenen Sonntagmorgen Vio La Cornuta von drei jungen Männern zuerst blöd angetanzt, mit homophoben Sprüchen bedacht und schliesslich zusammengeschlagen worden. Es reichte, dass Vio im Dragqueenoutfit unterwegs war und die Jungs freundlich zur Rede stellte. Ihre Kollegin und zwei Begleiter konnten nicht mehr eingreifen.

Der Fall der Vio La Cor

Der Fall Vio La Cornuta ist kein Einzelfall. Weder in homophoben Ecken Berlin-Neukölln noch in der Züricher Langstrasse oder Seebach. Im ersten Jahr der statistischen Erfassung 2021 wurden in Zürich nach Polizeiangaben achtundsechzig „Hate Crimes“ registriert, 2022 dreiundsechzig. Sind die Zahlen niedrig? Jede Woche, mehr als ein LGBTQ+-phobischer Übergriff wenig? Jeder Übergriff ist einer zuviel. Es handelt sich bei den Zahlen um regisitrierte Fälle, nicht um die Fälle, die nicht angezeigt wurden, die widerlichen und für die Betroffenen erniedrigenden und anstrengenden sogenannten Bagatellen. Und getraut sich in der Zwinglistadt ein Mensch sein Anders-Sein mit seinem Qutfit, einem queeren zumal auszudrücken? Nein, auch schräge wie verächtliche Blicke sind schwer auszuhalten.

Daher rufen wir zu einem Tag der Haltung, einer Bejaung des Anderen, des Anderen in uns selbst auf: der Red Lip Stick Day, den rLSD zum 170ten Geburtstag des non-binären Dichters Oscar Wildes, am 24. Oktober 2024.

Jeder Mann – gerne auch jede Frau – und alle, die queer und non-binär dazwischen leben, tragen in der Office, im Supermarkt und auf dem Bau, im Theater und zum Restauratbesuch zum Zeichen des Anderen-in-sich-selbst und Signal der Solidarität einen roten Lippenstift als personal und commuity signature peace. Rrose Selavy aka Marcel Duchamp hat es vorgemacht, David Bowie und Robert Smith von The Cure und haben den Stafettenstab in den 1970ern weitergetragen.

Und es kann weitergehen, mit Eurer Unterstützung. Stellt Euch vor, Manuel Neuer hätte zum Fussball-Weltmeisterschaftsauftritt in Katar statt der inkriminierten Pride-Regenbogen-Binde am Arm zur Solidarität mit der Queer-Community einfach einen Red Lipstick auf die Lippen gezogen. Mut Leute! Prominente Beauty Shops spendieren am 24.10. den Pasanten einen roten Lippenstift. Jedermann hat einen roten Lippenstift zum Nachziehen in der Tasche.

Polizeiberichte, Zeitungsartikel, ab und an eine Mahnung der Politik oder Solidaritätsadressen aus den Communities sind schön und gut – die diskreten aber auffälligen roten Lippen unter einem Männerschneuz machen Politik!

Nun ist die Reihe an Euch, liebe Hetero-Männer, Haltung zu zeigen!

Schirmherren, anzufragen: Dieter Meier, Stephan Müller, Manuel Neuer, Kim d’Horizon, Rainald Goetz, Max Frisch, Rosa von Praunheim, Conchita Wurst, Peter Weibel, Olav Scholz, Alain Berset, Emanuel Macron, Dieter Bohlen, Mathias Döpfner, Holger Friedrich, Christoph Aeschlimann, Greta Thunberg u.a.

Zürich, 10. Februar 2023

Call for rLSD – the redLipStickDay: October 24.

As reported by the NZZ today, Friday, February 10, on the weekend Vio La Cornuta has been first stupidly danced at by three young men last Sunday morning, with homophobic slogans and finally beaten up. It was enough that Vio was wearing a drag queen outfit and confronted the guys in a friendly manner. Her colleague and two companions were unable to intervene.

The case of Vio La Cornuta is not an isolated one. Neither in homophobic corners of Berlin-Neukölln, nor in Zurich Langstrasse or Seebach. In the first year of statistical recording in 2021, sixty-eight „hate crimes“ were registered in Zurich, according to police data, and sixty-three in 2022. Are the numbers low? Every week, more than one LGBTQ+-phobic assault little? Every assault is one too many. The numbers are regisitrated cases, not the cases that were not reported, the disgusting and for the victims humiliating and exhausting so-called trivialities. And does a person in the Zwinglistadt dare to express his otherness with his outfit, a queer one at that? No, also oblique as contemptuous looks are difficult to endure.

So we call for a day of attitude, an affirmation of the Other, the Other within ourselves: the Red Lip Stick Day, the rLSD for the 170th birthday of the non-binary poet Oscar Wilde, on October 24, 2024.

Each man – gladly also each woman – carries a red lipstick as personal and commuity signature peace in the Office, in the supermarket and on the construction site, in the theater and to the restaurant attendance to the indication of the other in itself and signal of the solidarity.

Beauty shops donate on 24.10. in their entrances to each passerby a red lipstick. Everyone has a red lipstick in their pockets to draw on.

Police reports, newspaper articles, the occasional reminder from politicians or solidarity addresses from communities are all well-and-good – the discreet but eye-catching red lips under a man’s cross make politics!

Now it’s your turn, dear straight men, to show stance!

Zurich, 10. Februar 2023, Max Glauner

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Shifting Spaces: Christoph Rütimanns Psychogeographien – Dérive Winterthur

Die Stadt ist Bühne. Sie wurde als düster, bedrängend aber auch als ein heller Möglichkeitsraum beschrieben. Für den Flaneur wird sie zum Ort der Beobachtung und Erforschung menschlichen Verhaltens, von Anpassung, aber auch von Veränderung und Rebellion. In dieser Tradition steht die «Psychogeografie», ein Begriff, der von uns vorläufig als künstlerische Praxis der Raumerkundung und Raumbesetzung vorgeschlagen wird. KUNSTFORUM International widmete dieser Praxis als «Urban Performance» bereits 2014 zwei Monografien.[1] Wir ergänzen nun Perspektiven, die damals nicht in den Blick kommen konnten, wie den Schweizer Maler, Zeichner, Installations-, Performance-, Foto- und Videokünstler Christoph Rütimann, der hier im Zentrum steht. Er zeigt gegenwärtig die Summa seiner Werkreihe Geh-Länder im Kunst Museum Winterthur.[2] Rütimann auch als einen begnadeten Psychogeographiker zu apostrophieren liegt nahe, auch wenn er sich selbst nie als solchen bezeichnet hat.

Psychogeographie

Ein Grund, der Begriff Psychogeografie ist bis heute diffus.[3] Das liegt nicht zuletzt in seinem Ursprung: Seine Gründungsurkunde stammt aus dem Jahr 1955 oder 1957. Ganz eindeutig ist das nicht festzustellen.[4] Es handelt sich um Guy Debords Guide psychogéographique de Paris, lithografierte Karte in der Größe von 60cm x 74cm. Sie hätte mit vier weiteren, darunter die berühmte Collage The naked city in einer Ausstellung mit Asger Jorn, Yves Klein und Ralph Rumney in Brüssel gezeigt werden sollen. Sie kam nicht zustande. In unzähligen Publikationen reproduziert, steht der Guide heute emblematisch für die Bewegung des Situationismus und die ebenso 1957 gegründete allerdings kurzlebige Vereinigung der Situationistischen Internationale. Er zeigt neunzehn wie Inseln aus einem Pariser Stadtplan ausgeschnittene Quartiere, die durch rote Pfeile dynamisch verbunden sind. Debords Guide/ Führer lässt in zwei mal sieben Felder falten, wobei sich links aussen ein Deck- und Rückblatt ergeben. Neben dem Titel werden auf dem Deckblatt die Herausgeber, das Bauhaus Imaginiste, und der Erscheinungsort Dänemark vermerkt. Statt einer Legende erweitert das Rückblatt den Titel und erklärt vielversprechend, es handele sich hier um einen «discours sur les passions de l’amour», einen Diskurs über die die Leidenschaften der Liebe, und führt weiter aus: «Pentes psychogéographiques de la dérive et localisation d’unites d’ambriances, par G.-E. Debord.» Wir übersetzen frei: Es gehe spezifisch um psychogeografische Schräglagen, «pentes», die durch eine Drift, ein Umherschweifen, «dérive», und Verorten, «localisation» von gefühlten Ambivalenzen, hervorgerufen werden. Mit dieser Spezifikation will der Autor verunsichern. «Psychogeografie» wird hier nicht in der Nominalform benutzt, sondern adverbial. Warum? Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass Debord alles vermeidet, was einer Fixierung, einer eindeutigen Form nahekommen könnte. Der Neologismus Debors intendiert die Dynamik einer Graphie, einer Schrift, einer Kunst, die sich aus der Interaktion der (künstlerisch-revolutionären) Gefühlslage und der städtischen Umgebung ergibt, um aus dieser Konfrontation, Erschütterung, Paarung ein Neues, Widerständiges entstehen zu lassen. «Das charmante Adjektiv» (Debord) eignet sich dazu treffender.[5]

Geh-Länder

Bevor das Auge die Szene auf dem Videoschirm erfasst hat, drängt sich ein Geräusch auf. Es legt sich über die Bilder, ehe die Betrachtenden begreifen, was zu sehen ist: Ein Surren, Rattern, Rauschen, schreibt sich als Kontinuum in die Wahrnehmung ein, während das Auge kaum Halt findet. Das Spiel mit Klängen, Tönen, akustischen Interferenzen zieht sich wie ein roter Faden durch Christoph Rütimanns Werk.[6] In seiner Werkreihe Geh-Länder ist es das Rattern eines Kamerawägelchens, mit dem er Kanten, Simse, Dachtraufen, Rohre, Bauabsperrungen in und an Gebäuden und Gebautem abfährt, und so klein es ist, nahezu alle Umgebungsgeräusche schluckt, als wolle es alle Aufmerksamkeit für sich und seine aberwitzige Fahrt beanspruchen.

Inzwischen existieren in Rütimanns Serie Geh-Länder weit über 150 Videos, die jeweils unter dem Titel Handlauf, einerOrtsangabe oder dem fokussierten Gegenstand firmieren, Handlauf Seoul, Peking, Rämistrasse zum Beispiel oder Pilze, Bier, Kürbis. Im letzteren aus dem Jahr 2004/05 fährt die Kamera an einem trübnebligen Herbsttag auf einem am Boden liegenden orangeroten Plastikschlauch entlang in ein Kürbisfeld. Drei Minuten dauert die aberwitzige Fahrt, bis sie im Loop von Neuem beginnt: aus der Bodensicht auf ein rotes Monstergewächs zu, bis zur Kollision mit der Kamera, die nach dem Black und Cut kurvenreich auf ihr nächstes Ziel, den nächsten Kürbis zusteuert. Es drängt sich für den Vorgang der Eindruck auf, er sei surreal. «Subreal» wäre treffender. Zumal der Künstler ausser der gewohnten Kameraperspektive in Augenhöhe an der abgebildeten Realität bis auf die durch ein Hindernis motivierten Cuts nichts am Bild manipuliert. Sie sorgen für einen scheinbar reibungslosen Ablauf der Fahrt, einen linearen Gang, der so jedoch nie hat stattfinden können.

Die Linie als potenziell unendliches Kontinuum, als Grenze und Ordnungsprinzip, das mit der Orientierung zugleich für Irritation und Unordnung sorgt, begleitet das Schaffen des Künstlers seit seinen Anfängen. Nah an Gordon Matta-Clarks skulpturalen Durchbrüchen, Schnitten, Öffnungen in Häuser und Gebäuden in den 1970er-Jahren begann Rütimann 1991 mit geschwungenen Stahlrohrkonstruktionen wie Zeichnungen im Raum Bauten monumental zu durchstossen, zu überformen. Die endlose Linie 1991 am Bieler Musée Schwab, 1992 in einer verlassenen Zürcher Villa, 1993 im belgischen Breda und 1994 in einem Bürobau in Zürich-Opfikon definierte die Räume neu, löste ihre Grenzen und Kubaturen auf, brachte sie in Bewegung, ebenso wie die geschlossene Linie von der Kubatur unterbrochen, vom Betrachtenden ergänzt und vollendet werden musste. Die Stahlrohre der Installation Die endlose Linie 1992 in Zürich fuhr Rütimann mit der Kamera auf einem kleinen Wagen ab. Zu den Handläufen war es allerdings Jahre später ein kleiner Schritt, wenn man so will, ein «Performative Turn», der sich mit dem Ort und der Umgebung auseinandersetzt.

Besitzen

Dafür steht die Aktion Besitzen an der Berner Kunsthalle 1999. Rütimann setzte sich für das Foto der Einladungskarte mit Stuhl und Magritte-Pfeife (Cesi n’est pas une pipe) im Mund auf den Dachfirst des Gebäudes und blickte in die Ferne. Für die Ausstellung waren statt des Künstlers zwei Kreisrunde Kameraschienen auf dem Dach montiert, deren Bilder schwindelerregend in den Ausstellungssaal projiziert wurden.

Mit den Handläufen konnte das flüchtig-parformative der Aktion und die Kamera-Apparatur zusammengeführt werden. Die Handwagenkamera erschloss den Raum durch Untersicht in Hüfthöhe und am Boden, geleitet durch vorhandene Linien und Fluchten, die Stadt, Architektur und Umgebung vorgaben. 1999 inszenierte Rütimann die Performance Handlauf Zürich. Auf seinem Weg in die städtische Kunsthalle Helmhaus trug Rütimann eine Kamera und einen Bildschirm auf dem Rücken, über den das Publikum den Walk im Videobild mit seiner Realität abgleichen konnte. Und es entstehen die Handläufe Berlin 5 down/ Schlauch/ Rosarohr und Travemünde Mole, in denen der Künstler nicht mehr in Erscheinung tritt.

Promenadologie

Die Theoriebildung der Psychogeografie blieb auf akademischer Seite dürftig. Das situationistische Abrakadabra auf künstlerisch-aktivistischer Seite kreiste mehr um die Begriffe des Umherschweifens, «dérive» und des In-Beschlag-Nehmens, «détournement». Da sticht eine Figur heraus, die erst mit der documenta14, 2017, wieder ins Bewusstsein einer breiteren Kunstöffentlichkeit gerückt ist, der Basler Lucius Burckhardt, der von 1972 bis 1997 den Lehrstuhl für Soziökonomie urbaner Systeme im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung der Gesamthochschule Kassel innehatte. Ohne explizite Bezugnahme auf Debord und den Situationismus entwickelte er mit seiner Frau Annemarie in den 1980er-Jahren ein heuristisches Mittel der kritischen Stadtraumerschliessung und -erforschung, die Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie.[7] Ging es Debord darum, das «dérive» gegen das bourgeoise Schlendern des Flaneurs zu beschleunigen, geht es dem Ehepaar Burckhardt um Entschleunigung. Doch wie der Psychogeografie geht es der Promenadologie um neue Blickwinkel, Beobachtungen, Einsichten falsche (stadt-)planerischen Konzepte und Machtverhältnisse, Ein- und Ausschlussmechanismen von Architektur und Städtebau, die quer zum Gemeinwohl stehen. «Hinschauen, das tun wir oft schon nicht mehr.» äussert sich Burckhardt in einem späten Interview, «Die Spaziergangswissenschaft sucht den Ort und das Lebendige auf, versucht sich darin das Betrachten wieder zu entdecken. Betrachten heisst, neue Blickwinkel erschliessen, Sehweisen ausprobieren, Ungewohntes wahrnehmen, störende Elemente aufdecken, Fehler machen und bei sich selbst bemerken.»[8] Die Burckhardts finden dafür verschiedene Settings, in der die Promenadolog*innen als teilnehmende Beobachtende unterwegs sind. Dabei spielt das kinematografische Darstellung des Ergangenen eine entscheidende Rolle, die Übersetzung des Gesehenen in ein Narrativ, das mit den Erfahrungen der anderen abgeglichen werden kann, um zu verlernen, was jede*r sieht, das er*sie gelernt hat zu sehen.

Handlauf

Rütimanns Handläufe, die nun in den 2000er-Jahren bis heute entstehen, positionieren sich zwischen Debords beschleunigter Psychogeografie und Burckhardts abgebremster Spaziergangswissenschaft. Der Künstler filmt nicht ein Spaziergang, ein Umherschweifen ab, sondern produziert mit dem ungewohnt positionierten Kameraauge und dem Filmschnitt einen artifiziellen Blick, der das Auge des Betrachtenden in seinen Sog zieht. Erst recht, wenn Rütimann seine Handläufte wie jetzt in Winterthur im Cluster präsentiert.

Auch wenn wir das großzügige Foyer des Kunst Museum Winterthur am Stadthaus betreten, umfängt uns das Surren Rütimanns Handwägelchen aus 20 Monitoren. Er hat sie an einem auskragenden Stahlrohr-Gestänge im repräsentativen Art-déco-Treppenhaus montiert. Ein Hintergrundrauschen, wie eine Kaskade, die wir zunächst nicht identifizieren oder orten können. Hier beginnt eine Reise mit dem Video auf einem der 20 Screens Handlauf Linz, 2011, 4’33‘‘, und steigt geografisch mit unterschiedlich lang, maximal 25 Minuten geschnittenen Abstechern nach London und Odessa über 20 Handläufe in Städten der Donau-Linie, Bratislava, Wien, Budapest über Travemünde in den baltischen Raum. Im benachbarten zweiten großen Haus des Kunst Museums am Stadtgarten baut Rütimann auf dem Absatz der Haupttreppe ein weiteres Gestänge für 19 weitere Handläufe von von Aqaba, 2007, 5‘10‘‘ bis Venedig San Marco, 11‘09‘‘ 2009 auf. Durch das einfache, sich immer wiederholende Prinzip der Kamera auf einer Kante mit Unterbrechungen und Cuts entsteht so eine imaginäre, weltumspannende Linie, eine Verbindung an deren Rändern außerhalb der Fluchtline immer Neues und Irritierendes stattfindet und zu entdecken ist. Fortsetzung und zugleich vorläufigen Endpunkt findet diese in einer wandfüllenden Dreikanal-Videoprojektion, neuesten Handläufe, Handlauf Kunst Museum Winterthur | Villa Flora, sowie Beim Stadthaus und Reinhart am Stadtgarten, 2022. In schier atemlosen Staccato geht es hier durch die Säle, Räume, Trepp auf Trepp ab und auf die Dachkanten. Wir suchen nach Orientierung, Halt im kubistischen Raumgewitter der mal waagrechten, dann gekippten Perspektiven, dem Rattern des Wägelchens. Dann gewöhnt sich das Auge, sieht die Wände, Decken, Dachschindeln tanzen und wir denken, die gebaute Welt sei immer schon so schön formatiert gewesen. Es kommt nur auf die Performanz und Perspektive an.


[1] KUNSTFORUM International Urban Performance I u. II, Bd. 223 u. 224, 2013/2014.

[2] Ausstellung Christoph Rütimann. Handlauf Museum Winterthur und weitere Welten, im Kunst Museum Winterthur, vom 29.10.2022 – 19.03.2023; Katalog in Vorbereitung.

[3] Vgl. Anneke Lubkowitz, Einleitung, Psychogeografie, Berlin 2020

[4] Vgl Roberto Orth, Phantom Avantgarde. Eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst, Hamburg 1990; S.156 ff

[5] Siehe Guy Debord, Les Lèvres Nues #6, September 1955, online: https://www.cddc.vt.edu/sionline/presitu/geography.html

[6] Dazu Marcus Landert, In den Tönen. Ton und Klang im Werk von Christoph Rütimann, in: Christoph Rütimann. Der grosse Schlaf, Katalog, Kunstmuseum St. Gallen 8.12.2007-17.02.2008 u.a., Hrsg. V. Adolphs, K. Bitterli, M. Landert, Nürnberg 2007, S.21 ff

[7] Siehe Lucius Burckhardt, Markus Ritter, Martin Schmitz, Warum ist Landschaft schön? Die spaziergangswissenschaft, Berlin 2006

[8] Lucius Burckhardt, Querfeldeindenken mit Lucius Burckhadt, Radiofeature von Martin Schmitz, deutschlandfunk 2019, online: https://www.deutschlandfunk.de/querfeldein-denken-mit-lucius-burckhardt-1-3-von-der-102.html

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Lina Lapelytė: Undine rockt. Chorgesang als plastischer Körper

Teil 6 der KUNSTFORUM-Reihe SHIFTING SPACES

Die theatrale Installation „Sun & Sea (Marina)“ machte die litauische Künstlerin, Performerin, Regisseurin und Musikerin Lina Lapelytė 2017 auf einen Schlag zur bekannten Größe im Kunstfeld. Sie errang mit ihren Kolleginnen Rugilė Bardžiiukaitė und Vaiva Grainytė für den litauischen Pavillon auf der Venedig-Biennale einen Goldenen Löwen. „Sun & Sea“ tourte von da an auf Festivals in Räumen und Besetzungen. Lina Lapelytė entwickelte ihre Performative Visual Art auf faszinierende Weise weiter, zuletzt auf dem Zürcher Theaterspektakel mit ihrer Arbeit „What happens with a dead fish?“. Ihr ist der 6. Teil der KUNSTFORUM-Reihe Shifting Spaces gewidmet. Im Auftrag der Stadt München arbeitet sie gegenwärtig an einer großangelegten Klanginstallation im öffentlichen Raum in 2023.

Allen Künstlerinnen und Künstlern dieser Reihe ist gemeinsam, dass sie an der Schnittstelle zwischen Bewegung und Objekt, zwischen Performativer und Visueller Kunst arbeiten.[1] Mit einer immer grösser werdenden Durchlässigkeit zwischen den Gattungen, Medien aber auch den Ausbildungsgängen an Kunst-, Design- und Theaterhochschulen und nicht zuletzt durch die Neugierde und den Erfindungsreichtum der Künstlerinnen ist in den letzten Jahren ein enormer Reichtum an freilich oft flüchtigen, in Fotos, Videos und Dokumentationen nur unzureichend überlieferbaren Formaten entstanden, die sich als Performative Visual Arts nur schwer rubrizieren lassen, aber zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Warum? Ich möchte hier zwei Gründe anführen. Erstens, wir verlernen mit der digitalen Welt, ihren Gadgets und Sozialen Medien die Begegnung. Die Begegnung mit unserer Umwelt, ihren Objekten, ihren Tücken, den Mitmenschen. Damit wächst jedoch auch wieder das Bedürfnis, direkt zu kommunizieren, Körper zu spüren, Blicke auszuhalten, Schweiß zu riechen, sich gemeinsam, unmittelbar diskursiv auszutauschen. Der Kunst kommt dabei eine elementare Rolle zu.[2] Sie vermag Situationen herzustellen und Gemeinschaften zu stiften, macht Angebote, veranstaltet über die Party hinaus Feste. Indem sie Situationen schafft, wird das Publikum performativ einbezogen, aktiver Teil der Aufführung, der künstlerischen Setzung. Im besten Fall wäre die Kunst Katalysator eines gesamtgesellschaftlichen „Empowerments“.

Zweitens, damit träten die Performative Visual Arts eine Gegenbewegung zum neuerlichen Strukturwandel des Kunstfelds an, der sich, wie jüngst von Isabelle Graw treffend beschrieben, in einer Spaltung kritischer Öffentlichkeit in Internet-Bubbles und Asset-Owner-Resorts vollzieht.[3]  Künstler:innen entdecken die Möglichkeiten, sich im Performativen gegen die Fetischisierung ihrer Arbeiten zu wehren und Vermarktungszwängen und Verwertungsketten zu entziehen. Sie entziehen sich dem viszeralen Feld des Internets wie des Blue-Chip-Markts – freilich um den Preis, dass sie meist auf mäzenatische Großzügigkeit oder auf die von der öffentlichen Hand subventionierten Theater und Festivals angewiesen sind. Dennoch ist man dem Druck marktgerechte Wahre zu liefern zunächst enthoben. Das Publikum zeigt sich differenzierter, die Teilnehmer heterogener, ein intensiver Diskurs wahrscheinlicher – Theatergänger finden sich im Kunstfeld und umgekehrt. Die Neu-Definition und Entfaltung der Visual Performative Arts steht erst am Anfang.


Die Kulisse ist atemberaubend. Im Sonnenuntergang glänzt die Altstadt Zürichs und verdoppelt sich in den dunklen See, wie die eng und teuer bebauten Ufer nach Osten, wo unter schwarzen Gewitterwolken die Alpenriesen grüßen. Es ist kurz nach acht Uhr. Wir befinden uns Anfang September am Ufer der kleinen, durch einen Steg mit der sogenannten „Landi“-Wiese verbundenen Stäfa-Insel am Zürichsee. Alljährlich findet auf dem Areal in eigens dafür erstellten Bühnen und Lokalen das Theater-Spektakel statt.

Lina Lapelytė grinst herüber. Sie trifft unter einer Plane am Regiepult mir ihren Darsteller-Sänger:innen letzte Verabredungen für die Aufführung. Alle sind in graue Kapuzenoveralls gehüllt. Darunter Neoprenanzüge. Gleich geht es ins Wasser, ihre Bühne, Scheinwerfer auf Pontons rechts und links, zwei Luftkissen und eine im Wasser vollständig versenkte Treppe stehen bereit, davor Mikrofone, das Publikum wird an der Böschung in drei Zuschauerreihen Platz finden, die unterste schwimmend am Ufer vertäut.

Die Regisseurin gibt ein Zeichen. Die 18 Mitglieder des Seefelder Kammerchors steigen mit ihr ins kühle Nass und drapieren sich wie tot auf dem rechten Ponton als hätte man’s mit den Leichen Géricaults „Floss der Medusa“ zu tun. Die Zuschauer werden eingelassen. Das Spiel beginnt im schwindenden Tageslicht mit einem zarten Lied Lapelytės, worauf die Darsteller:innen ins Wasser gleiten und sich frontal zum Publikum auf der Treppe in vier Reihen formieren. Ein starkes Bild. Untote aus einem Zwischenreich, der Chor, wie schwebend im Wasser, beginnt zu singen: „What happens with expired food?“

Wasserwesen

Sirenen, Nixen, Undine, Melusine, die schöne Lau – die Sagenwelt ist voll von Gestalten, die den flüssigen Aggregatzustand mit einem ideologisch unterfütterten Ur-Weiblich-Kreativen in Verbindung setzen. Künstlerinnen wie Joan Jonas[1] oder jüngst die Choreographin Florentina Holzinger[2] schließen sich dem kritisch-affirmativ an, ohne sich vereinnahmen zu lassen.

Auf die Frage wie sie es mit dem Wasser hält, lacht die litauische Künstlerin, „ja, das kommt in meinen Arbeiten öfter vor,“ antwortet sie. „Aber ich habe das Wasser nicht gesucht. Es hat mich gefunden.“ Ihr erster öffentlicher Auftritt im nassen Element war 2013 mit einer „Candy Shop“-Performance im Rahmen des Veranstaltungsreihe „Wet Sounds“, das immersive Licht- und Ton-Badeerlebnisse verspricht. Von eindeutigen Zuschreibungen hält sie nichts: „Mit mir oder meiner Identität hat das wenig zu tun.“

Lina Lapelytė ist ein Multitalent. 1984 im litauischen Kaunas geboren, spielt sie nahezu jedes Instrument, das sie in die Hand kriegt. Sie ist ausgebildete klassische Violinistin, Sound Artistin und im Besitz eines Masters in Bildhauerei am Londoner Royal College of Art. Darüber hinaus zeichnet sie in ihren Produktionen neben der Musik als Szenografin und Regisseurin verantwortlich. Ihr Leben pendelt zwischen der litauischen Hauptstadt Vilnius und London.

Dieser zwischen den Ländern und Disziplinen nomadisierende Hintergrund erklärt, warum sie bevorzugt weder in der Black Box des Theaters noch im White Cube der Galerie agiert. Sie erfindet ihre eigenen sitespezifisch definierten Räume, Dramaturgien und Inszenierungen. Ihre Produktionen entwerfen weder ein lineares Narrativ noch hinterlassen sie Objekte, die sich in den Kunstmarkt einspeisen ließen, von Video-Arbeiten abgesehen.

Nach Beendigung ihres Studiums ging es Schlag auf Schlag. Seit 2013 veröffentlicht sie Performance-Serien, in denen sie Laiensänger und ihr Publikum in ungewöhnlichen Aufführungssituationen durch ein breites Spektrum von Genres vom Mainstream und Indi-Volk bis zur Oper zieht. Das Singen wird zum affektiven gemeinschaftsstiftenden Ereignis, der Chor zu einem zentralen Moment ihrer Arbeit. „Mir geht es dabei aber nicht um die Musik an sich. Sie besitzt eine funktionale Rolle,“ kommentiert Lapalytė. Aus dem Klangkörper formt sich eine soziale Gemeinschaft.

Auf berührende und befreiende Weise gelang ihr dies in der ersten Gemeinschaftsarbeit mit Rugilė Barzdžiukaitė und Vaiva Grainytė „Have a Good Day!“, die 2011 ihen Anfang nahm, eine Oper für 10 Sängerinnen, die auf Podesten vor dem Publikum uniform aufgereiht als Supermarkt-Kassiererinnen von ihrem Alltag, Wünschen und Träumen sangen. Aus der Routine bricht Widerstand heraus, aus der Regel, das Unregelmäßige, auch Bedrohliche. Wie in der zweiten Arbeit der Drei, „Sun & Sea“ zur Venedig Biennale 2019. Warum sie nicht unter einem gemeinsamen Label auftreten? „Das brauchen wir nicht. Wir sind zu unterschiedlich, als dass unter einen Hut passen,“ antwortet die Künstlerin trocken.

Choral empowerment

Chorisches Empowerment, Berührung, Begegnung durch die Gewalt der Musik und Kraft der Bilder, die auf den umgebenden Raum bezogen sind, das begegnet uns in Lina Lapelytės Arbeit immer wieder. Und immer wieder spielt Wasser eine entscheidende Rolle: Zur Riga Biennale RIBOCA2, 2020, versammelt sie im Kollaborativ mit dem Architekten Mantas Petraitis in „Currents“ an einem Flussarm 2‘000 Holzstämme um einen Steg, baut eine Soundinstallation auf und zeigt mit zwei Back-up-Sängerinnen die Performance „Instructions for the Woodcutters“. Ihr suggestiver Sprechgesang, „They were going on and on“, wird in „What Happens With A Dead Fish?» wieder auftauchen. Serielle, repetitive Verschiebungen in den Kompositionen, Motiven, Bildern und Themen sind stellen ein zentrales Prinzip ihrer Arbeit dar.

Die Künstlerin passt die Brüssler Uraufführung von „What Happens With A Dead Fish?» 2021 den Zürcher Gegebenheiten an. Was vorher in einem zum Kunstenfestivaldesarts eingerichteten provisorischen Schwimmbad gezeigt wurde, muss nun in den See. Der Chor wird grösser. Die Sänger bekommen die schwimmenden Inseln als Aktionsflächen hinzu, die Gesänge, die Choreografie werden erweitert. Konnte sich das Publikum in Brüssel frei bewegen, sitzt es nun in Reihen vor den Akteur:innen. «Sicher, mir ist lieber, die Leute können ihre Positionen und Perspektiven während der Aufführung frei wählen, hier war aber mehr Theater angesagt und weniger Kunst,» stellt Laypelytė verschmitzt fest.

Immerhin war es möglich hinter der Absperrung die Aufführung zu verfolgen. Die Vorstellungen waren überlaufen. Nach gut 50 Minuten verliess das Publikum mit glänzenden Augen das Terrain. Eigenartig, was man da zu sehen bekam. Nach «Sun & Sea» als Allegorie auf eine Gesellschaft vor der Apokalypse nun die Allegorie einer post-apokalyptischen? Singende Aliens, tolle Musik, bestechende Tablaux vivants – zum Schluss als Rettungssymbol die Sänger:innen auf ihrer Schwimminsel wie Rodins «Bürger von Calais» gruppiert. Lina Lapelytė freut sich über diese Beschreibungen. Ausgedeutet ist ihre Arbeit damit jedoch noch lange nicht.




[1] Shifting Spaces portraitierte nach der Video-, Performance und Theaterkünstlerin Wu Tsang (Auftakt März-April 2020, Band 266), der Video- und Performancepionierin Joan Jonas (Band 268), der Tänzerin und Video-Künstlerin Alexandra Bachzetsis (Band 272) und dem Immersive Art Space des Departements Darstellende Künste und Film der Zürcher Hochschule der Künste (Band 276) in seiner letzten Ausgabe den Künstler und Szenographen Dominic Huber (Band 279).

[2] Siehe die Konzepte der Situationistischen Internationale und Beuys Figur der Sozialen Plastik. Eine erneute entpolitisierte Begründung erfolgte Anfang der 1990er-Jahre durch Nicolas Bourriauld mit dem Begriff der «Relational Art».

[3] Isabelle Graw, Willkommen im Resort. Sechs Thesen zum neuerlichen Strukturwandel des künstlerischen Feldes und zu dessen Folgen für die Wertbildung, in: Texte zur Kunst, Heft Nr. 127 / September 2022, S. 43-65

[1] Joan Jonas mit dem Oceans Space in der Thyssen Bornemisza Art ContemUnd porary an verschiedenen Orten, online: https://www.tba21.org/#item–JoanJonas–1928

[2] Florentina Holzinger, Ophelia’s Got Talent, UA Volksbühne am Rosa Luxemburgplatz 15.09.2022, online: https://www.volksbuehne.berlin/#/de/repertoire/ophelias-got-talent

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Post-Histoire. Zum Deutschen 9. November

Überlegungen zur Ikono-Chronologie Deutscher GeschichteRevisited

Joseph Beuys, auf dem Festival der neuen Kunst“, Aachen 1964, Foto: Heinrich Riebesehl

Da war etwas aus dem Ruder gelaufen. Das Foto zeigt einen Mann mit Hut. Er hebt pathetisch den rechten Arm, etwas zu hoch um ihn mit dem Deutschen Gruß zu identifizieren. Mit dem linken streckt er dem Betrachter ein Kruzifix entgegen. Aus der Nase strömt Blut, der Blick wirkt abwesend wirr. Der Mann mit Kruzifix, Weste und Hut ist Joseph Beuys. Nahezu jeder würde ihn noch heute zweiundzwanzig Jahre nach seinem Tod auf einem Foto von Heinrich Riebesehl aus dem Jahr 1964 wiedererkennen. Joseph Beuys arbeitete früh mit seinem Image, mit einem medialen Erscheinungsbild, das ihn als Künstler, als Person Joseph Beuys authentifizierte.

Auf dem Foto von Riebesehl tritt der Künstler nun – blutende Nase – als Opfer auf. Ungeschminkt. Das Blut ist echt, der Blick zeigt Schock. Doch er gibt sich zugleich – Gestus der Gabe und Kreuz – als Märtyrer, als Erlöser. Mit dem Schwarzweißbild wird das Image zur Ikone. Damit steht es  am Anfang einer Reihe von Versuchen der Nachkriegslinken der deutschen Geschichte Herr zu werden: Denn das Foto wurde am 20. Juli 1964 während des „Festivals der neuen Kunst“ an der TU Aachen aufgenommen. Im Verlauf des Festivals kam es Tumulten und Schlägereien, bei denen auch Beuys verletzt wurde. Das Festival musste abgebrochen werden. Auch wenn das Veranstaltungsdatum anfangs zufällig gewählt war, wurde es – der Tag des Stauffenberg-Attentats auf Adolf Hitler – durch die Organisatoren und Presse zum Politikum.

Die Martyrergeste von Joseph Beuys am 20. Jahrestag des Attentats konnte und wollte sich nicht außerhalb einer kunstinteressierten Öffentlichkeit eingegraben. Doch die Strategie Bildmacht und historisches Datum in eigener Sache zu nutzen, hatte sich bewährt und wurde in den Folgejahren ohne bewussten Bezug auf das Fluxusevent immer wieder aufgegriffen. Dabei wurde nicht das singuläre Ereignis des 20. Juli 1944 beschworen, sondern der 9. November, mit dem sich weitaus mehr Zäsuren in der deutschen Geschichte verbinden als gemeinhin angenommen und darüber hinaus also zu fragen ist, in welchem Zusammenhang sie stehen.

Um die erste Frage zu beantworten, reicht fast schon ein Klick zum Eintrag 9. November bei Wikipedia. Relevant für die deutsche Geschichte sind allerdings nur die Jahre 1848, 1918, 1923, 1938, dann 1967, 1969,1974 und schließlich 1989, also die Jahre der modernen Nationalstaaten nach Einführung des Gregorianischen Kalenders 1586 in katholischen, 1700 in protestantischen Ländern.

Alle genannten Daten haben eins gemeinsam: Sie verbindet Opfergänge, verkappte Revolutionen und Revolten. Das kann kein Zufall sein. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich über den Verlauf der Geschichte eines Nationalstaats Jahrestage mit epochaler Bedeutung häufen, ist wenig nahe liegend. Bemerkenswert ist allerdings der Umstand, dass in der Geschichte moderner Staaten freilich jährlich ein Tag wiederkehrt, nämlich der Nationalfeiertag, der Tag also, der den Gründungsakt – den Tag der Befreiung, der Selbstständigkeit oder der Verkündung einer Verfassung – symbolisch wiederholt und damit auch das Ende der Geschichte markiert: Ab hier soll der Gemeinschaft Gleichberechtigter nichts mehr Wesentliches passieren. Mit dem nationalen Feiertag soll gerade das ausgeschlossen werden, was gefeiert, nämlich ein Gründungsakt, der die vorige Gemeinschaft (revolutionär) abgelöst hat. Gerade aber dieser Vorgang findet in der Widerholung und Beschwörung des 9. Novembers in der deutschen Geschichte statt. Der 9. November hat seine eigene Dynamik.

Allgemeiner bekannt ist die Tatsache, dass der Putschversuch am 9. November 1923 mit dem Marsch auf die Feldherrnhalle in München, bewusst auf den Tag gelegt wurde, an dem fünf Jahre zuvor Philipp Scheidemann vom Reichtag aus die erste Republik ausrief. Diese im Nationalsozialistischen Deutschland als Tag der Erhebung gefeierte gescheiterte Umsturzversuch, veranlasste nicht nur Goebbels dazu, den SA-Vandalismus der Reichsprogromnacht 1938 als Volkserhebung zu legitimieren, sondern bot durch seinen ritualisierten Ablauf auch Gelegenheit zu planvollen Attentaten: Georg Elser versuchte am 9. 11. 1938 im Bürgerbräukeller in München einen Anschlag auf Hitler zu verüben, der Schweizer Student Maurice Bavaud am 9. 11. 1939 von einer Tribüne an der Feldherrnhalle aus. Nach der Verhaftung wurde Bavaud 1941 in Berlin-Plötzensee hingerichtet, Elser 1945 kurz vor der Befreiung im KZ Dachau ermordet.

Doch schon vor Scheidemanns Akt am Reichstag und auch nach Bavauds Attentat ergibt sich eine bemerkenswerte Chronologie, die über eine bloß zufällige Kette der Ereignisse hinausgeht. Philipp Scheidemann hatte als Führer der Mehrheits-SPD die Republik eigentlich gegen seinen Willen erst ausgerufen, nachdem er erfahren hatte, dass dies Karl Liebknecht vom Stadtschloss der Hohenzollern aus tun wolle. Der Kaiser sollte eh zurücktreten, was er zwei Tage später am 11. November auch tat. Nun kam Scheidemann seinem USPD-Kollegen aus taktischen Gründen zuvor. Liebknecht sah sich in der revolutionär-marxistischen Tradition, die die Gründung einer neuen Gesellschaft nicht dem Rücktritt eines Monarchen überlassen konnte. Daher der Plan das Stadtschloss als Kulisse, den 9. November als Datum des Gründungsakts zu wählen: Für diesen Akt gab es ein Zeitfenster von einigen Tagen. Doch mit diesem Zeitpunkt konnte er ein revolutionäres Opfer beschwören, dessen Vermächtnis nun mit einem neuerlichen revolutionären Akt eingelöst würde: Am 9. November 1848 hatte man vor den Toren Wiens den linken Abgeordneten der aufgelösten Paulskirchenversammlung Robert Blum mit dem Versprechen auf freies Geleit gelockt und ohne Prozess standrechtlich erschossen. Was lag also näher die mit Blum begrabene Revolution genau siebzig Jahre später wieder auferstehen zu lassen?

In dieser Durchkreuzung von Opfer, Befreiung und Erlösung, so die Logik, kommt die Zeit als sinnloser Ablauf der Ereignisse zum Stillstand, zur Epoche.

Für die 9. November der Nachkriegsgeschichte mit Ereignischarakter – bis hin zu Günther Schabowskis hilfloser Antwort auf die Frage, ab wann die neue ständige Ausreiseregelung gelte: „Meines Wissens ab sofort,“ am 9. November 1989 – ist diese Chronologik ebenso anzunehmen, auch wenn sie einmal mehr die Seite des Opfers einmal mehr die Seite der Erlösung betonen. Der revolutionäre Ereignischarakter steht 1967 im Vordergrund, als die Studenten Detlev Albers und Gert Hinnerk Behlmer am 9. 11. das Transparent „Unter den Talaren/ Muff von 1000 Jahren“ vor den Ordinarien im Audimax der Uni Hamburg aufziehen. Doch erst der Koinzidenz des Tags der Amtseinführung des neuen Rektors, der Aktion und der Anwesenheit eines Agenturfotografen, der den Spruch verbreitete, ließ die Aktion in die Geschichtsbücher eingehen. Von Albers und Behlmer ist nicht bekannt, dass sie mit dem Datum Epochales verbanden.

Anders bei der Stadtguerillagruppe Tupamaros West-Berlin, die am 9. November 1969 unter dubiosen Umständen und bis heute unbekannten Motiven einen Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in der Berliner Fasanenstraße verüben wollte.

Anders am 9. November 1974. Hier stirbt der 183 cm große Holger Meins nach einem Hungerstreik auf 30 kg abgemagert in der rheinland-pfälzischen Justizvollzugsanstalt Wittlich an Unterernährung. Der Ort seines Todes ist eher zufällig. Beim Zeitpunkt kommt man nun leicht ins Grübeln. Während die Unterbringung von Holger Meins den Überlegungen der deutschen Justizbehörden zuzurechnen ist, die vor der Zusammenlegung der gefangenen RAF-Kämpfer im eigens erbauten Hochsicherheitstrakt der Stuttgart-Stammheimer Haftanstalt darum bemüht war, ihre erklärten Feinde weit voneinander entfernt zu isolieren, steht der Zeitpunkt seines Todes in der Reihe eines keineswegs zufälligen Datums. Um gegen ihre Haftbedingungen zu protestieren und um als Kriegsgefangene zu gelten, tritt die gefangene RAF-Führung Andreas Baader, Holger Meins, Jan Carl Raspe, Gudrun Ensslin, Brigitte Mohnhaupt und Ulrike Meinhof auf unterschiedliche Gefängnisse der Republik verteilt Mitte September 1974 in einen dritten Hungerstreik. Während man darum bemüht war, die Sache nach außen hin glaubhaft durchzuziehen, jedoch heimlich Nahrung zu sich nahm, hatte man Meins als Opferfigur auserkoren, der diese Rolle auch annahm und diszipliniert durchzog. Gudrun Ensslin versorgte ihn mit regelmäßigen Durchhalteparolen. Anfang November schreibt sie: „Du bestimmst, wann du stirbst. Freiheit oder Tod.“ Holger Meins, ein Hungerkünstler, der trotz Zwangsernährung auf den 9. November hinsiecht, um Robert Blums Vermächtnis zu erfüllen, der sinnlosen Folge sinnloser und grausamer Ereignisse deutscher Geschichte ein Ende zu setzen?

Der Kassiber Gudrun Ensslins an Holger Meins macht es wahrscheinlich, dass er im Bewusstsein der Propagandawirksamkeit des Datums wider medizinischer Wahrscheinlichkeit darum bemüht war, exakt am 9. November 1974 zu sterben. Damit hätte die Bewegung endlich ihr protestantische Opfer- und Erlöserbild, das an Christus und KZ gemahnte und Ikonengleich als An- Klagebild durch die Straßen geführt werden konnte. Es signalisierte Wahrheit. Hier würde nicht eine Person, sondern die Sache, nicht das Ego, sondern das Ethos vertreten.

Max Glauner
Der Text „Der 9. November“ erschien zuerst 2008 in „Deutschlandsaga-Fanzine, die 70er-Jahre“, Hrsg. Schaubühne am Lehniner Platz, Christoph Barner, Andreas Seyfert, Berlin 2008

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Postpandemisches Theater

Düstere Farcen aus Sumiswald und Theben: «Die schwarze Spinne» und «Ödipus der Tyrann» könnten auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein. Doch es gibt Gemeinsamkeiten, zu entdecken derzeit in Zürich und Bern.

Meine Hausspinne, Foto: Max Glauner

Den Ortsnamen muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – S-u-m-i-s-wald. Lange bevor ich wusste, dass mit Sumiswald ein Flecken im Emmental gemeint ist, berührte er den infantilen Teil meiner Seele: Ich wählte, als ich in die Schweiz zog, die Kranken­kasse selbigen Namens. Ich war mir gewiss: Hier musste ich wohl aufgehoben sein.

Doch wir wissen, im Heimeligen waltet das Unheimliche. Das mag den Erfolg der Novelle «Die schwarze Spinne» des Emmentaler Pfarrers Albert Bitzius aka Jeremias Gotthelf von 1842 erklären, der bis heute anhält. Immer wieder taucht sie dramatisiert auf Schweizer Bühnen auf, zuletzt in Basel 2017 veristisch ambitioniert auf rotierender Scheibe, im Zürcher «Pfauen» 2011 in einer kabarett­reifen 4-Stunden-Version des Stücke­zerpflückers Frank Castorf, damals noch Berliner Volksbühne-Intendant, munter-unbekömmlich mit Texthappen von Bulgakow und Artaud angarniert. Wer es mainstream­mässiger haben wollte, konnte sich im Frühjahr «Die schwarze Spinne» mit der Castorf-Schauspielerin Lilith Stangenberg als mutige Christine im schmutzigen Mittelalter-Splattermovie-Format im Kino reinziehen.

Das othering der Emmentaler

Gleichsam die ästhetische Mitte suchte jetzt der wie Castorf in der DDR sozialisierte Regisseur Armin Petras. Seine Dramatisierung der «schwarzen Spinne» feierte am vergangenen Samstag im grossen Haus der Bühnen Bern Premiere.

Petras gelingt schaurig-schöne Unterhaltung, befördert durch ein glänzend aufgelegtes Ensemble, das sich nach der fidel-solistischen Eingangs­szene der Rahmen­erzählung zu einem geschlossenen Chor formiert, aus dem sich die Protagonisten, voraus Yohanna Schwertfeger als Christine, Claudius Körber als Spinne und Linus Schütz als der Grüne, entwickeln können. Dabei helfen Anleihen beim epischen Theater, eine offene Dramaturgie, eine Drehbühne mit hoher Bretter­wand im Halbkreis und gekippter Spielfläche, als hätte sie Brechts Bühnen­bildner Caspar Neher entworfen (tatsächlich ist die Bühne von Natascha von Steiger).

Zwar spart man es sich in der Inszenierung von Petras, die Sumiswalder als castorfsche Knall­chargen darzustellen, doch was man von den Hinter­wäldlern so hält in Bern, wird unmissverständlich klar: Bünzli der schlimmsten Sorte. Zur Feier des neugeborenen Kindes steht «Uises Sunneschiin» auf einem Transparent hinter den an der Rampe aufgereihten Protagonisten. Uns wird kein Klischee erspart. Von othering hat man an der Aare offenbar noch nichts gehört. So darf über die Grossmutter­travestie ebenso gelacht werden wie darüber, dass der Pfarrer ein Deutscher ist. Dann aber ist Schluss mit lustig.

Bis auf wenige postdramatische Humor­einlagen, wir könnten auch epische Brechungen sagen, bemüht sich Petras, ernste Sache zu machen. Die Bretter­wandseite mit dem sonnigen Transparent wird nach hinten gedreht, und es entfaltet sich ein finsteres Mittelalter aus Leid und Pein.

Wir kennen die Geschichte: Die Sumiswalder stehen unter fremder Herrschaft. Der böse Ritter Hans von Stoffeln (in eherner Rüstung mit Fahne, Jan Maak) knechtet seine Bauern bis aufs Blut und verlangt, dass sie 100 Buchen vor sein Schloss schaffen. Das gelingt ihnen auch. Jedoch nur mithilfe des Teufels, der als Gegen­leistung ein ungetauftes Kind vom Dorf verlangt. Damit dieser Pakt zustande kommt, muss die vom Bodensee eingewanderte Christine vermitteln, die, nachdem das erste Kind geboren und doch getauft worden ist, bitter dafür bezahlen sollte, dass das Versprechen nichts galt – wie später die ganze Gemeinschaft, die meinte, den Teufel durch Nichtstun austricksen zu können. Eine schwarze Spinne bemächtigt sich ihrer wie des Viehs und eines jeden, der sie berührt. Erst der selbstlose Einsatz von Priester (Kilian Land) und Kindsmutter (Jeanne Devos) vermag dem ansteckenden Spuk ein Ende zu setzen. Die Spinne wird in das Bystal – den Fenster­pfosten – eingepflockt.

So weit, so gut. Was bringt das Berner «Spinnen»-Update? Sicherlich einige unvergessliche Theater­momente. Gelungene Tableaus und viel Theater­zauber mit einfachsten Mitteln. Etwa wenn eingangs das Ensemble die Rampe hochkriecht und später in einen Veitstanz ausbricht, wenn sich die Spinne von Claudius Körber an Hans von Stoffeln vergreift oder kurz darauf auf sächsisch eine irrwitzig improvisierte Ansprache hält auf der Brüstung im ersten Rang.

Inhaltlich? Erfahren wir etwas Neues zum ewigen Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft? Das passive Abwarten und das Nichts-verlieren-Wollen werden dem aktiven, selbstlosen Einsatz in treffenden Bildern gegenüber­gestellt. Petras erspart seinen Zuschauerinnen zwar die naheliegende Corona-Parallele, aber er rückt damit die Parabel auch weit von uns weg. Zum bekömmlichen Ende überlässt Petras schliesslich Friedrich Dürrenmatts schaurigem Weihnachts­märchen das letzte Wort. Damit entschwindet der Abend endgültig ins Ungefähre einer dunkel getriebenen und gottverlassenen Welt. Ausbruch aus Zwangs­zusammenhängen? Fehlanzeige!

Seuchen überall

Von Sumiswald nach Theben. Das hiess am vergangenen Wochenende von Bern nach Zürich, ins Schauspiel­haus am Pfauen. Dort inszenierte Nicolas Stemann, Co-Leiter des Hauses, den «Ödipus». Wie in Gotthelfs Novelle waltet in Sophokles’ Tragödie ein finsteres Geschehen im Hinter­grund. Wütet in Sumiswald die Spinne, ist es hier die Pest. «Die Tiere sterben herdenweise in den Ställen», heisst es bei Gotthelf und Sophokles unisono. Auf allen Bühnen sanitarischer Notstand. Ist uns die Corona-Pandemie zu nah, oder ist sie schon wieder zu weit von uns entfernt, wird hier implizit angespielt gegen das Vergessen und Verdrängen? Auch die Zürcher Inszenierung verzichtet jedenfalls auf explizite Bezug­nahme und feiert sich als grosses Tragödinnen-Regietheater.

Dabei geht Stemann formal genau den umgekehrten Weg wie Petras. Entwickelt Petras die Figur aus dem Chorischen, reduziert Stemann den antiken Tragödien­chor, die Protagonisten und ihre Gegen­spieler auf zwei Darstellerinnen, Alicia Aumüller und Patrycia Ziólkowska, zwei der brillantesten Schau­spielerinnen am Haus.

Dieser Reduktionismus besitzt Charme, doch hat er seinen Preis. Die Tragödie schrumpft zum Kammer­spiel. Für die grosse Bühne ist die Duo-Besetzung zu klein. Sie muss an die Zuschauer herangeholt werden. Dazu baut Stemann ein paar Zuschauer­reihen vorne raus und drei metall­glänzende Bühnen­stufen vor den eisernen Vorhang. Die Damen in schwarzen Samt­kleidern, eins kurz, eins lang, Varianten an Arm und Ausschnitt, betreten ihre Wirkungs­stätte von der Seite aus dem Parkett. Trügen sie die weissen Turnschuhe nicht, dächte man, ein Lieder­abend stünde an.

Schuld und Spiel

Gleich zum Auftakt erfolgt eine erste Korrektur. Ein Prolog gibt den bei Sophokles stummen Ödipus-Töchtern Ismene und Antigone eine Stimme, eine erste verhaltene, schöne Wechsel­rede der Protagonistinnen Aumüller/Ziólkowska, die das Kommende vage Revue passieren lässt und den Teppich legt, auf dem sich fortan im fordernden Hin und Her die Rollen, Gesten, Haltungen und Stimmungen der beiden bewegen sollen. Das machen sie grossartig mit kontrollierter Wucht, überzeugend, engagiert und hingebungsvoll.

Ödipus betritt bei Stemann wider die Vorlage erst mit der dritten Szene die Bühne, doch mit Aumüller/Ziólkowska ist er auch immer schon da. Die Klage des Chors, die Rechtfertigungen Kreons, Ismenes Beschwichtigungen, die Deutung der Orakel­sprüche und schliesslich die Offenbarungen des Sehers Tiresias über Herkunft und Schicksal des Ödipus verdichten sich, als bildeten sie den inneren Monolog einer tief gespaltenen Persönlichkeit, die nicht mit sich ins Reine kommt. Es ist ein grosser Schau­spielerinnen­abend.

Dass dann aber kein wirklich grosser Theater­abend gelingt, liegt an dem Umstand, dass sich Nicolas Stemann zu viel zugetraut hat. Er zeichnet nicht nur für Textfassung und Regie verantwortlich, sondern auch für Bühne und Musik beziehungs­weise den Elektro­sound, der weiten Passagen unterlegt wird. Das zum einen. Zum anderen, und das wiegt schwerer, macht er das tragische Verhältnis von Schicksal­haftigkeit und Unterwerfung, von Macht und Ohnmacht, das ganze den Figuren widerfahrende Geschick zu einer diffusen, fast ideologisch wirkenden Frage von Schuld und Verantwortung.

In einer gängigen Sophokles-Übersetzung fällt das Wort «Schuld» zwei Mal. Bei Stemann zählen wir 69 Erwähnungen. Da ist die Zivilrechts­ordnung heute weiter. Sie hat den Begriff getilgt. Selbst im Strafrecht spielt er kaum mehr eine Rolle. Was also soll dann das Stakkato «Ihr seid schuld» zur Mitte des Stücks als Vorwurf ans Publikum? Ein Missverständnis, ebenso wie der Schlussplot. Da werden sämtliche Scheinwerfer auf Augenhöhe des Publikums justiert. Partizipative Blendung, ja, wir sind alle Ödipus, ja, wir alle haben es nicht besser verdient. Zur Erleuchtung trägt das nichts bei.

Petras beendet seine «schwarze Spinne» mit einem lauten Punk-Knaller der Beastie Boys: «Fight for Your Right to Party». Stemann setzt einen melancholischen Folk-Heuler von Laura Marling an den Schluss: «What He Wrote». Und wir werden den Verdacht nicht los, die beiden Exponenten der Post­dramatik wären insgeheim lieber Frontmänner einer Pop-Band geworden. Der Zauber der Kunst scheint für sie mehr in der Musik als im Theater zu liegen. Macht aber nichts. Auch so sind ihnen sehr sehenswerte Abende gelungen.

Der Text erschien zuerst online in Republik.ch am 16.09.2022

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The Mechanic. Jordan Wolfson at the Kunsthaus Bregenz

The art of the US-American Jordan Wolfson is provocative. His disturbing virtual reality installations, videos and image collages regularly trigger controversy. Currently, his work is at Lake Constance.

Jordan Wolfson, „Female Figure“ 2014, Installetion view, Foto Max Glauner

Great art, said the star artist Bruce Nauman in an interview with „Art in America“ in 1988, must strike the viewer to the core. Not through the head, but through the stomach, literally: „Like getting hit in the face with a baseball bat. Or better, like getting hit in the back of the neck. You never see it coming; it just knocks you down.“

Curiously, Bruce Nauman’s violent fantasy of reception is tied to jazz music, to the playing of the blind pianist Lennie Tristano, which knocks you down. In visual art, on the other hand, which picks up the viewer more directly, but not immediately physically, the neck-snapping remains a difficult undertaking.

It is true that artists are now legion who take to the stage with a drum roll and wow effect, because this generates attention, an audience – and box office. However, there is a thin dividing line between fair and honest effort, between mere attention-seeking and artistic concern, between brutal provocation and transparent strategy.

Jordan Wolfson, born in New York in 1980, has made a name for himself in recent years as a great master of art as a neck-snap. The hype surrounding his disturbing work is considerable. But is it about art – or more about cash.

Wolfson opened an extensive solo exhibition at the Bregenz Kunsthaus last Friday. To say it in advance: He is one of those clever, ironically witty artists who know how to use shock and distance, seductive proximity and distance responsibly and skilfully. The encounter with his works is violent, brutal and disturbing. But it is worth it.

A day before the exhibition opening, we’re sitting in the café of the Kunsthaus Bregenz (KUB), he, short dark hair, white T-shirt, jeans. We order apple spritzer and pretzels with mustard. Wolfson seems serene and cool, but calculation and coolness are not his thing. It’s more about getting to the bottom of the dislocations and entanglements of his own existence. Growing up as a secular Jew in New York, Wolfson says, he often had to deal with exclusion and rejection. „Not easy.“

Kunsthaus Bregenz, Foto. Max Glauner

Let’s start with the stage for Wolfson’s performance, the KUB. Architect Peter Zumthor’s building has been standing on Lake Constance for 25 years now – minimalistically bold, a finger pointing beyond our uninspired present. For artists, this stage is a challenge, because the KUB programme requires them to fill four floors, four halls without columns, totalling almost 2000 square metres. Wolfson succeeds without any problems.

The exhibition begins without a bang on the ground floor. Wolfson leaves the centre of the room empty. Only the red grimacing face of „House with Face“, 2017, a display-like collage „Untitled“, 2017, alongside three more inconspicuous works (we’ll come back to this) provide visual attraction on the walls of the high hall. From there, it’s into the black box of the white-carpeted first floor. Here Wolfson presents the monumental video work „Raspberry Poser“, 2012.

Then we go to the second floor, which is dominated by a wall of rotating holographs, „Artists Friends Racists“, 2020, surrounded on the walls by large-format collages. This chorus of images orchestrates the prelude to the final show on the third floor, which either draws us in or repels us: the lifelike go-go girl robot „Female Figure“, 2014, which made Wolfson famous.

I want to know if the success of his go-go machine hasn’t made him too committed to an image and blocked him artistically. Jordan smiles and replies that no, it was lucky, because success also enabled a lot. „I’m not a puppet master. I’m only interested in the technology insofar as it implements my idea as well as possible. I have to leave the mechanics and programming to others anyway.“

Raw and abrupt like naked violence

Let’s return to the beginning, to the ground floor. We come across the visually inconspicuous media display „Real Violence“, 2017, virtual reality glasses and headphones, which are offered for sale on a pedestal. What we do not suspect for the time being: Bruce Nauman’s motto that art should be like a punch in the neck is literally put into practice here.

Once we have put on our glasses and headset, we stand alone on the pavement of a busy New York street. In front of us we see the artist in jeans and a T-shirt with a baseball bat in his hand. He is posing behind a man kneeling on the curb. The artist raises the baseball bat and beats the kneeling man, first on the head, then on the torso, the defenceless victim falls forward, collapses, twitches, bleeds, continues to be maltreated with bat and feet until he dies on the pavement.

Before the end, many will have taken off their VR glasses and the headphones from which sweet Hanukkah music flows. Even those who watched the violent scene to the end will ask themselves what it means. Why we expose ourselves to it, why we and what it concerns us.

The imposition is hardly diminished by the fact that at some point we recognise an animated dummy in the victim. The act of violence remains without context, the motivation of the perpetrator as well as his relationship to the victim are unknown.

Although mediated by the media – albeit in one of the most direct ways, through virtual reality glasses – we are witnesses, accomplices, co-perpetrators of the blatant violent scene.

Why does the artist strike at the neck of his audience, why does he go to the pain threshold of the viewer? Challenge, challenge of the avant-gardist to cross another border? Or challenge, challenge the sensitivities of the recipients, who are given an experience they would have found difficult to have otherwise?

Wolfson is smart enough to give us the violent scene in the VR glasses hyper-reality in which we are isolated and thrown back on ourselves. Do we become fascinated by the violence? Do we identify with the perpetrator, the victim, both?

The question of the artist’s integrity, his moral-political stance or his good intentions – for example in the sense of an Aristotelian catharsis or, say, as a critique of the viral presence of depictions of violence in social media – distances us from the immediate physical experience of the viewer. But it plays a subordinate role in Wolfson’s setting. The only thing under discussion is the work as such, which does not legitimise itself with the artist’s intention. It is raw and abrupt, like naked violence. A blow to the neck.

Jordan Wolfson, Installation view Kunsthaus Bregenz, Foto: Max Glauner

No moral message

I ask Wolfson about his attitude, his political stance. „Yes, of course my position as an outsider is left-wing, critical.“ But for him, art has nothing to do with unambiguity, with moral messages or even political propaganda. He takes a stand, yes, but in the sense of shifting references, contexts and levels of meaning. This happens anarchically. Wolfson bites into his pretzel.

His works make things visible without giving answers. They are uncomfortable because they trigger deep layers of our lives that lie dormant, repressed, denied. The myth of childhood happiness is just as much a part of it as the abysses of bourgeois gender relations or the false promises of consumer society.

Asked about his self-image as an artist, Wolfson characterises himself as a „mechanic who repairs a machine that has never existed before“. He does not see himself as a sculptor, painter or draughtsman. His medium, the expression in videos, collages, spatial stagings with automated puppets, the formal language of comics, images found on the internet and filmed scenes in which he often appears himself or lends his voice to the figures, result from the often lengthy working process and vary greatly. Even though his signature remains recognisable for the most part.

This is convincing in Wolfson’s work, because although he uses the latest technology and software, he never formally plays it up and makes it the real thing – even if we can marvel at it at first.

This is also the case with „Artists Friends Racists“, 2020. A wall on which 20 rotating hologram displays are mounted in two rows one above the other, their quiet whirring filling the hall on the second floor. The artist uses the latest cry of imaging processes, which already caused open mouths at the „Unlimited“ of Art Basel in mid-June. Each display moves a cross of four axes a good 20 centimetres long, equipped with tiny LED lights that produce razor-sharp images with a maddeningly fast rotation.

The artist thus sets us into a breathtaking storm of images that simply overwhelms our powers of comprehension. In rapid succession, happy blue emojis pop up next to cheeky comic rabbits, faces, photos of police cars, stunts by robots, firemen – and again and again the words Artists, Friends, Racists rain down and shatter like glass.

A critique of unambiguous attributions? The whole work an allegory of the image-obsessed social media present? Possibly. But Wolfson’s standard question of what the artist is trying to tell us only works if we look for the answer within ourselves.

Distance and horror

This also applies to his installation „Female Figure“, 2014. Even eight years after its first presentation, among other things at the special exhibition „14 Rooms“ during Art Basel, it has lost none of its fascination. Back then, she was the insider tip of the fair, access strictly limited. The public was only allowed into a narrow, white room in groups of up to four, at the front of which a lightly dressed, large-breasted, blonde dancer in high white patent boots danced to disco music in front of a mirror.

In fact, you could briefly think you were meeting a real dancer who was fixing you via the mirror. Eerie, because via motion detectors and facial recognition software, she tracked her viewers at every turn. Also uncanny: the woman wore a dark green mask with a long witch-like hooked nose. And her lifelike movements were made possible by a chrome rod that penetrated her stomach through the mirror.

Bregenz is showing „Female Figure“ for the first time in a wide auditorium, not in a cubbyhole, which would make the figure obtrusive, even threatening. However, she deserves the big performance in Bregenz. We can appreciate her here – withdrawn from their gaze and claustrophobic intimacy – from a safe distance. From there, too, she hooks herself vampirically into our memory. For even lascivious beauty needs grace or terror in order to create real binding forces.

And terror also creates and requires a critical measure of distance. After our conversation, Wolfson has a TV interview scheduled. Then he finally wants to take a swim. It’s hot. Lake Constance is calling.

First in an editorially revised German version on Republik.ch, https://www.republik.ch/2022/07/20/der-mechaniker

Jordan Wolfson, „House with Face“ 2017, Foto. Max Glauner

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Der Dramaturg. Eine Erzählung aus dem Jahr 1982 | Paralipomenon XXIV

Ausschnitt von Gotthold Ephraim Lessing, Gemälde von Anna Rosina de Gasc (Lisiewska), 1767/1768, Gleimhaus Halberstadt Foto: Comun Licence

Nickelbrille, das angegraute Haar à la Strindberg, Benjamin, Hamacher gerauft. Darunter ein schmales Gesicht, das in ein Kinn auslief, vorgeschoben, wie ein Kiel, in dem der wulstig-kleine Mund zu verschwinden drohte. Der Dramaturg. „Setzen Sie sich!“ Aufrecht lehnte er in der Intendanz, nach der Pforte, rechts, dritter Stock, links unter dem Dach, an seinem Schreibtisch mir gegenüber. Vor sich Zeitungen ausgebreitet. „Sie sind also Herr Strecker.“

Der Wiener hatte einige Zeit vor seinem neuen Engagement in der Ruhrmetropole im Schwäbischen gearbeitet. Kannte sich also aus mit dem Theater, mit den Komikern in der Neckarmetropole, aus der er vor kurzem mit seinem berserkernden Prinzipal vertrieben worden war. Jahre vor ihnen feierte Max Strecker getragen vom jungen Fernsehen neben Häberle und Pfleiderer, die Bedeutenderen, als Mundart-Buffo Triumphe. Was also lag näher, dass mich, Max mit Vornahmen, der, wie man sagte, weitdenkende und schon damals legendäre Dramaturg Hermann Axt in aller Anerkennung und Ignoranz mit dem Namen meines schwäbischen Theater-Landsmanns belegte.

Es sei vorweggenommen: Wir sind uns nie nähergekommen. Auch wenn wir uns über die Jahre und Jahrzehnte immer wieder begegneten; aus dem Ruhrgebiet ging es für Axt und seinen Prinzipal an die Donau. Ich reiste ihnen nach. Sie feierten Triumphe. Ich blieb in Berlin und für Axt der Strecker. Dann ging es für sie an die Spree. Und obwohl ich auch dort lebte, verloren sich unsere Wege, als sie ihr Theaterschiff in den Hauptstadtmorast versenkten. Irgendwann in Wien tönte er mir gegenüber, er werde sich dort nie hinbegeben, würde man so weitermachen, wie bisher. Alles ging so weiter und Axt blieb an der Seite seines Herrn. Bis zum bitteren Rentenende.

Meine Mutter hatte damals alle Minen springen lassen. Immerhin war sie früher im Opernkinderchor, der Pelikan in einer gefeierten Zauberflöte, in der der Wundertenor Fritz Wunderlich den Tamino gab. Ihre beste Freundin, stets auf hochhackiges Schuhwerk bedacht und Gattin eines Kammersängers, Bariton, fädelte meinen Besuch bei Axt schliesslich ein. Auf meinem Weg nach Berlin, wo ich, sollte das Gespräch mit Axt missraten, studieren wollte, ging es in den Pot.

«Sie wollen studieren, Strecker? Was denn?» Axt schaute prüfend über die Brille. Mich durchfuhr es. Erster Fehler. Aber hätte ich gleich sagen sollen, dass ich das Schultheater bei Manfred Raimund Richter und dem Musiklehrer Stegmeier ganz toll fand, Kleist und den Zirkus? Und dass ich schon mal Clown war. In einer Manege, die ich mit Daniela und Philipp im Nachbargrundstück abgezirkelt hatte, und noch früher sogar Zirkusdirektor werden wollte und dass ich, jetzt bescheidener geworden, bloss noch Burgtheaterdirektor. Ich traute mich nicht ihn zu korrigieren, um mein eigentliches Anliegen anzubringen und schoss heraus, «Germanistik, aber nicht so richtig.» Es gebe da in Berlin ein Institut, das versuche alles irgendwie zusammenzubringen, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Ohne Kästchen ging es da zu.

«Das ist gut.» replizierte Axt, der sich nun davon entlastet fühlte, mir auszureden bei ihm zu assistieren oder irgendwas am Theater an der Wupper anzufangen. Er kam in Plauderlaune. «Brecht hat auch studiert, bevor er ans Theater ging.» Das leuchtete mir ein. Dummer Weise, denn ich liess mich hinreisen, zu behaupten, ein akademisches Studium wäre zumindest in den Augen meiner Familie etwas Seriöses, etwas Solides. Schwaben halt. Axt zuckte mit den Achseln und fragte, wohin es mich am Theater so triebe. Mit dem akademischen Studium im Rücken schon Dramaturg, replizierte ich artig. Brecht habe auch nicht mehr als zwei Semester Philosophie studiert. Dann könne ich ja weitersehen. Erstaunlicher Weise zeigte sich Axt geschmeichelt. Doch sicher weniger, dass er sich von mir geschmeichelt fühlte, sondern durch den Umstand, dass er jetzt die Zeit für gekommen hielt vom Wesenskern seiner Profession zu erzählen.

Also schwadronierte er los, ein König auf dem Scheitelpunkt der wortgetragenen Bühnendramatik, deren letzten Gralshüter man ihn mit Fug nennen kann, bevor der Sturm des Postdramatischen in die deutschen Theater-Häuser wehte. «Was der Dramaturg tut, weiss eigentlich keiner so recht. Er liest viel, naturgemäss.» Axt schaute auf seine Zeitung. «Es ist eben auch ein sehr alter Beruf. Ein griechischer Philosoph ist der erste Dramaturg gewesen. Was natürlich nicht heißt, dass ein Dramaturg auch ein Philosoph sein muss. Aber er ist als Denkmaschine ans Theater engagiert. Denn das Theater denkt nicht. Es spielt. Aber es muss auch denken. Nicht denkende Schauspieler zum Beispiel langweilen mich. Nehmen Sie, Strecker, einmal Ise Ritter. Sie denkt. Jeder Satz, den sie auf der Bühne sagt, denkt sie und wenn sie spricht, denken wir, sie sagt den Satz zum ersten Mal. Als hätte sie ihn gerade erst gedacht. Wir denken, wir hören ihr beim Entstehen der Sätze zu, obwohl sie das alles auswendig gelernt hat. Aber der Ise Ritter musst du nicht sagen so und so musst Du das sagen. Die Ritter kriegt das auch so hin. Sie ist einfach eine der ganz Grossen, der man das eigentlich Nichts sagen muss. So pendelt der Dramaturg täglich zwischen ‘Denkfabrik’ und ‘Mädchen für alles und nichts’ hin und her und sagt nichts.» beendete Axt seinen Bogen und wischte meine Frage, wie dieser Philosoph denn hiesse, mit einer nuschelnden Handbewegung, vom Tisch. Gab es diesen ersten Dramaturgen? Oder war ihm die Geschichte Axt honi soit qui mal y pense ein Anker, um seinen Bogen von der Antike zur Ritter schlagen zu können?

Offensichtlich durch mein schweigendes Staunen über dieses rhetorische Geschick angeregt, fuhr er fort: «Um es etwas nüchterner zu erklären. Ein Lexikon, will den Dramaturgen als einen Angestellten definieren. Er wirke, heisst es irgendwo, bei der Auswahl und Einrichtung der Stücke mit, und muss das Schauspielern erklären. Ja, wenn das so einfach wär’» schloss Axt mit einer Pause ab, nachdem er den Umlaut von «wär» wienerisch-näselnd deutlich genossen hatte. «Ja, Strecker, stellen Sie sich das mal vor!» Und Axt legte zu einer längeren Ausführung los. «Es gab Zeiten, Strecker in denen die Dichter,» Axt betonte Dichter, «die Formgesetze des Dramas definierten. Alle konnten sich daran halten. Und mussten sich daran halten. Wer sich nicht daran hielt, der wurde missverstanden, ignoriert, ausgelacht. Das erging auch dem größten Dramaturgen der Theatergeschichte so, nämlich William Shakespeare.» Ach, schon wieder etwas Schummeln, dachte ich kurz, den Gedanken ob der Kompetenz meines Gegenübers nicht zulassend und kam auf Kleist. Axt meint Kleist – der wie er, Axt, Klarinette spielte, bevor er ans Theater ging. Axt setzte seine Ausführungen unbeeindruckt fort. «Strecker, im Grunde ist jeder Theaterdichter sein eigener Dramaturg, indem er seine eigene Gesetzmäßigkeit schafft. Auf der anderen Seite ist ein Dramaturg wiederum kein Dichter, aber einen Sinn für Dichtung in allen Spielarten sollte er als eine unbedingte Voraussetzung für seinen Beruf schon haben. Der Dramaturg heute ist gewiss kein Wachmann für eine ästhetischen Norm, kein Theatertugendwächter, auch wenn er einige Theatertugenden selbst immer beherzigen sollte.» Ich fühlte mich verpflichtet ihm hier mit einem kurzen «hm, ja, verstehe» beizupflichten, denn ich fühlte, ich hätte schon zu lange geschwiegen. Doch kaum, dass er meinen Einwurf registriert hatte, wechselt er Ton und Farbe seines Vortrags: «Im Grunde ist seine Aufgabe die eines Fragenstellers, also die eines Menschen, der Fragen an ein Stück, an Schauspieler, an Autoren, an Regisseure stellt, Fragen auch an das Publikum. Möglichst richtige Fragen, also Fragen, die weiterführen. Dabei kann eine unscheinbare, eher kuriose Frage von entscheidender Wirkung sein.» Ihm schien der Gedanke zu gefallen, denn er fragte mich mit einem spitzbübischen Schmunzeln, ob ich eine Frage hätte. «Haben Sie noch eine Frage, Strecker?»

Obwohl ich dachte unser Gespräch sei nun zu Ende, schien Axt nun erst richtig in Fahrt zu kommen. «Strecker, auch wenn Sie jetzt richtig belesen ans Theater kommen, ein Dramaturg darf nie ein Besserwisser sein. Er soll es nur genau wissen wollen. Eine richtige Frage führt zur richtigen Antwort, möglich. Kein Fragen jedoch führt in die Irre, Strecker. Die richtigen Fragen aber kommen nur aus der genauen Lektüre. Unverzichtbar für die Arbeit eines jeden Dramaturgen – natürlich auch eines jeden Regisseurs – ist die genaue Durchdringung eines Stücks durch eine neugierige, den ganzen Text erfassende Frage, der eine penible Lektüre folgt. Ein Dramaturg entwickelt die Fragen und Vorschläge zuallererst aus dem Stück.»

Kunstpause. Aha! Was würde jetzt kommen? Axt schaute zu Seite und begann leise und drehte den Kopf langsam zu mir. Ich erschrak. «Ein gewissenhafter Dramaturg misst alle so genannten Regieideen an der Wahrheit…,» erneute Pause, die das folgende Wort wie ein Hase aus dem Zylinder zauberte, «…des Stücks.» Und weiter: «Ein redlicher Dramaturg tritt für den Autor ein. Er ist nie Helfershelfer gegen den Autor.» Merkwürdige Wendung. Wie sollte er das je sein? Und gibt es nicht Autoren, die aus einem anderen Zusammenhang Theater machen? Wie wir Schüler in der Theater-AG von Richter zum Beispiel? Axt donnerte weiter: «Das Theater der schnellen Einfälle braucht keinen Dramaturgen. Eine Klassikeraufführung, die den Pokal fürs Schnellsprechen holen möchte, braucht keinen Dramaturgen.» Dann wurde er milder, sich auf das Historische besinnend. «Der Dramaturg als ein regelrechter Theaterberuf trat in der Theatergeschichte erst spät auf, müssen Sie wissen, Strecker. Dramaturgen im heutigen Sinn tauchen auf, als der moderne Regisseur in Erscheinung trat, etwa Max Reinhardt. Sie kennen Reinhardt?» Die Frage zu meiner Theaterbildung! Ja, den Namen schon gehört. Was konnte ich mit ihm verbinden? Ich suchte in meinen Hirnwindungen. Berlin, Salzburg, Sommernachtstraum, 20er-Jahre, Exil. Viel war da nicht und ich nickte. «Natürlich ist der Blick des Dramaturgen immer ein anderer als der des Regisseurs,» entlastete er mich durch die entfallende Nachfrage, «weil es ein abwägender, reflektierter Blick ist, nicht die geniale Vision. Und beharrlich müssen Sie sein, Strecker!» Ich nickte abermals.

«Es geht ja nicht um Rechthaberei, alles was zählt, ist die Bühne, das heißt, ob das, was man will, auf der Bühne überzeugend sichtbar wird. Jetzt, da, bei der Abendvorstellung, schlägt die Stunde der Wahrheit. Die Stunde der Wahrheit für den Dramaturgen schlägt vorher, immer wieder bei neuen Stücken, bei Stückentdeckungen oder bei Wiederentdeckungen. Wir sind Fährtensucher ins Ungewisse, Ungesicherte, Unentdeckte hinauswagt: Neuland betretend oder lange verschlossene Türen öffnend. Er muss fähig sein, mit Schauspielern zu sprechen, mit dem Regisseur, den Bühnenbildnern und wehe, er kommt ihnen mit nachgebetetem Dramaturgengerede, akademischem Neusprech. Er muss etwas von einem Praktikus haben. Goethe hat das Wort einmal gebraucht. Er meint, einen praktischen Sinn muss er haben, das praktische Wissen kann sich der Dramaturg aneignen. Nicht auf der Universität, nicht im Schnellkurs.» Erwartete er jetzt eine Reaktion? Eine Frage. Ich nickte abermals.

«Ein Dramaturg hat eine große Verantwortung. Wie der Schauspieler. Vom Schauspieler hängt das Gelingen des Theaterabends ab. Vom Dramaturgen hängt das Gelingen aller Theaterabende ab. Die Hauptsache ist, zwischen der großen Idee und der kleinsten Geste, der Betonung des entscheidenden Worts auf der Bühne einen Zusammenhang herzustellen, einen Zusammenhang, der für alle spürbar wird. Je länger ich am Theater bin, desto deutlicher weiß ich auch, dass die Verbindung von Bühne zu den Zuschauern elementarist. Für diese Verbindung trägt gerade der Dramaturg eine große Verantwortung. Wer sich davor drückt, ist als Dramaturg fehl am Platz, der soll Privatlehrer werden. Ein Dramaturg darf keine Angst haben. Auf dem Theater ist alles möglich, insofern ist auch für einen Dramaturgen alles möglich. Er kann sogar Stücke erfinden, wenn er ein Stück zu einem bestimmten Ereignis oder wichtigem Thema haben will. Er mag es unverzagt versuchen.»

Wenn da das Postdramatische nicht lauerte. Also los zur Feedbackschleife:  «Das Publikum verzeiht Schwächen oder Fehler, nicht aber Hochstapelei und Betrug. Das Publikum ernst zu nehmen, konnte ich deswegen leicht lernen, weil ich mich immer als Zuschauer gesehen habe, auch heute noch. Habe ich in meiner Theaterjugendzeit noch begierig Kritiken studiert, so erlebe ich heute die eklatante Diskrepanz zwischen der Theaterkritik und der Theaterrealität. Ärgerlich finde ich es obendrein, wenn dies geschichtslos passiert, das heißt ohne Wissen um ein Stück und dessen Aufführungsgeschichte. Gewiss, eine Theateraufführung wirkt nur im Augenblick und doch wirkt sie auch nach. Jede Theateraufführung steht in einem Kontext, lebt aus einem Kontext und schafft diesen Kontext immer wieder neu. Zumindest in genuinen Theaterstädten wie Wien oder München, sogar Berlin, denn dort herrscht eine andere Zeitrechnung, dort entstehen geradezu Sagenwelten des Theaters durch Schauspieler und legendäre Aufführungen. An Orten, wo das Theater noch solch eine Wirkung zu erreichen vermag, tritt es, Strecker, wundersamerweise an die Stelle von Religion: Es verwandelt den Menschen. Im Grunde ist Dramaturgie und die Arbeit des Dramaturgen tatsächlich eine verwandelnde Tätigkeit. Nämlich die Verwandlung des Wortes in die emotional erlebbare Fleischwerdung auf der Bühne. Von der Klugheit der Schauspieler, den Verkörperungen des Wortes, kann ein Dramaturg unendlich viel lernen. Sie denken nicht nach, sie spielen und denken im Spiel. Wenn das Theater als eine künstlerische Institution zur Seele einer Stadt oder gar als Nationaltheater zur Identität eines Landes gehört, dann ist es die Aufgabe des Dramaturgen, diese Zusammenhänge zu ergründen und für die Gegenwart neu zu definieren. Der Dramaturg ist Hüter und ständiger Neugründer seines Theaters. ‘Wenn das Haus durchsichtig wird, gehören die Sterne mit zum Fest’, so definierte einmal Hugo von Hofmannsthal das Theater. Etwas vom Sterngucker mag der Dramaturg haben. Aber der verschrobene Hinterstubenhocker und in seinen Büchern ertrinkende mausgraue Dramaturgen-Existenz, die nichts zu sagen hat, ist längst Vergangenheit. Er wurde vom Produktionsdramaturgen ersetzt, ein Spezial-Experte fürs Spezielle im Inszenierungsteam. Fehl am Platz, wenn er nur als Rechtfertigungsgehilfe fungiert, inspirierend und wichtig, wenn er kritische Impulse zu geben vermag. Im rechten Augenblick die Notbremse ziehen können, ohne den Zug zum Entgleisen zu bringen. Auch um diese Funktion darf sich ein Dramaturg nicht drücken.» Aha. Und: «Was aber ist nun tatsächlich der Antrieb, dies alles tagtäglich auszuhalten? Selbst die vollendetste Aufführung wird zur Chimäre, denn nach der letzten Vorstellung ist sie verschwunden. Vielleicht ist es die kindliche Hoffnung, dass doch etwas bleibt, dass doch etwas weiterwirkt und den Menschen verändert, verwandelt. Stellen wir uns vor, wie es Max Frisch bei seiner Frankfurter Rede zur Eröffnung der Dramaturgentagung als erhellendes Gedankenspiel getan hat, stellen wir uns einmal vor, Strecker, alle Theater blieben nach der Sommerpause geschlossen. Sehr bald würden wir uns sagen: in unseren Städten kein Ort der Wahrheit, kein Ort der Selbstvergewisserung, kein Ort der Zukunftsvision, kein Ort des allgemeinen öffentlichen Gelächters über jene, die die Macht haben, kein Ort, um in die Herzen der Menschen zu sehen, kein Ort der Erschütterung, kein Ort des geistigen Aufruhrs, kein Ort, um Humanität im Spiel durch Spiel zu erfahren. Kein Ort, wo niemand Angst haben muss, weil alles Spiel ist. Eine theaterlose, eine schreckliche Welt. Eine trostlose Zeit. All das droht uns ohne Theater. Gegen eine solche Trostlosigkeit kämpft zusammen mit Schauspielern und all seinen Künstlerkollegen auch der Dramaturg. Als Theateridealist wird er das tun, als Theaterzyniker wäre es ihm absolut gleichgültig. Theaterzyniker sind Theaterzerstörer. Allein meine ersten Begegnungen am Theater lehrten mich, wie grandios verschieden Theater sein kann und wie sehr eine doktrinäre ästhetische Ausrichtung der Vitalität des Theaters schadet. Nicht von einem Stil, sondern von der Vielfalt der Formen und Fantasien lebt das Theater.» Schön hat er das gesagt und er guckt so ins Weite als hätte er an seinem eigenen Stuhl gesägt.

Axt griff wieder zu seiner Zeitung. «Sehen Sie Strecker, hier der Artikel. Ich muss sie ja leider alle lesen.» Er zieht die Oberlippe hoch. «Ich brauche sie aber nicht auszuschneiden. Jede Zeitung, jedes Papier hat eine Reissrichtung. So muss ich nur der Reisrichtung folgen,» er nahm die Zeitung mit der Linken und machte einmal ‘Ratsch’, «und schon habe ich den Artikel sauber ausgetrennt.» Das war seine letzte Lektion. «Melden Sie sich gerne wieder, Strecker.» Ich grüsste zurück und ging raus aus der Intendanz dann links und hinunter.

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Alle mal mitmachen! Die documenta 15, das Lumbung und die Kollaborativen

Das documenta fifteen-lumbung-Prinzip genauer betrachtet. Annahmen und Beobachtungen zu kollaborativen Kunstproduktionen.

Von Max Glauner

d15 – Foto: Max Glauner

I. Einleitung. Lumbung und das documenta-Woodstock-Potential

So hatte sich Kassel das vorgestellt: 100 Tage Festival der zeitgenössischen Kunst. Der globale Süden zu Gast an der Fulda fern von Markt- und Messehype: Documenta-Woodstock in Hessen. Das Zauberwort dafür, Lumbung. Das indonesische Wort für Reisscheune. Es steht für die Grundsätze der neunköpfigen Kurator*innengemeinschaft der documenta fifteen ruangrupa, eine gerechte Ökologie der Kollektivität und nachhaltigen Ressourcenwirtschaft unter dem Stern einer vernetzten ästhetisch-politischen, mithin künstlerischen Praxis. Doch der Start missriet. Das nach dem Abzug des Pressetross am Eröffnungstag gehisste Banner der indonesischen Gruppe Taring Padi [S. 106] bediente nach antizionistischen Misstönen im Vorfeld antisemitische Stereotype. Sein Abriss war vorprogrammiert, der folgende Ärger absehbar. Die documenta fifteen hatte ihren Skandal, doch ein Minus-Image sondergleichen, von dem sie sich nicht mehr so leicht erholen wird, dem guten Willen neue kunstgetriebene Ökologien aufzuzeigen zum Trotz. Der Künstler*innenzusammenschluss Fondation Festival sur le Niger aus Mali zum Beispiel kennt keine Gattungsgrenzen. Collagen, Skulpturen, Workshops für ihre Gäste gehören zu ihrer human verankerten Praxis ebenso wie ausdrucksstarke Marionetten oder Musik und Tanz. Da machen wir gerne mit. [S. 262]

Doch was heißt Beteiligung, Partizipation, Teilhabe am produktiven und nicht zuletzt gesellschaftlichen Prozess? Intern war ein gewisses Mass an Begegnung und Austausch garantiert. Ruangrupa engagierte 14 Lumbung Member-Gruppen, die ihrerseits Gruppen und Künstlerinnen einluden und diese wieder andere. Inzwischen sollen es 1’500 Teilnehmer*innen sein. Doch wie stand es um die Teilhabe der Besucher*innen?

Wer die Einführungstexte der Handouts genauer las, vermisste Begriffe wie «Teilnehmende» oder «Publikum», erstrecht «Zuschauer*in» oder «Betrachter*in». War jede, jeder mit dem Kauf eines Tickets Teil der Lumbung-Gemeinschaft? War frau/man damit jeder Übersetzungsleistung, Anschlussfrage, Kontextualisierung enthoben, sprich, in der kollektiven Kunstblase, beziehungsweise in der transglobalen Kuschelaue angekommen?

Ich möchte ein Angebot machen. Sehen wir uns an, was Teilhabe, Partizipation im Kunstkontext bedeuten kann. Für die Künstler*innen und jene, die an ihrer Arbeit teilhaben möchten.

Installationsansicht, Nino Bulling – d15, Foto: Max Glauner

II. Nino Bulling, der Kunst-Welt-No-Name oder von Gemeinschaft, Gesellschaft, Zusammenschluss und Kollektiv

Licht flutet weich, freundlich von oben aus den Sheddachfenstern. Darunter hängen an roten Gestängen rechtwinklig weisse Seidentücher, auf denen der Berliner Künstler Nino Bulling mit betörend sicherem Pinselstrich eine schnell gezeichnete Serie von Szenen der Zweisamkeit zwischen intimer Nähe und Distanz, Selbstfindung und Verlorenheit geschaffen hat. Traumwandelnd gelingt ihm ein Raum zwischen Ruhe und vibrierender Spannung, die uns in unserem Selbstverständnis verunsichert, definitiv der oder jene zu sein. Nino Bulling 1987 in Berlin als Mädchen geboren, in Halle ausgebildet, Comiczeichner und Autor kennt diese Verunsicherung aus eigener Erfahrung und bringt sie hier in Bilder, die wir von Stoffbahn zu Stoffbahn in Narrative übersetzen.

Am ersten Pressetag sitzt Nino Bulling in seiner Installation in der Industriehalle Hafenstrasse 76 im Ostteil Kassels und beobachtet sein Publikum. «Sie fotografieren fast alle aus dem gleichen Winkel», stellt der Knabenhafte mit Kurzhaarschnitt und Flaum auf der Oberlippe verschmitzt fest. Der mit der documenta fifteen angesagte Paradigmenwechsel weg von der oder dem angesagten Ausnahme-Artisten, hin zum Kollektiv, das mit künstlerischen Mitteln in einer Gemeinschaft mit und für sie in die Gesellschaft hineinwirkt, ist bei Bullings Arbeit nicht abzulesen.

War es seine Biografie, die ihm zur Einladung nach Kassel verhalf? Der Indi-Comiczeichner, Kunst-Welt-No-Name ein willkommener Störfaktor im documenta-Kanon? Mag sein. Die Antwort liegt mehr in Bullings sozialer Haltung. Gemeinschaft zählt für ihn mehr als Künstler-Ego. Damit war er nach dem Documenta-Fifteen-Lumbung-Reisscheunen-Kooperations-Prinzip, das für gemeinsames Haushalten und füreinander Einstehen steht, als Teilnehmer prädestiniert. Den Verkaufserlös seines documenta-Comic-Book «abfackeln», in der englischen Version «firebugs», (2022) wird er mit seiner Berliner Ateliergemeinschaft in einer Finanz-Kooperative teilen. Zur documenta hat er die libanesische Gruppe Samandal eingeladen, um mit der queeren Truppe eine Anthologie zu produzieren. Und er möchte das Forum dazu nutzen eine Comiczeichner*innen-Gewerkschaft zu gründen.

Nino Bulling gehört damit zum Dirty Dozen Künstler*innen, die im Katalog der documenta fifteen unter ihrem Namen und nicht als Teil eines Kollektivs firmieren. Bekannte Teilnehmer*innen wie Hito Steyerl, mit zwei grossen Installationen vertreten, und Tania Bruguera als Kopf der kubanischen Gruppe Instituto de Artivismo Hannah Arendt sind nicht dabei. Sie fügen sich prima inter pares in ihre Künstler*innengemeinschaften.

Mulmig wird es Bulling, als wir feststellen, dass auf seinem Saalzettel zwar sein Name, aber weder die Materialangaben seiner Arbeit noch, wie mit den Kurator*innen verabredet, die Namen seiner Mitstreiter*innen genannt werden. Ein Versäumnis, das nicht nur dem Berliner Künstler widerfahren ist. Im Gegensatz zum Hollywood-Kino, das nach langen Kämpfen durchgesetzt hat, dass jede*r an der Produktion Beteiligte im Abspann genannt werden muss, ist das Bewusstsein dafür im Kunstbetrieb nur mässig entwickelt. Für eine documenta, die Gemeinschaftlichkeit als Produktionsprinzip der Kunst auf die Fahnen schreibt, ist dieser Umstand schwer verzeihlich. Mit Bulling kann man nur sagen: Face it, change it!

d15 – Foto: Max Glauner

III. Lumbung oder von Partizipation, Kooperation und Kollaboration

Der Ruf, die Kunst möge die gefallene Menschheit weiser machen, beglücken und erlösen, ist so alt wie ihr Begriff, der sich mit der Aufklärung im 18.-Jahrhundert formierte. Josef Beuys’ Schlagwort von der «Sozialen Plastik» ist ein schöner Nachhall darauf. So nimmt es nicht für Wunder, dass sich das indonesische Künstler-Aktivist*innen Kollektiv Taring Padi für das Tableau «People’s Justice» (2002) die Ikonologie eines christlichen Weltgerichts zu eigen macht. Antisemitische Stereotypen inklusive. In einem Haufen Schädel, beschriftet mit Stätten des Kriegs und Leids, fehlten Auschwitz, Sobibor, Treblinka. Der Banner aus der Post-Suharto-Diktatur wurde wie in den Feuilletons sattsam diskutiert, wenige Tage nach seiner Kassler Veröffentlichung am prominenten Friedrichsplatz verhüllt, dann abgebaut. Die hunderten karnevalesken Pappfiguren mit Tragestäben darum herum in den Boden gerammt, abgeräumt. Solche Figuren wurden in Demonstrationszügen in Yogyakarta 1998 als Ausdruck des Protests getragen. Taring Padi dachte an ein Reenactment: Die Kassler Bevölkerung sollte mit ihnen als bunte Masse social media-tauglich durch die Innenstadt marschieren. Daraus wird nun nichts.

Die Eindrücke der vier d15-Priview-Tage von Bulling bis Taring Padi sind disparat, für das Publikum schwer einzuordnen. Die documenta fifteen steht zunächst für Kunst, die sich nicht mehr um schöne, anregende mithin fetischisierte Objekte kümmert, sondern primär um einen Prozess als Vorgang der gemeinsamen Ermächtigung aus und mit einer Gemeinschaft in die Gesellschaft hinein. Der mediale Hype um den Antisemitismus-Verdacht des d15-Kuratorenteams erklärt sich neben der organisatorisch-kuratorischen Präpotenz auch durch den Umstand, dass den Feuilletons die Zeit und die Kriterien und Qualitätsmassstäbe für prozesshafte, performative Kunst, dazu noch aus dem globalen Süden fehlen. Diese drehen sich um die Begriffe künstlerische (Produktions-)Gemeinschaft, Partizipation und Verantwortung.

Wir schlugen in Band 240 von Kunstforum International vor, den Begriff der Teilhabe an Kunst, von zeitbezogenen Live-Akts bis hin zur Produktion von Kunstwerken in drei Modi zu differenzieren: Partizipation als Interaktion, Partizipation als Kooperation und als Kollaboration. Begriffshuberei? Wir sehen darin ein sinnvolles Angebot. Der von der Kurator:innen Ruangrupa eingebrachte Term «Lumbung, Reisscheune» für eine geteilte, gemeinschaftliche Kunstproduktion, deckt sich in weiten Teilen mit den vorgeschlagenen Begriffen. Sie lenken unterschiedliche Perspektiven, Schlaglichter auf Vorgänge, Performanzen, die die strikte Trennung von Betrachter-und Macher:in, Publikum und Künstler:in wenn nicht aufheben, so doch in Frage stellen. Ein Grundprinzip der documenta15. Die Fülle, dessen, was in Kassel zu erfahren ist, wäre damit leichter zu differenzieren und nicht zuletzt intensiver zu erleben.

d15 – Foto: Max Glauner

IV. Lumbung oder von Partizipation als Interaktion

Noch einmal zurück zum indonesischen Kollektiv Taring Padi. Durch seinen aktivistischen Hintergrund der Anti-Suharto-Bewegung und sicher auch durch die persönlichen Beziehungen zu den Kurator:innen, auch wenn es nicht zum Inner Circle der Ruangrupa nachgestellten 14 Lumbung Member-Gruppen gehört, ist es an mehreren Standorten der documenta fifteen prominent vertreten. Es steht damit phänotypisch für das Konzept der documenta fifteen. Im und vor dem umgewidmeten modernistischen Hallenbad Ost kann es sich ausbreiten, zeigt grossformatige Banner in einer propagandistisch-expressiven, figurativen Bildsprache und groteske Pappfiguren aus Protestzügen. Die formale Ausführung erstaunt in ihrer stilistischen Einheitlichkeit. Es mögen viele Hände kooperativ daran mitgewirkt haben. Der Kunstwille aber ist klar gerichtet, individuelle Form kein Thema. Eine künstlerische Kollaboration, ein Kollaborativ, in dem Individuen hervortreten, ist nicht sichtbar.

Anders als beim haitianischen Kollektiv Atis Rezistans in der weiten Halle der St. Kunigundiskirche etwas weiter südlich im Kassler Vorort Bettenhausen, sie zeigen überwiegend Skulpturen, die durch Umrunden zu erschliessen sind, stehen wir bei Taring Padi einer musealen Inszenierung gegenüber, die die ausgestellten Malereinen zu opaken Ikonostasen aufmauern. Wir sind im besten Fall einfühlende Betrachter. Entgegen der Intention von Partizipation keine Spur. Diese sollte mit der Kassler Bevölkerung seiner Inhalte entleert als Reenactment durch den Pappfigurenumzug in der Stadt hergestellt werden. Der interaktive Programmpunkt ist nun gestrichen.

d15 – Foto: Max Glauner

V. Lumbung oder von der Partizipation als Kooperation

Die Kasseler Angebote an interaktiver Teilhabe sind gross. Sie reichen vom Ausziehen des Schuhwerks um über Landkarten zu Laufen (Instituto de Artivismo), Abgreifen von Druckerzeugnissen (lumbung Press) einer Half Pipe zum Skaten (Baan Noorg Collaborative) über das Passieren von Transiträumen (Wajakuu Art Project), alle in der documenta-Halle) bis hin zum Teetrinken im Beduinenzelt mit Livemusik und direkten Kontaktmöglichkeiten zu den Künstler*innenn (Fondation Festival sur Niger, Hübner Areal)).

Partizipation auf der kooperativen Ebene wird dem Publikum demonstrativ im Mutterbau der documenta, dem Fridericianum, angeboten, Werkstätten, Ateliers für die kleinen documenta-Besucher im Erdgeschoss. Mitmachkunst für die Älteren findet auf pädagogischer Distanz statt. In den oberen Geschossen signalisieren im Kreis aufgestellte Hocker, Tische, Stühle, Schaubilder und Wandtexte Werkstattatmosphäre, Begegnungs- und Gesprächsoptionen mit den ausstellenden Künstler*innen. Kurz gesagt: Für das erwachsene Publikum findet die partizipative Kooperation weitgehend auf der edukativen Ebene statt.

Kooperation gelingt allerdings auf Produzentenseite nicht immer lumbung-paritätisch. Aus der Kooperative behauptet sich nicht selten ein solitärer Kunstwille, der der Truppe den Stempel aufdrückt, wie bei dem transafrikanischen Netzwerk Another Roadmap Africa Cluster (ARAC, 1. OG Fridericianum). Das Konzept und die Umsetzung stammen hinter einem schön designten Vorhang visualisiert, von dem Künstler und Autor Christian Nyampeta, der sich eine reeducation aus afrikanischer Sicht auf die Fahnen geschrieben hat.

Oder Wakaliga Uganda. Im hinteren Ende der documenta-Halle untergebracht, führt das Filmkollektiv einen Indi-Splatter-Reisser aus den Squatters Kampalas auf. Die fröhliche Appropriation von Hollywood- und Hong-Kong-Kino ist vergnüglich, sorgt aber früh für Ennui, da die regulativen Bezugsgrössen wie die auch hier praktizierte Ausbeutung von Darstellern und Resoucen allzu durchsichtig sind.

Was weist darüber hinaus? Singen. Es ist Ausdruck von Selbstermächtigung, Stimme als Leben und im Verein, von Gemeinsamkeit. Es gab wohl keine documenta, in der in Video und Audios so viel gesungen wurde (schöne Beispiele, die Installation der südafrikanischen Gruppe MADEYOULOOK im Hotel Hessenland und die Videoarbeiten Asit (2022) von Pınar Öğrenci im Hessischen Landesmuseum und Lonely Trees (2018) des syrisch-kurdischen Kollektivs Komîna Fîlm a Rojava im 2. Obergeschoss des Fridericianums). Kollaborativ: Wir summen mit.

d15 – Foto: Max Glauner

VI. Lumbung oder von der Partizipation als Kollaboration

Kooperation und Kollaboration werden von den Veranstaltern synomym behandelt. Wenn es sich um gemeinsame künstlerische Tätigkeit handelt, lohnt es sich diese Begriffe zu trennen. Kooperationen finden sich überall, wo zum Zustandekommen eines Werks oder einer Aufführung mehr als eine Person nötig ist und zielorientiert ausgemacht werden muss, wer was tut. In der Kollaboration geht das beteiligte Subjekt jedoch nicht auf, geschweige denn unter. Es bleibt als Individuum mit seiner Spur sichtbar, das Werk trägt zu seiner Indviduation, seiner Sichtbarkeit bei. In der künstlerischen Zusammenarbeit sind daher nicht Kollaborationen, sondern Kollaborative am Werk, in denen die Beteiligten als Subjekte, als Ermächtigte und Unterworfene erscheinen. Hier liegt das Geheimnis der Kunst.

Beispiele dafür gibt es in Kassel allerdings wenige. Herausragend, die verstörend-schöne Licht-Klang-Installation der 1973 in Hanoi geborenen Künstlerin Thi Trinh Nguyen im historischen Rondell an der Fulda. Sie kollaboriert mit den Klimaverhältnissen ihrer Heimat. Via Internet überträgt sie die Winde im entfernten Vietnam aus einem ehemaligen Internierungslager des Vietkong. In der dunklen Kuppelhalle des historischen Mauerwerks bringen sie Bambusrohre zum Klingen und werfen ein zauberhaftes Schattenspiel der unter der kreisrunden Besucherplattform befestigten Chili-Sträucher an die schrundigen Wände. Ihr Kollaborativ gilt den Winden und ihren Tönen, dem Ort und seinen Geschichten. Allein der Gang dorthin lohnt einen Besuch in Kassel.

Der Text erschien zuerst in Kunstforum International 2022

d15 – Foto: Max Glauner

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Jose Dávila – Spanngurtenkunst im Haus Konstruktiv Zürich

Künstlerische Materialbeherrschung ist schon lange nicht mehr allein an die ausgewogene Form gebunden. Sie gleicht eher einem Experimentierfeld, in welchem die Belastbarkeit des Materials ausgelotet wird. Ein Meister dieser Disziplin ist im Haus Konstruktiv zu entdecken, der Mexikaner Jose Dávila.

Jose Dávila, Installationsansich Haus Konstruktiv, 2022, Foto: Max Glauner

Zürich — Das verblüfft: Wie Stämme eines abgestorbenen Wäldchens ragen dunkle Doppel-T-Träger aufrecht in die Höhe des lichten Saals im Erdgeschoss des Haus Konstruktiv. Zählten wir nach, kämen wir auf einundzwanzig. Sie sind unterschiedlich hoch, die höchsten an die vier Meter. Damit die Stelen so stehen können, wir ahnen, dass sie nicht am Boden fixiert sind, hat sich ihr Schöpfer Jose Dávila einen Trick einfallen lassen. Jeder Stahlstumpf ist am Ende durch eine Trosse über die Decke mit einem wackeren Granitbrocken verbunden. Dieser hält seinen Widerpart in der Vertikalen. ‹The Act of Being Together› heisst die eigens für diesen Ort geschaffene Arbeit.

Jose Dávila (*1974) ist kein ausgebildeter Künstler, sondern Architekt. Zur Kunst kam er durch Neugier. Wohl darum scheren sich seine Arbeiten kaum um klassische Parameter der Skulptur. Seine Arbeiten gleichen Versuchsanordnungen. Sie loten die Grenzen der Gravitation aus. Statik interessiert den Künstler nur, insofern er das Material dynamisieren kann. So erinnern viele seiner Arbeiten an Richard Serra, die Arte Povera oder auch Arbeiten einer Virginia Overton. Ein Mittel des Künstlers, um die Skulptur «schneller» zu machen: der Spanngurt.

Jose Dávila in seiner Installation im Haus Konstruktiv, 2022, Foto: Max Glauner

Damit werden Scheiben zu Licht-Bildflächen in der Diagonale gehalten (‹Shadows I und II›, 2022), Benzintonnen im Winkel an die Wand gespannt (‹The Rope Some­times Bursts›, 2022) oder ein Stahlreifen an den Sockel geknebelt, und das lange Knebelende darf noch eine Arabeske auf dem Boden vollführen (‹The Act of Perseverance›, 2022). Überzeugender ist da die Arbeit ‹Will has moved mountains›, 2020. Das ist skulpturale Spanngurtequilibristik zum Staunen und im Zwischengeschoss gelungen mit der fünfteiligen Farbfeldmalerei ‹Memory of a Telluric Movement›, 2020, an der Stirnwand kombiniert. Auf einem Podest hält ein sicher fünfzig Meter langes schwarzes Band hintereinander vier leicht gekippte Spiegelwände. Band und Spiegel wiederum werden durch schwere Gegenstände, Steine, Kuben, Holzquader gerade so gehalten, dass sie uns nicht entgegenkippen können. Hier beginnt ein faszinierendes Spiel im Auge der Betrachtenden: Die Spiegel erweitern den Raum und entziehen ihn zugleich. Wir sehen uns, aber nichts ist dahinter, und wir halten uns an den Gurten, den Gegenständen, die sich nun magisch zu heben, senken und zu stürzen scheinen. Das ist an Dramatik kaum zu überbieten. Nichts wie hin! 

Zuerst veröffentlicht in Kunst Bulletin 7-8/2022

Jose Dávila, Installationsansich Haus Konstruktiv, 2022, Foto: Max Glauner

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Kuschelkissenkunst. Performative Formate auf der 59. Venedig Biennale 2022

Gegen die konservativen Tendenzen der Hauptausstellung The Milk of Dreams der diesjährigen Venedig Biennale setzten sich in den Länderpavillons zunehmend Aufführungsformate durch – vor allem solche, in denen das Publikum aktiv gefordert ist. Ein Augenschein.

Frau auf Podest. Die 59. Venedig Biennale-Kuratorin Cecilia Alemani beim Fotoshooting, Foto: Max Glauner

Der Knaller der diesjährigen Venedig Biennale liegt weit außerhalb. Nicht in der Hauptausstellung, nicht in den Arsenale, nicht in den Giardini, sondern im abseitigen Stadtquartier Cannaregio, in der profanierten Kirche Chiesa Maria della Misericordia. Die Niederländer haben sie angemietet, ihren Pavillon in den Giardini Estland überlassen, um der Künstlerin und LGBTQ+-Aktivistin Melanie Bonajo mit ihrer Installation „When the body says Yes“ einen angemessenen Raum zu bieten.

Doch sehen wir uns zunächst an anderer Stelle um. Denn die Konkurrenz ist groß. Der Besuch auf der Venedig Biennale mehr denn je wert. Das liegt an einem Widerspruch. Dieser erwächst aus dem immer noch virulenten Gegensatz zwischen den, wenn man so will, klassischen Bildenden und den Perfomativen Künsten, also Aufführungsformaten, Live-Acts und begehbare Bühnenräume, in denen das Publikum als beobachtende Darsteller:in aufgerufen wird. Seit 2015 gehören diese Formate zum festen Bestandteil der Venedig Biennale. Ihr damaliger Kurator Okwui Enwezor richtete in der Hauptausstellung eine große Bühne für Darbietungen aller Art ein. Die Grande Dame der Performancekunst Joan Jonas erhielt für ihren Auftritt im amerikanischen Pavillon eine Auszeichnung ebenso wie die Künstlerin und Aktivistin Adrien Piper für die partizipative Performance The Probable Trust Registry. Die Biennale 2017 feierte Anne Imhofs Dauerperformance Faust,und das theatralische Tableau vivant The Sun and the Sea des litauischen Pavillons erhielt zwei Jahre später einen Goldenen Löwen. Das post-performative Zeitalter war angebrochen.

Doch so sehr sich die raum- und zeitbezogenen Künste, Bild und Bewegung, Atelier, Bühne, Galerie und Theater in den letzten Jahrzehnten aufeinander zubewegt haben, so sehr sind ihre Gegensätze und im besten Fall produktive Spannungen weiter zu spüren – in Venedig 2022 allemal.

In der Hauptausstellung der Giardini und den Arsenale The Milk of Dreams reibt man sich jedoch zunächst die Augen. Wo bleibt die Performance? Deren Kuratorin Cecilia Alemani streicht zwar in ihrem offiziellen Statement heraus, dass «die Darstellung von Körpern und deren Metamorphosen», Core Business der Performativen Künste, von zentraler Bedeutung sei. Die Tänzerinnen Mary Wigman (1886-1973) und Josephine Baker (1906-1975) werden in Filmdokumenten auf mit exotischen Tänzen präsentiert. In den Arsenalen sind die wunderbar grotesken Figurinen der Choreografin Lavinia Schulz (1896-1924) und ihres Kollegen Walter Holdt (1899-1924) zu sehen. Schulz beging in Hamburg Selbstmord, nachdem sie ihren Lebensgefährten Holdt erschossen hatte. Ihre Kostüme wurden durch Zufall wiedergefunden und hier zum ersten Mal einer internationalen Öffentlichkeit gezeigt. Atemberaubend und verlockend die Idee, sie in einer Aufführung zu sehen. Nun nehmen sich wie Feigenblätter aus. Aktuelle Aufführungsformate? Dazu muss man im Zentralen Pavillon ganz nach hinten gehen.

In dem grosszügigen Oberlichtsaal ist die 1947 geborene U.S.-amerikanische Meisterin der Appropation Art Louise Lawler mit ihrer grossformatigen Fotoserie No Exit, 2022,zu sehen. Sie bereitet die Bühne für die Aufführung Encyclopedia of Relations, 2022, der rumänischen Choreografin und Performance-Künstlerin Alexandra Pirici, Jahrgang 1982. Ihre Performer fallen den Besucher:innen zunächst kaum auf. Man sieht sie müßig schlendernd oder interessiert vor den Bildern der amerikanischen Künstlerin stehen, angenehme junge Zeitgenossen unter vielen. Nach einigen Minuten lösen sich die vier Performerinnen und die zwei Performer aus dem Besucherstrom und formieren sich vor der weißen Eingangswand. Wer weder Katalog noch Saalzettel konsultiert hatte, wird jetzt irritiert sein. Die sechs gruppieren sich zu einer triumphalen Pyramide. Die beiden Männer schultern eine junge Frau, eine zweite kniet daneben, die dritte robbt am Boden, die vierte vollführt ihr Artistenkompliment, während die ganze Truppe, Skulptur in Bewegung, langsam und anmutig nach vorne schreitet. Darauf verteilen sie sich im Raum und nehmen den Ruf und den verhaltenen Tanz einer Mitspielerin aus dem Chor heraus in kurzen, abstrusen Bewegungen und Lauten im Echo auf. Als Abschusstableau vor ihrem Abtritt verharren sie in der Mitte des Saals. Wer hier an Rodins Figurengruppe Die Bürger von Calais (1885) denkt, liegt nicht falsch.

Louise Lawler und Alexandra Pirici, eine geglückte, ja beglückende Begegnung. Denn Lawler bereitet der Jüngeren nicht nur eine Bühne, sondern liefert auch eine konzeptuelle Vorlage. Seit ihren Anfängen setzt sich Lawler fotografisch auch hier in Venedig mit dunklen Fotos aus einer Donald Judd-Retrospektive des MoMa mit dem Status des Kunstwerks als kontextgebundenen mithin fetischisierten Objekts auseinander. Alexandra Pirici führt mit ihrer Aufführungdie Institutionskritik und Anfragen an künstlerische Machsetzungen im Performativen fort. Bereits 2013 vertrat sie mit ihrem Kollegen Manuel Pelmuș ihr Heimatlandauf der 55. Venedig Biennale. Die Arbeit An Immaterial Retrospective stellte im ansonsten leeren Pavillon berühmte Skulpturen der Venedig-Vergangenheit mit großem Unterhaltungswert performativ nach, Joseph Beuys Straßenbahnhaltestelle (1976)zum Beispiel. Nach Auftritten bei der 6. Berlin Biennale 2016 und Skulptur Projekte Münster 2017 lud Pirici das Art Basel-Publikum 2019 zum gemeinschaftlichen Entspannungstraining in einen aufblasbaren Pavillon auf dem Messeplatz. Formierung einer kritischen Masse oder soziale Skulptur? Die Antwort darauf bleibt unausgemacht. Sie dürfen als unaufgeregt diskrete Gesten gelten, Einladungen, Beziehungsmuster zu erleben und neu zu gestalten, mehr durch Körper, Bewegung und Begegnung als kopfgesteuert. Damals wie heute ging es darum, groß gedachte Kunst vom Sockel zu holen, gestanzte Körper-Bilder neu zu formatieren. Oder gleich die als atavistisch und post-koloniale Überbleibsel kritisierten Länderpavillons.

Kroatien macht es vor. Es verzichtet auf einen Pavillon und setzt radikal einen KI-gesteuerten auf situationistischen Akionismus. Der in den Niederlanden lebende kroatische Künstler Tomo Savić-Gecan hat für Untitled (Croatian Pavilion) eine kleine Truppe Performer:innen zusammengestellt, die täglich, gesteuert durch ein Computerprogram in vier bis fünf Länderpavillons auftauchen, in denen sie diskret eine Aufführung geben. Ein Algorithmus, bestimmt durch 250-Online-Newsticker, gibt Zeit, Ort und Choreographie vor. Top News become top moves. Das ist klug inszeniert. Denn nicht nur, dass die nationale Präsenz unterlaufen wird. Zugleich stellt sich die Frage nach Autonomie, Selbst- und Fremdbestimmtheit nicht nur in der Kunst.

Warum hatte es in Venedig nicht mehr solcher Veranstaltungen gegeben? Sicher war das auch Corona geschuldet. Es muss vorab geprobt werden und die Entwicklung der Pandemie ist schwer vorherzusagen. Zum anderen ist es eine Geldfrage. Darsteller:innen müssen bezahlt werden. Ein Objekt dagegen rechnet sich für die Aussteller. Die oft horrenden Herstellungskosten werden von den Galerist:innen getragen. Will ein Kurator Performatives, ist Partizipation angezeigt. In der aktiven Teilhabe am Kunstwerk werden einfach Besucher:innen zu Akteur:innen. Immersive Bühnenräume haben daher Konjunktur.

Die formale Spannweite ist groß. Sie reicht in der Hauptausstellung von Barbara Krugers Untitled (Beginning/Middle/End), 2022, ein gewaltiger konzeptueller Appell-Raum, in dem ein schwarz-weißes, von Signalrot unterbrochenes All-over von zivilisatorischen Botschaften und post-feministischen Statements auf den Betrachtenden hereinbrich, bis hin zu Marianna Simnetts verstörende Drei-Kanal-Videoinstallation The Severed Tail, 2022. Die 1986 in London geborene und in Berlin beheimatete Video-Installationskünstlerin konfrontiert mit einem Sado-Maso-Club, in dem es den Agierenden in Tierkostümen vor allem um die Exposition und Extraktion von Tierschwänzen geht. Das geht für Viele so lange gut, bis realisiert wird, dass es sich bei der durch die Blackbox gewundene flauschige Sitzgelegenheit um einen abgeschnittenen Monsterrattenschwanz handelt. Auch wenn uns jetzt Ekel ergreift, wir sind nicht mehr teilnahmslos, draußen, sondern selbst wenn wir die Flucht ergreifen, drin und Teil vom Ganzen.

Damit etabliert sich in Venedig neben White Cube und Black Box so etwas wie eine Participating Audience Stage. Das Publikum soll als bewegter, mitfühlender, mitdenkender Akteur herangeholt werden. Damit sind wir wieder in der Chiesa Maria della Misericordia.Jenseits der lauten Aufmerksamkeitsökonomien gelingt dort der 1978 geborenen queeren Künstlerin Melanie Bonajo eine berührende und überzeugende Plattform, monumental und diskret zugleich.

Der Länderbeitrag ist dort mit Bedacht ausgewählt. Hier hatte 2015 Christoph Büchel für Island mit The Mosque für wenige Wochen bis zur behördlichen Schließung eine Moschee für die venezianische Islamgemeinschaft etabliert. Bonajos Installation konnte so auch als zaubergleiche über Bande gespielte Kampfansage gelten: Statt Gebetsteppichen nun Kuschelkissen, statt Lüster Schummerdunkel, lange Spinnwebfäden hängen aus der Decke und die Mihrab, die Nische, nach der sich die Gemeinde zum Gebet ausrichtet, ist einer gewaltigen Bildleinwand gewichen, auf der nackte Akteurinnen der LGBTQ+-Community um die Mitte Dreißig sich gegenseitig ihre geölten Körper reiben. Das hatte nichts Aufdringliches, nichts Pornografisches. Dafür sorgten schon die trockenen Erfahrungsberichte zu Körperlichkeit und Sexualität der Teilnehmer:innen unterschiedlicher Kulturkreise aus dem Off. Sie sprechen von Aufmerksamkeit, Geschlechtlichkeit, Begegnung und Berührung jenseits trainierter Sexualität. Die Künstlerin ist so klug, Distanz als Kraft der Kunst zu wahren. Warf man sich bei Büchel zum Gebet gen Mekka, erspart uns Mel Bonajo den letzten partizipativen Schritt zur Mitmachaktion und entlässt uns als potentielle Evangelisten ihrer frohen Botschaft: „Feeling is a form of intelligence, thinking through touch.“ Das ist Kunst, die berührt.

Dieser Text erschien in redaktionell überarbeitet in Freitag, 12. Mai 2022, S.26

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Lange Schatten. Tag- und Nachtseiten eines Kinderspiels

In der Sammlung der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte zu Winterthur wird ein Schattentheater aus Karton mit der Inventarnummer 21891 geführt. Es wurde um die Jahrhundertwende 1900 für Kinder in Serie hergestellt – ein frühes Zeugnis medialer Faszination und sozialer Teilhabe. Was erzählt es uns heute?

Schattentheater um 1900, Aufstellbühne, Silhouettenfiguren, Kulissenteile, Kartin, Papier, Metall; Stiftung für Kultur und Geschichte SKKG Winterthur

Unter der Inventarnummer 218921 befindet sich in der Winterthurer Sammlung für Kultur und Geschichte ein «Schattentheater mit beweglichen Figuren» wie es auf dem Schachteldeckel in Rot geschweifter Schrift geschrieben steht. Die dazugehörige Spiele-Schachtel der Berliner Firma Sala ist mit den Jahrzehnten verloren gegangen. Nicht die Verheissung, die von seinem Inhalt ausging. Schon auf dem Schachteldeckel bekommen wir davon eine Ahnung: Versprochen wird grosses Theater im Kleinen, ein kostbares Bühnenportal, Kapelle mit Kapellmeister und eine lustige Begebenheit, in der riesengrosse Schattenrissfiguren auf der Bühne eine Verfolgungsszene mimen. Da ist ein Hund hinter einem mageren Spitzbuben her, der eine Wurst geklaut hat, verfolgt von einem dicken Ordnungshüter mit Tschako und gezücktem Säbel.

Nach Plinius dem Älteren liegt der Ursprung der Bildenden Kunst in der Umrisszeichnung, die das Mädchen Dibutade vom Schatten ihres Liebsten als mnemotechnischen Trick zum Abschied nahm. Damit war die Tür zu einer zweiten Welt geöffnet, die im Schein zwar, doch im Gaukelspiel real erfahrbar, in seinen Höhepunkten selbst noch das Reale zu übertrumpfen vermag, vom Gemälde bis zum Foto, Jahrhunderte Jahre in Spielen, Aufführungsgestellen, dann im Film und TV bis hin zu den Video- und Foto- Inszenierungen der Social-Media-Plattformen unserer Tage.

Was haben Schattentheater und YouTube, Instagram, TikTok über ihren mythischen Ursprung hinaus gemeinsam? Sicher das Leben ihrer Nutzer in einer zweiten Welt. Sicher aber auch die Möglichkeit performativer Teilhabe, des experimentellen Selbstentwurfs, der Selbstermächtigung in dieser. Das spielende Kind lässt die Puppen tanzen. Es macht etwas vor aber lässt sich darin nichts vormachen. Doch die Grenzen sind eng gesteckt. YouTube, Instagram, TikTok bieten wie das Schattentheater im Schein der Freiheit nur kleine Fluchten. Sind es heute Algorithmen, die bestimmen, was wir wollen müssen, bietet das Schattentheater einen kleinen Rahmen, gestanzte Zuschauerlogen rechts und links, in denen wohlgekleidete Infanten sich artig amüsieren. Noch bevor der Vorhang hoch geht und die Umrisse der beigefügten Pappfiguren mittels einer Funzel auf die Leinwand geworfen werden, ist jede Ausgelassenheit im pädagogischen Keim erstickt. Mit welchen Geschichten, Zoten, Spässen mochte dieser Schattenwelt echtes Leben eingehaucht worden sein?

Der Text erschien redaktionell überarbeitet zuerst in Kunst Bulletin Nr. 5/2022

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