Computer Klick und Griffel Gottes. Yves Netzhammers Ausstellung „Die Welt ist schön und so verschieden“ im Kunstmuseum Solothurn

Jede Linie ist ein Strich. Nicht jeder Strich eine Linie. Mit diesen Gleichungen ist das Werk des Schweizer Künstlers Yves Netzhammer zwar nicht in Gänze ausgelotet. Dennoch sind damit sein Ausgangspunkt und Wesenskern benannt.

Die meisten zwischen Bellinzona und Schaffhausen geborenen Künstlerinnen sind den Destillierern zuzurechnen, das heißt jenen beharrlichen, zeitlebens mit einer Sache, mit einem Thema Befassten. Bei Netzhammer, Jahrgang 1970, ist es die Zeichnung als digital am Computer generierte Form. Schon mit dieser Setzung ist der Strich, dem eine individuelle Geste, ein Stilistisches innewohnt, eliminiert. Zudem kennen Netzhammers Figurationen keine Schraffur. Alles Malerische ist getilgt. Das mag spröde und hermetisch anmuten. Netzhammer hat jedoch nach seinem Abschluss an der Zürcher Hochschule für Gestaltung 1995 sein eigensinniges Bild- und Erzählrepertoire ohne falsche Versprechen beeindruckend entfaltet. So vertrat er die Schweiz 2007 auf der Venedig Biennale, hatte Ausstellungen in Zürich, Bern, München und Frankfurt, in Kiew, in Shanghai auch in China, auf Tasmanien und im März im renommierten Utsunomiya Museum of Art nördlich von Tokyo. Das erlaubt ihm den kommerziellen Kunstmarkt zu ignorieren.

Wie in Netzhammers animierten Filmen, in denen sich aus einer Form die nächste ergibt, transformierte sich das Form- und Ausdrucksrepertoire über die Jahre so vielfältig und stark, dass nun mit selbstverständlicher Leichtigkeit die Aufgabe gemeistert werden konnte, die sieben Erdgeschosssäle des Solothurner Kunstmuseums mit gänzlich neuen Arbeiten in einem durchgängigen Narrativ zu füllen, das private Obsessionen, existenzielle und politische Fragestellungen mit ortspezifischen Gegebenheiten klug verknüpft. Netzhammer nimmt Bezug auf den repräsentativen neoklassizistischen Bau des Kunstmuseums auf dem ehemaligen Glacis der katholischen Frontstadt der alten Eidgenossenschaft, ebenso wie auf ihre kriegerische Vergangenheit, die schräg gegenüber mit Panzern, Spießen und Hellebarden im historischen Zeughaus fröhliche Urständ feiert.

Auch bei Yves Netzhammer finden wir die langen Spieße, die Schweizer Reisläufer ab dem 15. Jahrhundert zum militärischen Exportschlager machten. Sie begegnen den Besucherinnen und Besuchern gleich am Anfang und im letzten Raum, einmal als reale Stangen an die Wand gelehnt und zum Schluss zeichenhaft in einem apokalyptischen Panorama.

Für Netzhammer ist es jedoch bezeichnend, dass er sein Publikum zu Beginn der Reise ins Ungefähre, Diffuse schickt. Die ersten zwei Räume sind als Folge der linken Enfilade im Erdgeschoss als Black Boxes konzipiert, während die spiegelbildliche rechte Achse über das Foyer hell und bunt mit einem roten Luftballon an der Wand einen klaren Orientierungspunkt, Halt für das Auge und Abschluss bietet. Wir müssen uns auf der anderen Seite erst einfinden, zurechtfinden in die Zeichenwelt des Künstlers, die uns neben den Stäben, fünf an der Zahl, mit merkwürdigen schwarzen Aufsätzen, Spitzen, Lanzetten, Früchten, in einer großformatigen schwarz-weißen Projektion vom Boden bis zur Decke unterlegt von einem unheimlichen Klangteppich vorgeführt wird. Hier entwickeln sich Linien, gerade, gekrümmt. Sie grenzen ab, definieren ein hier und dort und formen Ornamente, Figuren, Arabesken. Sind es die Lanzen an der Wand, Zeichenstäbe, Griffel Gottes, die hier den Takt angeben? Oder Thyrsosstäbe, die im antiken Griechenland von berauschten Mänaden und Dionysosjüngern geschwungen wurden? Sie kehren in der Neuzeit militärmusikalisch reguliert als Taktstock des Tambourmajors wieder, der dem nachfolgenden Trommlerzug die angemessene Marschbewegung in die Luft malt.

„Blätter sind Fragen der Luft“, lautet das paradoxe Motto dieses Raums. Er leuchtet diskret unter der Decke aus einer abgeklebten Neonröhre. Doch das präsentierte Arrangement aus Stangen und Videoprojektion findet im Titel keine Erklärung. Es reibt sich daran. Es findet Erweiterung. Vom Takt des Tambourmajors zum Veitstanz der Mänaden. Pentheus wird im bacchantischen Furor zerrissen. Bei Netzhammer finden sich Körper selten intakt, häufig fragmentiert, zerstückelt mit blutenden Wunden.

Eine durcherzählte Geschichte ist daher in Netzhammers Parcours nicht zu erwarten, vielmehr ein vielstimmiger Bocksgesang auf die Abgründe menschlicher Existenz. Aber auch auf naive Freuden und kindliche Lust, die er mit spielerischem Eigensinn in Szene zu setzen weiß. Gleich der zweite Saal entfaltet ein Zaubergarten, „Die Luft ist das Grab der Wurzel“, in dessen Kasten-Beete weiße Ventilatoren schmucke am 3-D-Printer gefräste Räder antreiben, über Ausschnitte in den Wänden mit dem eindringenden Tageslicht analog geheimnisvoll kosmische Sphären gezaubert werden. Wir staunen über die Ballwurfmaschine im vierten Raum mit seinen grotesken Umrissportraits. Man wundert sich über Parade aus Kisten und Paketrollen aus Holz statt aus Pappe im sechsten, die mit kleinen aufgeklebten Zeichnungen wundersame Adressaten aus einer anderen Welt suggerieren und den Betrachter dergestalt ein- und ausschließen wollen.

Coda und Reprise im siebten und letzten Saal mit „Ein Baum ist ein Tier mit Blättern“. Das erste Wort, „Blätter“ ist auch das letzte. Wie die Geste, das Ziehen einer Linie. Sie teilt, sie scheidet und ruft im letzten Saal über alle vier Wände als „Martillo neto Guernica“ überwältigend und verstörend eine apokalyptische Vision auf, die wir wohl kaum ertragen könnten, wenn uns die Welt nicht gleichzeitig durch die Kunst so schön und verschieden vermittelt wäre.

-> www.kunstmuseum-so.ch

Der Artikel erschien zuerst in KUNSTFORUM International Band 295






































-> www.kunstmuseum-so.ch



@font-face<br> {font-family:Helvetica;<br> panose-1:0 0 0 0 0 0 0 0 0 0;<br> mso-font-charset:0;<br> mso-generic-font-family:auto;<br> mso-font-pitch:variable;<br> mso-font-signature:-536870145 1342208091 0 0 415 0;}@font-face<br> {font-family:“Cambria Math“;<br> panose-1:2 4 5 3 5 4 6 3 2 4;<br> mso-font-charset:0;<br> mso-generic-font-family:roman;<br> mso-font-pitch:variable;<br> mso-font-signature:-536870145 1107305727 0 0 415 0;}@font-face<br> {font-family:Aptos;<br> panose-1:2 11 0 4 2 2 2 2 2 4;<br> mso-font-charset:0;<br> mso-generic-font-family:swiss;<br> mso-font-pitch:variable;<br> mso-font-signature:536871559 3 0 0 415 0;}p.MsoNormal, li.MsoNormal, div.MsoNormal<br> {mso-style-unhide:no;<br> mso-style-qformat:yes;<br> mso-style-parent:““;<br> margin:0cm;<br> mso-pagination:widow-orphan;<br> font-size:12.0pt;<br> font-family:“Aptos“,sans-serif;<br> mso-ascii-font-family:Aptos;<br> mso-ascii-theme-font:minor-latin;<br> mso-fareast-font-family:Aptos;<br> mso-fareast-theme-font:minor-latin;<br> mso-hansi-font-family:Aptos;<br> mso-hansi-theme-font:minor-latin;<br> mso-bidi-font-family:“Times New Roman“;<br> mso-bidi-theme-font:minor-bidi;<br> mso-fareast-language:EN-US;}a:link, span.MsoHyperlink<br> {mso-style-priority:99;<br> color:#467886;<br> mso-themecolor:hyperlink;<br> text-decoration:underline;<br> text-underline:single;}a:visited, span.MsoHyperlinkFollowed<br> {mso-style-noshow:yes;<br> mso-style-priority:99;<br> color:#96607D;<br> mso-themecolor:followedhyperlink;<br> text-decoration:underline;<br> text-underline:single;}.MsoChpDefault<br> {mso-style-type:export-only;<br> mso-default-props:yes;<br> mso-ascii-font-family:Aptos;<br> mso-ascii-theme-font:minor-latin;<br> mso-fareast-font-family:Aptos;<br> mso-fareast-theme-font:minor-latin;<br> mso-hansi-font-family:Aptos;<br> mso-hansi-theme-font:minor-latin;<br> mso-bidi-font-family:“Times New Roman“;<br> mso-bidi-theme-font:minor-bidi;<br> mso-font-kerning:0pt;<br> mso-ligatures:none;<br> mso-fareast-language:EN-US;}div.WordSection1<br> {page:WordSection1;}

Jede Linie ist ein Strich. Nicht
jeder Strich eine Linie. Mit diesen Gleichungen ist das Werk des Schweizer
Künstlers Yves Netzhammer zwar nicht in Gänze ausgelotet. Dennoch sind damit
sein Ausgangspunkt und Wesenskern benannt.

Die meisten zwischen Bellinzona
und Schaffhausen geborenen Künstlerinnen sind den Destillierern zuzurechnen,
das heißt jenen beharrlichen, zeitlebens mit einer Sache, mit einem Thema
Befassten. Bei Netzhammer, Jahrgang 1970, ist es die Zeichnung als digital am
Computer generierte Form. Schon mit dieser Setzung ist der Strich, dem eine
individuelle Geste, ein Stilistisches innewohnt, eliminiert. Zudem kennen Netzhammers
Figurationen keine Schraffur. Alles Malerische ist getilgt. Das mag spröde und
hermetisch anmuten. Netzhammer hat jedoch nach seinem Abschluss an der Zürcher
Hochschule für Gestaltung 1995 sein eigensinniges Bild- und Erzählrepertoire
ohne falsche Versprechen beeindruckend entfaltet. So vertrat er die Schweiz
2007 auf der Venedig Biennale, hatte Ausstellungen in Zürich, Bern, München und
Frankfurt, in Kiew, in Shanghai auch in China, auf Tasmanien und im März im renommierten
Utsunomiya Museum of Art nördlich von Tokyo. Das erlaubt ihm den kommerziellen
Kunstmarkt zu ignorieren.

Wie in Netzhammers
animierten Filmen, in denen sich aus einer Form die nächste ergibt,
transformierte sich das Form- und Ausdrucksrepertoire über die Jahre so
vielfältig und stark, dass nun mit selbstverständlicher Leichtigkeit die
Aufgabe gemeistert werden konnte, die sieben Erdgeschosssäle des Solothurner Kunstmuseums
mit gänzlich neuen Arbeiten in einem durchgängigen Narrativ zu füllen, das
private Obsessionen, existenzielle und politische Fragestellungen mit
ortspezifischen Gegebenheiten klug verknüpft. Netzhammer nimmt Bezug auf den repräsentativen
neoklassizistischen Bau des Kunstmuseums auf dem ehemaligen Glacis der
katholischen Frontstadt der alten Eidgenossenschaft, ebenso wie auf ihre
kriegerische Vergangenheit, die schräg gegenüber mit Panzern, Spießen und
Hellebarden im historischen Zeughaus fröhliche Urständ feiert.

Auch bei Yves Netzhammer
finden wir die langen Spieße, die Schweizer Reisläufer ab dem 15. Jahrhundert zum
militärischen Exportschlager machten. Sie begegnen den Besucherinnen und
Besuchern gleich am Anfang und im letzten Raum, einmal als reale Stangen an die
Wand gelehnt und zum Schluss zeichenhaft in einem apokalyptischen Panorama.

Für Netzhammer ist es jedoch
bezeichnend, dass er sein Publikum zu Beginn der Reise ins Ungefähre, Diffuse
schickt. Die ersten zwei Räume sind als Folge der linken Enfilade im
Erdgeschoss als Black Boxes konzipiert, während die spiegelbildliche rechte Achse
über das Foyer hell und bunt mit einem roten Luftballon an der Wand einen
klaren Orientierungspunkt, Halt für das Auge und Abschluss bietet. Wir müssen
uns auf der anderen Seite erst einfinden, zurechtfinden in die Zeichenwelt des
Künstlers, die uns neben den Stäben, fünf an der Zahl, mit merkwürdigen
schwarzen Aufsätzen, Spitzen, Lanzetten, Früchten, in einer großformatigen schwarz-weißen
Projektion vom Boden bis zur Decke unterlegt von einem unheimlichen
Klangteppich vorgeführt wird. Hier entwickeln sich Linien, gerade, gekrümmt.
Sie grenzen ab, definieren ein hier und dort und formen Ornamente, Figuren,
Arabesken. Sind es die Lanzen an der Wand, Zeichenstäbe, Griffel Gottes, die
hier den Takt angeben? Oder Thyrsosstäbe, die im antiken Griechenland von
berauschten Mänaden und Dionysosjüngern geschwungen wurden? Sie kehren in der
Neuzeit militärmusikalisch reguliert als Taktstock des Tambourmajors wieder,
der dem nachfolgenden Trommlerzug die angemessene Marschbewegung in die Luft
malt.

„Blätter sind Fragen der
Luft“, lautet das paradoxe Motto dieses Raums. Er leuchtet diskret unter der
Decke aus einer abgeklebten Neonröhre. Doch das präsentierte Arrangement aus
Stangen und Videoprojektion findet im Titel keine Erklärung. Es reibt sich
daran. Es findet Erweiterung. Vom Takt des Tambourmajors zum Veitstanz der
Mänaden. Pentheus wird im bacchantischen Furor zerrissen. Bei Netzhammer finden
sich Körper selten intakt, häufig fragmentiert, zerstückelt mit blutenden
Wunden.

Eine durcherzählte
Geschichte ist daher in Netzhammers Parcours nicht zu erwarten, vielmehr ein
vielstimmiger Bocksgesang auf die Abgründe menschlicher Existenz. Aber auch auf
naive Freuden und kindliche Lust, die er mit spielerischem Eigensinn in Szene
zu setzen weiß. Gleich der zweite Saal entfaltet ein Zaubergarten, „Die Luft
ist das Grab der Wurzel“, in dessen Kasten-Beete weiße Ventilatoren schmucke am
3-D-Printer gefräste Räder antreiben, über Ausschnitte in den Wänden mit dem
eindringenden Tageslicht analog geheimnisvoll kosmische Sphären gezaubert
werden. Wir staunen über die Ballwurfmaschine im vierten Raum mit seinen
grotesken Umrissportraits. Man wundert sich über Parade aus Kisten und
Paketrollen aus Holz statt aus Pappe im sechsten, die mit kleinen aufgeklebten
Zeichnungen wundersame Adressaten aus einer anderen Welt suggerieren und den
Betrachter dergestalt ein- und ausschließen wollen.

Coda und Reprise im siebten
und letzten Saal mit „Ein Baum ist ein Tier mit Blättern“. Das erste Wort,
„Blätter“ ist auch das letzte. Wie die Geste, das Ziehen einer Linie. Sie
teilt, sie scheidet und ruft im letzten Saal über alle vier Wände als „Martillo
neto Guernica“ überwältigend und verstörend eine apokalyptische Vision auf, die
wir wohl kaum ertragen könnten, wenn uns die Welt nicht gleichzeitig durch die
Kunst so schön und verschieden vermittelt wäre.

 

eigentlich müssten wir sie alle lieben. Kunstmuseum Solothurn

Veröffentlicht unter Ausstellungen, Geschmacksfragen, Kulturgeschichte, Zeitgenössische Kunst | Verschlagwortet mit , , | Kommentar hinterlassen

Fetische überall

Vom fragmentierten Blick, nacktem Fleisch und parzellierten Körpern. Der Fetisch in der Kunst. Eine Ausstellung in der Grafischen Sammlung der ETH Zürich

Tiepolo Vater und Sohn, Das Märtyrium der Heiligen Agata. Foto: Wiki commons

Es gibt Worte, von denen geht ein Leuchten aus, das dasjenige von Bezeichnungen wie „Baum“, „Tasse“, „Auto“ bei weitem überstrahlt. Scheinbar unergründlich bergen sie ein Geheimnis, ein Versprechen. Eines ist das Wort „Fetisch“. Ist es selbst ein Fetisch?

Googeln wir den Begriff, bekommen wir allerdings zuerst Seiten zu sexuell Deviantem, viel nackte Haut in Lack und Leder geboten. Die Faszination des Begriffs weicht schnell stereotypen Bildern der Triebregulierung. War da nicht mehr? Wo bleibt die Magie des Worts?

Wenn Sie über den faszinierenden Begriff „Fetisch“ etwas erfahren und zugleich eine der wenig bekannten Schatzkammern der Stadt Zürich kennen lernen wollen, sei Ihnen bis Anfang Juli 2024 ein Besuch in der Graphischen Sammlung der ETH-Zürich empfohlen. Dort wird bis zum 7. Juli die Ausstellung „Im Rausch(en) der Dinge. Fetisch in der Kunst“ gezeigt, kuratiert von der stellvertretenden Leiterin des Hauses, Alexandra Barcel und der Zürcher Autorin, Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen. Das verspricht Augenfreude und Aufklärung.

Seit ihrer Gründung der Sammlung im 19ten Jahrhundert sind in der ETH dank umfangreicher Ankäufe und grosszügiger Schenkungen über 160‘000 Arbeiten überwiegend auf Papier aus dem 15. Jahrhundert bis heute zusammengekommen. Sie ist damit die grösste Sammlung ihrer Art in der Schweiz. Und jederzeit für jedermann und -frau zugänglich. Die Besucherinnen können sich dergestalt an unbezahlbaren Originalen von Albrecht Dürer bis Angelika Kauffmann, von Francisco Goya bis Louise Bourgeois oder Zeitgenossinnen wie Zilla Leutenegger und Miriam Cahn erfreuen und unterrichten.

So ist auch jetzt eine faszinierende Auswahl hochkarätiger Arbeiten zu sehen, die an Exquisität ihres Gleichen sucht. Ein tolles Ding des vergleichenden Sehens quer durch die Jahrhunderte. Die Kuratorinnen erlauben sich Werkgruppen zusammenzubringen. Da hängen zum Beispiel unter dem Motto «Die Waffen einer Frau» zwei aggressiv-monströse Future-Pistolen von Sylvie Fleury als Siebdrucke auf schrillem gelbem und rotem Spiegelpapier, 2004, über detailversessenen Kupferstichen des Renaissancekünstlers Hans Sebald Beham, eine Göttin der «Gerechtigkeit» und eine «Venus» aus dem Jahr 1539. Von deren Schwert und Speer schweifen wir hinüber zum Dolch einer drallen Schönen, eine «Lucrezia», die sich wie die Sage geht, durch Selbstmord der Schande entzog. Und so weiter entlang formaler und thematischer Linien, die die Besucherin und der Besucher selbst von Blatt zu Blatt ziehen darf.

Von der Lehre zur Kunstbildung

Anfänglich als akademische Kollektion von Anschauungs- und Studienobjekten für Dozenten und Studierende gedacht, wandelte sich die Funktion der Sammlung mit den Jahren. Blätter des Gebrauchs, die, wenn überhaupt, ihren Kunstwert aus dem dargestellten, reproduzierten Kunstwerk bezogen, wurde selbst der Status von Kunstwerken zugeschrieben. Sie hatten nicht mehr nur eine weitentfernte Architektur, ein Ölgemälde, eine Skulptur naturgetreu wiederzugeben oder in einer Skizze des Künstlers deren Idee, sondern überstiegen an Wertschätzung diese oft bei weitem. Aus der Frühzeit der serienmässigen Reproduktion wie dem Kupferstich sind Beispiele bekannt, die diesen Wettstreit bereits aufnehmen wollten, Dürers Meisterstiche 1514, oder Rembrandts Die drei Kreuze 1653. Damit rücken sie mit zunehmender Aufmerksamkeit und gleichzeitiger Statusvermehrung des Besitzers klandestin an das heran, was die grossartige Ausstellung von Barcal und Bronfen thematisiert, den Fetisch in der Kunst. Und damit den Fetisch Kunst, der im Idealfall durch das Kunstwerk selbst zum Gegenstand wird.

Albrecht Dürer, Nemesis, 1501/1502, Foto: Wiki-Arts-Project Gemeinfrei

Zum Beispiel in Albrecht Dürers Druckgrafik Nemesis, 1501 bis 1502. Der Titel, für die Epoche ungewöhnlich, ist durch den Künstler selbst dank einer Tagebuchnotiz überliefert. Der Kupferstich steht programmatisch für den Künstler und gleichermassen programmatisch zum Auftakt der Ausstellung. Wagen wir eine erste Annäherung an das vertrackte Thema und schauen das Blatt genauer an. Eine nackte geflügelte Frau, die griechische Göttin des gerechten Zorns, der Bestrafung und der austeilenden Gerechtigkeit, schwebt als Weltbeherrscherin weit über einem Alpenstädtchen auf einer Kugel. Sie steht würdevoll im rechten Profil und hält ein Zaumzeug in der Linken zur Zügelung unkontrollierter Regungen, einen kostbaren Pokal in der Rechten zur Auszeichnung der Würdigen. Ein Tuch flattert über ihre linke Schulter gelegt mit beiden Enden nervös im Wind und kontrastiert die ruhig-gemessene Gestalt der Frau ebenso wie der weisse Hintergrund der oberen Bildhälfte in scharfem Gegensatz zu der detailreich geschilderten Landschaft darunter steht, in die der Wolkensaum der Himmelsphäre durch den Druck der Kugel zu sacken scheint.

Was ist nun Fetisch, beziehungsweise taugt dazu? Das Blatt selbst? Die Frau? Die Zügel, der Pokal? Der Kupferstich ist von einer stupenden Ausführung, kleinteilig, Detailgenau bis in winzige Landsknechtsfiguren im Alpental oder gekräuseltem Haar in der ansonsten so streng gebundenen Frisur der Frau. Ihr Körper entspricht in Gestalt und Proportion den Idealmassen einer weiblichen Figur, die Dürer in den Vorstudien zu seiner posthum veröffentlichten Proportionslehre mathematisch genau ersonnen hatte. Der weibliche Körper als vermessenes, objektiviertes und damit beherrschbares und verfügbares Wesen – ein Fetisch par excellence. Das Muster kehrt heute in den ewiggleichen Porn-Film-Dramaturgien und KI-generierten Social-Media-Live-Style-Schönheiten wieder.

Barcel/Bronfen erklären und kommentieren nichts. Sie lassen die Bilder sprechen. Der Fetisch Frauenkörper, der männliche Blick auf Weiblichkeit unterläuft Dürer ohne weitere Reflexion. Anders seine Inszenierung der Kunst. Der Fetisch Kunst wird direkt und bewusst thematisiert. Die Bewegung der Göttin nach rechts lässt offen, wohin die sich bewegt und wem sie den Pokal übergeben wird. Wir können annehmen, dass der Künstler selbst gemeint ist. Die junge Kunst des Kupferstichs, in der es Dürer von den Zeitgenossen anerkannt zu höchster Meisterschaft gebracht hatte, hatte sich erst wenige Jahrzehnte zuvor aus der Gold- und Silberschmiedekunst entwickelt. Dürers Vater war Goldschmied, also mit der Herstellung solcher Pokale befasst. Dürer hätte in seine Fusstapfen treten sollen. Er hat sich erfolgreich gegen diese Suksession gewehrt. Nun übertrumpft er seinen Vater und dessen Handwerk. Der Kupferstecher kann die Schicksalsgöttin selbst in höchster Perfektion durch Ritzen und Sticheln in die Kupferplatte zur Erscheinung bringen, wodurch ihm selbst die Trophäe der Nemesis zuteil wird.

Ist der Birnenpokal aber tatsächlich eine Trophäe, die Trophäe ein Fetisch? Das liegt im Standpunkt des Betrachters. Indem die Betrachterin bei Dürers „Nemesis“ den Empfänger, die Empfängerin des Pokals jederzeit imaginieren kann, wird ihm auch die Kraft der Einbildung bewusst. Er kann sich an die Stelle des Künstlers ausserhalb des Bildes setzten und sich der Macht des Schicksals bemächtigen. Wir partizipieren dergestalt an der Schöpferkraft des Künstlers. Wir sind Teil des Kraftfeldes Kunst.

Fetisch Begriffe – Fetisch begreifen

Der elaborierte Rezeptionsvorgang von Dürers Kupferstich weist zurück auf die einfachste Konnotation des Fetisch-Begriffs. Er entsteht im 16ten Jahrhundert mit den ersten direkten Kontakten spanischer und portugiesischer Konquistadoren mit indigenen Völkern, in deren religiösen Gebräuchen Kultfiguren im Mittelpunkt standen. Durch Wortverschiebungen aus dem Lateinischen „facere“, machen, ins Portugiesische „feitiço“, Zauberspruch, mutierte das Wort „Fetisch“ als pagane Kultfigur, der als belebtes Wesen magische Kräfte zuerkannt wurde. Das aus der christlichen Gottesverehrung verbannte Götzenbild kehrte wieder. Durch Anbetung oder besänftigende Praxis, Weihegaben, Gesänge, Tanz übertrug sich die Energie eines Ahnen oder einer Gottheit auf den einzelnen oder die Gemeinschaft. Aus Sicht des aufgeklärten Europäers konnte das nur des Teufels sein.

Seinen negativen Charakter hat das Wort „Fetisch“ bis heute behalten. Ethnografen und Anthropologen sprechen auch nicht mehr von Fetisch sondern „Kraftfiguren“. So verstehen wir heute den Fetisch, als ein Gegenstand, der über seine Funktion, seinen Gebrauchswert hinaus Bedeutung erfährt, bzw. als Energiequelle magische Kräfte besitzt, wie der Tennisball, der uns einmal zum Sieg führte, oder die Autogrammkarte eines Stars, mit der wir uns zum inner circle einer Fangemeinschaft zählen dürfen. In Ball und Karte kondensieren sich Leistungen performativer Vorgänge der Vergangenheit und befähigen den Besitzer, die Besitzerin in jeder Situation, die Kraft wieder aufzurufen. Dennoch bleibt Fetisch und Fetischismus der Begriff für eine korrupte Objektbeziehung. Dafür steht Fetisch, bzw. „Warenfetisch“ bei Karl Marx, nach dem in der Kapitalgesellschaft die Werthaftigkeit einer Ware undurchsichtig bleibt.

Der Soziologe Hartmut Böhme knüpft 2006 mit seinem Buch „Fetischismus und Kultur“ mit Fug an. Der Fetisch ist demnach nicht abgeschafft oder in Darkrooms der Subkulturen abgetaucht. Vielmehr sind Fetische unter uns und überall. Weiterhin knüpfen wir, Individuen und Kollektive, Bedeutungen und Kräfte, die diesem Ding nicht zukommen. Denken wir an Markentaschen, Sonnenbrillen, schnelle Autos. Das Verhältnis zum Fetisch ist ein zwanghaftes, die Beziehung zu ihm ein bewusst gehandhabter Mechanismus, der in seiner inneren Struktur allerding unbewusst bleibt und nicht durchschaut wird. Fetischisierung wird im 19. Jahrhundert zu einem Sammeltitel, unter welchem alles subsumiert wird, was als irrationale, abergläubische oder perverse Objektbeziehung gilt. Und das setzt sich vom 20ten ins 21te Jahrhundert fort. Siegmund Freud hat einen Erklärungsansatz dafür angeboten: In der Psychoanalyse Fetischismus als Objektbeziehung beschrieben, die durch eine Verleugnung der Kastration gekennzeichnet ist. Der Fetisch fungiert als phallisches Ersatzobjekt, das eine mit frühkindlichen Allmachtsphantasien verbundene Dingbeziehung aufrechterhält. Fetischismus heisst hier eine übersteigerte Bindung an ein (beliebiges) Objekt aus permanenter Kastrationsangst. 

Bei den von Barcel/Bronfen vorgelegten Blätter ist diese These nicht von der Hand zu weissen. Die Kunstgeschichte liefert haufenweise abgetrennte Köpfe von Goliath – der her bezeichnender Weise nicht vertreten ist – über Samson bis Holofernes und Johannes.

Die Moderne überwindet, verabschiedet vormoderne Formen und Institutionen des Ritus, der Magie, der Feste nicht. Sie vermag deren Energien nicht aufzuheben und zu binden. Sie werden vielmehr auch in Fetischen freigesetzt und flottieren durch alle Systemebenen der modernen Gesellschaft. Sie sind dort ausser Kontrolle, ausser Rand und Band.

Daher die grandiosen wie skurrilen Über-Inszenierungen von banalen Dingen, der Hang zum drall-barocken in der Ausstattung.

Bilder sprechen – der Mnemosyneatlas

Mit Barcel/Bronfen sehen wir nun Fetische überall. Seit 1924 ist die Grafische Sammlung auf der Südostseite des Semperbaus untergebracht. Dort hat sie im Erdgeschoss einen quadratischen, hohen, mit Holztäfelungen ausgestatteten Ausstellungssaal. Sind die vier filigranen schiefergrauen Stahlstützen desselben, nicht als solche zu bezeichnen? Sie fallen hier aus dem Rahmen. Wider die stilistische Gesetzlichkeit von steinerner Last und Stütze führen sie eine gänzlich andere Materialität als Zeichen der Moderne um 1860 vor. Obwohl offensichtlicher Zeigegestus und Fetisch des Architekten fallen sie im Ausstellungsdispaly nicht auf. Acht in Paaren im Quadrat gegeneinander gestellte, leicht nach hinten geneigte Tafeln gestatten es, die ausgestellten Grafiken in acht thematischen Gruppen zu präsentieren. Bei Barcel/Bronfen sind dies unter anderem „Der parzellierte Körper“, „Faszination Tot“ oder „Im Dickicht der Städte“. Dürers „Nemesis“ ist wie gesagt gleich am Anfang in der Rubrik „Der erotische Blick“ präsent.

Eine Schule des Sehens. Barcel/Bronfen geben einen kurzen Einführungstext ihres Unternehmens an die Hand, verzichten aber auf Katalog und erläuternde Texte. Was geschieht bei einem unverstellten Blick auf die Arbeiten? Die Tafelwände erlauben es den Kuratorinnen ein Netzwerk der Blicke herzustellen. Der legendäre Mnemosyne-Atlas des Kunsthistorikers und Kulturhistorikers Aby Warburg (1866-1926) gab Takt und Methode vor. Warburg, dessen Arbeiten und Mäzenatentum am Anfang der einflussreichen Kunsthistorischen Schule der Ikonologie standen, hatte sich den formalen und inhaltlichen Übertragungen antiker Stoffe und, wie er es nannte „Pathosformeln“, das heisst analogen Haltungen und Bewegungen überwiegend mythologischer Figuren bis in die Gegenwart verschrieben. Seine aussergewöhnliche Sammlung meist fotografischer Reproduktionen von Bildwerken der Antike, über die Renaissance bis in die Moderne, wurde auf Tafeln montiert und wieder neu arrangiert. Erst vor kurzem gelang eine Aufwändige Rekonstruktion des legendären Projektes in Buchform (Aby Warburg, Mnemosyne Bilderatlas. Kommentar, Hrsg. Roberto Orth, Axel Heil, Haus der Kulturen 2024). Diese Neuedition liegt in der Ausstellung aus.

Also wieder der Blick auf die Tafel mit Dürers Schicksalsfürstin ganz nach links. Da tanzt eine «Salomé», 1913, eines Pablo Picasso. Turnerisch balancierend reisst die Prinzessin ihr Bein mehr bemüht als graziös in die Höhe. Oder Louise Bourgeois «The View from the Bottom of the Well” ,1996. Grosse Güte, welche Kostbarkeiten kommen allein hier zusammen. Können wir uns satt sehen? Wie schön die Torsion, wie zart die Brüste einer «Dame auf Diwan, aus dem Fenster blickend», ein Blatt aus der Serie „Specimen of Polyautography“, 1803, von Heinrich Füssli. Wir könnten weiter schwären, halten uns hier jedoch besser zurück, um unsererseits nicht in den Verdacht des Fetischisten zu geraten. Das mehrt den Ruf bis heute nicht.

Der Text erschien redaktionell überarbeitet am 8. April 2024 im Online-Magazin Republik.ch

Veröffentlicht unter Ausstellungen, Geschmacksfragen, Kulturgeschichte, Zeitgenössische Kunst | Verschlagwortet mit , , , , | Kommentar hinterlassen

Biedermanns Theater am Zürcher Schauspielhaus

Zürich – Am Schauspielhaus Zürich hatte Max Frischs «Biedermann und die Brandstifter» am Ort der Uraufführung Premiere. Regisseur und Co-Intendant des Hauses Nicolas Stemann zeigte seine letzte Inszenierung. Gab es die erwartete Abrechnung mit der Schweiz, der Stadt, die ihm schon nach fünf Jahren den Laufpass gegeben hatte?

Von Max Glauner

Patrycia Ziólkowska als Gottlieb Biedermann (r.) und Niels Bormann als Dienstmädchen Anna (nicht ganz so r.) FOTO: PHILIP FROWEIN

Kein Zweifel, der Regisseur Nicolas Stemann macht tolles Theater. Er treibt seine Schauspieler:innen über sich hinaus. Da ist immer mehr als Handwerk. Ein Geist, ein Wahnsinn vielleicht, ohne den jede Bühne seelenlos bleibt. Trotzdem stellte sich bei dieser wie bei den meisten Stemanninszenierungen der letzten Jahre das Gefühl ein, da wäre eigentlich noch mehr drin. Woran das liegt? Vermutlich möchte er für das, was er tut, nicht nur anerkannt, sondern geliebt werden. Das ist tragisch, weil er dadurch nicht nur als Regisseur scheitert, sondern auch der Grund gelegt ist für das frühe Scheitern seiner Intendanz des Zürcher Schauspielhauses (zusammen mit Benjamin von Blomberg) nach nur fünf Jahren Amt.

Das war auch bei Stemanns Abschiedsvorstellung im Pfauen, dem Hauptstandort des Zürcher Schauspielhauses, nicht anders. Er tat alles, um als guter Kerl in Erinnerung zu bleiben. Schon die Stückwahl spricht Bände. Max Frischs Biedermann und die Brandstifter wurde just auf dieser Bühne am 29. März 1958 uraufgeführt. Stemann stellte sich in bildungsbürgerliche Traditionslinien wie er es vorher bereits mit Sophokles’ Ödipus und Brechts Galilei getan hatte. Mit diesen Inszenierungen biederte er sich keineswegs an die Abonnentinnen von der Goldküste – jener Seite des Zürichsees, an der das ganz große Geld wohnt – an. Doch nachdem ihm von der konservativen Presse früh das Etikett des Stückzertrümmerers aufgeklebt worden war, signalisierten Aufführungen aus dem klassischen Repertoire: Seht her, das kann ich auch!

Stemann bürstete auch an seinem letzten Premierenabend die Figuren in Besetzung und Kostüm gegen den Strich, blieb dann aber nah an Text und Verlauf des Stücks. Er verteilt alle Protagonisten des „Lehrstücks ohne Lehre“, wie es bei Frisch im Untertitel lautet, auf drei Schauspieler:innen, allen voran energiegeladen, treffend und präzise Patrycia Ziólkowska als Gottlieb Biedermann. Sie bekommt in Niels Bormann als Dienstmädchen Anna und Brandstifter Josef Schmitz einen ebenbürtigen Antagonisten, ebenso wie in dem wandlungsfähigen Kay Kysela, der als Biedermann-Gattin Babette und als Brandstifter Willi Eisenring agiert. 

Zwar gibt es Streichungen. Frischs Chortexte und einige Nebenfiguren werden auf das Protagonistentrio verteilt. Zwei Feuerwehrmänner tragen als stumme Vorboten der herannahenden Katastrophe Benzinkanister über die Bühne. Das Stück wird auch jenen verständlich, die es nicht als Schullektüre genießen durften.

Patrycia Ziólkowska als Gottlieb Biedermann (r.) und Niels Bormann als Dienstmädchen Anna (nicht ganz so l.) FOTO: PHILIP FROWEIN

Stemann erzählt im Einheitsbühnenbild von Katrin Nottrodt, die den Zuschauerraum auf der Bühne mit Tapete und Lüster fortsetzt und um eine Showtreppe und ein zweites Bühnenportal ergänzt. Das behauptet Einheit von Bühne und Publikum, die schon beim Einlass durch die Gegenwart der Darsteller:innen in Foyer und Parkett zelebriert wurde und soll sagen: Wir alle sind irgendwie der Biedermann und seine Brandstifter. Wir erraten eine symbolische Umarmung von Theater und Stadt, die ihr apokalyptisch warnendes Finale in einer immersiven Videoprojektion erfährt. Großartig die musikalisch-akustische Unterstützung durch Thomas Kürstner und Sebastian Vogel in der Loge auf der Treppe. Sie legen einen sensiblen Soundteppich aus, der die Agierenden an der Rampe ununterbrochen trägt und weitertreibt und das Publikum mit ins Boot holt. 

Für gute Unterhaltung ist gesorgt. Und worum geht’s? Die Fabel ist einfach. Ein Ringer taucht bei einem Haarwasserfabrikanten mit bourgeoisem Habitus auf und nistet sich aufdringlich und bedrohlich im Haus ein, um es zum Schluss mit Unterstützung seines Gastgebers anzuzünden. Und mit ihm die ganze Stadt. Zur Uraufführung hatte man das wider Frischs Intention als Warnung vor dem Kommunismus gedeutet. Später als Parabel auf den NS und seine Fortsetzung in den Nachkriegsdemokratien. Und heute?

Stemann erlaubte zwei kleine kabarettistische Einlagen. Sie nahmen die Zürcher Pfahlbürger mit ihren Größenfantasien aufs Korn. Dem fehlte Biss und es setzte auf Konsens mit dem Premierenpublikum. Besser traf eine Nebengeschichte. Sie erzählt von der fehlenden Empathie Gottlieb Biedermanns, seiner Verdrängung des Suizids des entlassenen Angestellten Knechtling. Stemann lässt drei singende Witwen, bei Frisch eine stumme Figur, erinnyengleich durch den Abend schleichen. Das trifft den Kern des Stücks und Stemanns subkutane Botschaft. Frisch gab einmal auf die Frage, wer mit den Brandstiftern gemeint sei, zur Antwort: „Ich meine, die beiden gehören in die Familie der Dämonen. Sie sind geboren aus Gottlieb Biedermann selbst: aus seiner Angst, die sich ergibt aus seiner Unwahrhaftigkeit.“

Wir gehen nicht zu weit, wenn wir Patrycia Ziólkowskas Biedermann zuerst als Geschöpf und Alter Ego ihres Regisseurs lesen. Aber wir können Stemanns Biedermann, ob er will oder nicht, auch als große Allegorie auf seine Zürcher Intendanz lesen. Die Biedermänner, Stemann und Co-Intendant von Blomberg eingerechnet, saßen demnach im Intendantenzimmer. Mangelnde Empathie und Konfliktfähigkeit waren der Konfliktherd für eine von Anfang an überforderte Truppe, die meinte, mit acht Hausregisseuren kooperativ reüssieren zu können. Das Experiment ging daneben. Stemann bringt nun zum Good-bye die Dämonen des gescheiterten Kollektivs auf die Bretter. Das ist gelungen. Frenetischer Applaus nach zwei Stunden beeindruckendem Spiel.

Schlussszene Biedermann, Foto Philip Frowein

Die Rezension erschien in redaktionell überarbeiteter Fassung. in Der Freitag Nr. 13 am 27.03.2024

Veröffentlicht unter Geschmacksfragen, Kulturgeschichte, Performance & Performing Arts, Theater | Verschlagwortet mit , , , , , , | Kommentar hinterlassen

Pappkkameraden und Papierfigurinen bei Agnes Scherer „Ein seltsames Spiel“ in der Kunsthalle Sankt Gallen

Installationsansicht, Agnes Scherer; „Ein seltsames Spiel“, Kunsthalle Sankt Gallen 2023, Foto: Max Glauner

Dioramen üben eine ungebrochene Faszination aus. Kalvarienberge, Krippen und lebensgroße Kreuztragungsgruppen aus Wachs, Gips, Stoff und Pappmaschee sorgten für Augenfreude und volksfromme Anteilnahme am Heilsgeschehen. In Naturkundemuseen, Wachsfigurenkabinetten, auf Volksfesten und im Märchengarten schaudern wir im Verein mit unseren Kindern vor dreidimensionaler Lebensnähe, die digital nicht zu überbieten ist.

Distinktions- und Legitimationsdruck der modernen und postmodernen Kunstproduktion hat das Genre weitgehend zum Verschwinden gebracht beziehungsweise der Zerstreuungsindustrie überlassen, statt sich mit dreidimensionalen Erfahrungsräumen zu beschäftigen. Marcel Duchamps «Etant donnés», 1946-1966, Louise Bourgeois «Destruction of the Father”, 1974, Environments von George Segal, Ed Kienholz, Anna Oppermann oder Ilya Kabakow blieben Ausnahmen wie die Miniaturfigurenmassakerkunst der Gebrüder Chapman oder die gebastelten Pappmodelllandschaften eines Thomas Hirschhorn.

Es gibt Indikatoren, dass sich das nun ändert. Im Schatten des Digitalen meldet sich das Präsenzversprechen der Kunst. Begehbare Erlebnisräume erklären das Publikum zu Darstellern inszenierter Lebenswelten wie in Mike Nelsons «I, Imposter», einer verlassenen Karawanserei im britischen Pavillon auf der Venedig Biennale 2011 oder Kaary Upsons «There is no Such Thing as Outside», 2017/2019, ein multimedialer Tumultraum des Verdrängten. Wir erinnern uns an das Buzzword «Immersion», das distanzlose Aufgehen des Publikums im Kunsterleben.

Die Ausstellung «Ein seltsames Spiel» der deutschen Agnes Scherer, Jahrgang 1985, in der Kunsthalle Sankt Gallen spielt damit und liefert eine intelligente Umdeutung. Die Professorin für Malerei am Salzburger Mozarteum triggert Sehnsuchtsbilder und verweigert die vorbehaltlose Hingabe. Theater trifft auf Kunst, Kunst auf Theater.

Installationsansicht, Agnes Scherer; „Ein seltsames Spiel“, Kunsthalle Sankt Gallen 2023, Foto: Max Glauner

Agnes Scherer stellt lebensgrosse Szenografien grotesker Figurengruppen aus bemaltem Pappmaschee her, die popkulturelle Standards zum Thema Liebe und Beziehung aufrufen. Scherer serviert in Sankt Gallen drei, ein Ritterturnier, «Savoir Vivre», 2023, eine Hochzeit, «A thousand times yes», 2022, und einen Vampirbiss vor dem Halbrund einer Niagarafälle-Kulisse bei Nacht mit angeleinten heulenden Wölfen, «A thousand times goodnight», 2022.

Die drei Szenen, hat die Künstlerin als begehbare Bilder monumental und durch das Material Papier widersprüchlich filigran ohne Bühne oder distanzierende Plattform in die drei hohen Räume der Kunsthalle gebaut. Das scheint bei allem Aufwand auf den ersten Blick trivial. Wir staunen über die lebensgrossen Pferde, Ritter, Lanzen, die Burgfräuleins auf der Tribüne bei «Savoire Vivre» im ersten Saal. Wir reiben uns im zweiten Raum ungläubig und gerührt vor einem Hochzeitspaar die Augen, dessen Braut mit langer Schleppe ausgestattet ist, die von sechs artig knienden Kindern getragen wird. Wir staunen gleichermassen vor einem Himmelbett aus bunt bemaltem Papier «Trousseau dérangé N. 1» 2022», das im dritten Saal der Vampirszene zugeordnet ist.

Installationsansicht, Agnes Scherer; „Ein seltsames Spiel“, Kunsthalle Sankt Gallen 2023, Foto: Max Glauner

Dennoch stutzen wir. Vampirszene, Hochzeit, Ritterspiel werden nicht täuschend echt vorgeführt. Das Ritterturnier kommt nicht solide und historisch verbürgt wie in der Dresdner Rüstkammer daher. In Scherers Arrangements sind Finten und Fallen eingebaut. Stereotype Rollenmodelle, kollektive Archetypen bürgerlicher Geschlechterverhältnisse, platonische Liebe, ehelicher Bund, Sexualität und Amour Fou stehen zur Disposition.

Die Ritterszene wird von einem friesartigen Landschaftspanorama und einer begehbaren Tribüne mit jubelnden Pappmascheehoffräuleins gerahmt. Das Panorama zeigt Frauen in einer Schwarzwaldlandschaft Gänse mästen, während ihre Männer Bäume fällen, um jene Turnier-Lanzen zu produzieren, die von den Papprittern in der Figurengruppe zerbrochen werden. Damit kontextualisiert die Malerei die Ritterszene neu, bestätigt und verschiebt die Hierarchie der Geschlechter, die im Tournier als Archetyp vorformuliert wird, in eine gespenstisch-naive Gegenwart. Bei näherem Besehen ist diese auch beim Tjost, dem Ritterturnier, gegenwärtig. Die jubelnden Hofdamen halten Handys in den Händen. Im Helm eines Ritters steckt ein Flugzeug und wir sind mittendrin.

Installationsansicht, Agnes Scherer; „Ein seltsames Spiel“, Kunsthalle Sankt Gallen 2023, Foto: Max Glauner

Scherer geht es um die theatralische Inszenierung, die Querbezüge der Figuren, weniger um ihren ästhetischen Eigenwert. Sie strahlen den Reiz des kontrollierten Dilettantismus aus, den wir an Henri Rousseau oder Pierre Klossowski schätzen.

Agnes Scherer setzt dem formal noch eins obendrauf. Arbeiten auf Papier, damit verbinden wir bis heute Druckgrafik, Zeichnungen und Gouachen. Bei Scherer geht das gemalte, bezeichnete Papier in den Raum, bildet illusionistisch Objekte ab. Die beeindruckenden Figuren müssen durch transparente Fäden an Wänden und Decken gehalten werden. Hielten sie diese nicht, würden die Figuren heillos in sich zusammenfallen. Kunst muss hängen, hat Andreas Kippenberger einmal zu bedenken gegeben. Agnes Scherer schliesst an dieses Statement an, um es verblüffend und intelligent zu konterkarieren.

Installationsansicht, Agnes Scherer; „Ein seltsames Spiel“, Kunsthalle Sankt Gallen 2023, Foto: Max Glauner

Zuerst veröffentlicht in KUNSTFORUM International Bd. 293, Dezember 2023

Veröffentlicht unter Ausstellungen, Geschmacksfragen, Kulturgeschichte, Performative Visual Arts, Theater, Theorie, Zeitgenössische Kunst | Verschlagwortet mit , , , | Kommentar hinterlassen

Andrea Büttner. Der Kern der Verhältnisse – Kunstmuseum Basel

Erinnern Sie sich an die dOCUMENTA (13)? Damals hatte man auch die Neue Galerie über der Fulda als Ausstellungshaus genutzt. Im Erdgeschoß, ganz hinten rechts waren Arbeiten von Andrea Büttner zu sehen. Ein Videofilm über Ordensschwestern auf einem Jahrmarkt in einem Kabinett (Little Sisters: Lunapark Ostia, 2012, 42 min.) und Holzschnitte im anderen. Können Sie sich erinnern? Wahrscheinlich nicht. Zu karg, zurückhaltend und leise schienen die Installationen im Documenta-Rummel. Wie aus der Zeit gefallen. Die 1972 in Stuttgart geborene Künstlerin, Autorin, Dokumentaristin lebte damals in Frankfurt/M und London, wo sie auch studierte. Heute ist sie in Berlin zu Haus und gehört zu den gefragtesten Gegenwartskünstlerinnen.

Inzwischen wurde sie 2017 für den Turnerpreis nominiert. Nun stellt sie nach renommierten Häusern weltweit diesen Sommer im Baseler Kunstmuseum aus, ein Karriere-Peak. Eine besondere Auszeichnung: Sie kann ihre Arbeit in einem Grossteil des Hauses für Gegenwart im St.-Alban-Graben zeigen.

Und wir staunen, denn den Kern des «Kern[s] der Verhältnisse», wie die Überblicksschau in Basel betitelt ist, glaubt man im nucleus bereits in Kassel 2012 gesehen zu haben, die farbigen Wandflächen als Folie zu den spröden, grossformatigen Holzschnitten mit ihren zeichenhaften, «armen» Motiven wie Einhausungen, Ähren, Händen, gebückten Gestalten (u.a. Erntender, 2021), die Videodokumentationen zu Ordensgemeinschaften und ihrer «care»-Arbeit (u.a. What is so terrible about craft? / Die Produkte der menschlichen Hand, 2019). Die Saat ist aufgegangen, Büttners Kunstpflänzchen sind herangewachsen, stark und gross, ohne ein lautes «Hier-bin-ich!» in das Kunstfeld hinauszuschreien.

Büttner gehört nicht zu den expressiven Chaotikern des Kunstbetriebs, sondern zu den stillen Reduktionisten, die im Bildentzug den mitdenkenden Zuschauer verlangen. Darin ist sie durch und durch Protestantin, was ihr in Basel zum Erfolg verholfen haben mochte. Text und Reflexion stehen bei ihr vor überwältigendem Bild und Immersion.

Das weht die Besucher*innen bereits in den zwei Anfängen der Ausstellung entgegen – einerseits im weiten, nahezu leeren Foyer des Hauses der Gegenwart, und andererseits im Altbau, wo die Künstlerin sechs Arbeiten der Serie Bread Painting, 2011-2023 unter Altmeistergemälde schmuggeln kann. Bread Paintings sind bei Büttner «BadPaintings», Hinterglasmalerei monochromer Hintergründe für ausgeschnittene und aufgeklebte Fotos von Broten aus Magazinen, die nun auf die gemalten Brote in religiösen Gemälden verweisen, die ihrerseits die Eucharistie und das Wunder der Transsubstantiation vergegenwärtigen.

Im Foyer des Hauses der Gegenwart scheinen sich eine Zeichnung, Untitled, 2020, zwei Holzschnitte, Untitled, 2017, und eine Dia-Show zur Kunstgeschichte des Bückens, 2021, im weiten Raum zu verlieren. Sie tun es nicht. Denn die Künstlerin hat die Wände mit einer braunfarbigen Brüstung versehen, die mit einer unregelmässigen Kante dort abschliesst, wohin der Pinsel der Künstlerin in ihrer Arbeit mit ausgestreckter Hand reichte (Brown Wall Painting, 2006). Die Malerei zeigt in einer minimalen Geste transformatorische Kraft. Sie schafft, obwohl monochrome Fläche, Raum. Er bringt die verstreuten Arbeiten optisch zusammen und setzt sie in Beziehung.

Das gelingt der Künstlerin auch im verwinkelten Hauptsaal, einem von gesamt 6 Räumen, die ihr zur Verfügung stehen. Hier fasst ein regelmässiges schwarzes Raster auf den Wänden (Grid, 2021) ein gutes duzend Arbeiten in Eins: einen Tisch mit Glasvasen, zwei mit holzgeschnitzten Spargeln und Ackerfurchen aus Ton, zwei Videoinstallationen, wieder grossformatige Holzschnitte und Fotografien und schliesslich ein mehrteiliges Deckenpaneel, das hier jedoch an die Wand lehnt, Untitled (Painted Ceiling), 2020. Wären da nicht zwei Kübel frischer Gladiolen, die farblich dem Paneel zugeordnet sind, es würde gründlich aufgeräumt wirken. Wir müssen genau und oft lange hinsehen, damit die Arbeiten in ihrer Lakonie zugänglich und lebendig werden. Kaum eine Arbeit erschliesst sich für sich allein. Sie werden, wenn kein Titel den Hinweis gibt, erst beredt durch den Bezug zu anderen.

Die drei Fotografien am Eingang zum Beispiel. Sie zeigen – wie meist bei der Kamera Büttners, nahsichtig – ruinöse Einfassungen von Beeten, die von saftigem Grün überwuchert werden. Der Titel klärt auf und öffnet Abgründe, Former plant beds from the plantation and “herbal garden,” used by the SS for biodynamic agricultural research, at the Dachau Concentration Camp, 2019 – 2020. Auf einen Schlag wird gegenwärtig, dass das linke Projekt der Ökologiebewegung auch rechts-nationale beziehungsweise faschistische Wurzeln hat. In der Videoinstallation Karmel Dachau, 2019/ 2022-23, führt uns Büttner ein weiteres Mal in die Gegenwart der Nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie, indem sie einfühlsam und unvermittelt Ordensschwestern des Karmeliterinnenklosters neben dem KZ Dachau portraitiert. Im Video sehen wir immer wieder Gladiolen ihrem Klostergarten. So erklären sich die realen Gladiolen im Saal nicht nur ästhetisch, sondern auch in ihrem durch die Künstlerin gestifteten Bedeutungszusammenhang. Wer sich bei Andrea Büttner Zeit lässt, wird reich belohnt.

Am 28.10.2023 eröffnet im K21, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf Andrea Büttner. No Fear, No Shame, No Confusion mit einem gemeinsam mit dem Kunstmuseum Basel herausgegebenen Katalogbuch. Die Ausstellung läuft bis 18.02.2024

https://kunstmuseumbasel.ch/

https://www.kunstsammlung.de/de/exhibitions/andrea-buettner

Veröffentlicht unter Ausstellungen | Verschlagwortet mit , , , | Kommentar hinterlassen

Maîtresse de vol. Sylvie Fleury im Kunstmuseum Winterthur

Sylvie Fleury, ‹White Gold›, 2010, Installationsansicht Kunstmuseum Winterthur, Foto: Max Glauner

Winterthur – Maîtresse et complice de vol, eine Meisterdiebin und ihre Komplizen. Mit dieser kurzen Formel lässt sich das Verhältnis der Genfer Künstlerin Sylvie Fleury, Jahrgang 1961, zu ihrem Publikum treffend beschreiben. Dass das Multitalent, ihre Arbeit reicht vom intelligent arrangierten Objets trouvés – ihre berühmten Luxus-Einkaufstüten wie ‹Milano› 1991 – über Videos, Skulpturen, Malerei bis hin zu Installationen, weiter munter, augenzwinkernd und auf der Höhe der Zeit produziert, ahnten wir vor kurzem mit einer kleinen Ausstellung in der Bechtler-Stiftung mit der Schau ‹Double Positive›.

Fleury hat mehr zu sagen. Das zeigt die Sommerausstellung des Kunstmuseum Winterthur beim Stadthaus mit der Ausstellung ‹Sylvie Fleury. Shoplifters from Venus›, also Ladendiebe oder Diebstähle von der Venus, wobei wir gerne an die Göttin, den Planeten, Ausserirdische oder uns selbst denken können.

Bevor es in ihre in retrospektiver Fülle ausgebreiteten Welt in den Erweiterungsbau geht, legt die Künstlerin in den Sälen der Klassischen Moderne programmatisch erste Köder aus. Gleich im zweiten Saal stossen wir auf ‹White Gold›, 2010. Auf einem Sockel glänzt eine zerknautschte Luxustasche silbrig, aus der ebenso versilbert ein Bilderrahmen ragt. Wir ahnen, das Objekt behauptet nicht nur durch den Sockel, sondern durch sein Material, Bronze, eine Skulptur, ein Kunstwerk zu sein, das es mit den Klassikern aufnehmen will: Die Ölmalerei eines Ferdinand Leger an den Wänden veredelt den glitzernden Gegenstand und degradiert zugleich zu dessen Kulisse. Fleury steckt sie munter in die Tasche.

Aneignung, Crossover und Remodellierung verschiedener sozial-gesellschaftlicher Bedeutungs- und Anerkennungssysteme beherrscht die Künstlerin meisterhaft, grosszügig, humorvoll, nie didaktisch oder bevormundend. Wir sehen uns ausgerechnet im kleinsten Saal mit einem beeindruckenden Arsenal Raketen konfrontiert, phallische Monumente in glänzender Lackierung (‹First Spaceship on Venus›, 2023, aus verschraubten Zink-Platten (‹First Spaceship on Venus›, 1995) oder weissem Puschel-Überzug (‹First Spaceship on Venus›, 1998) – alles, was männliche Ermächtigungsfantasien beflügeln mag und zugleich konterkariert. Komplizenschaft mit wem, womit ist aufgerufen? Komplizenschaft mit dem faszinierenden, fetischartigen Objekt oder der Künstlerin und ihrem Spiel des Uneindeutigen? Eine Antwort gibt die absolut sehenswerte Schau bis Ende August.

Der Text erschien zuerst redaktionell leicht überarbeitet in Kunst Bulletin 7-8/2023

Veröffentlicht unter Ausstellungen, Geschmacksfragen, Performative Visual Arts, Zeitgenössische Kunst | Verschlagwortet mit , | Kommentar hinterlassen

Oberflächendrama. Werner Büttner. Malerei 1981 – 2022 in der Galerie Max Hetzler Berlin

Werner Büttner, „Weißes Haus“, 1985, Foto: Max Glauner

Angesichts des täglichen Tippens und Swipens auf glatten Benutzeroberflächen kann sich das optische Abtasten einer pastos bemalten Leinwand geradezu skandalös ausnehmen. Erst recht da, wo zwischen Farbe und Auge kein schützendes Glas angebracht wurde. Werden gleich fünfzehn Öl-Gemälde erster Güte ohne Glas präsentiert, wie jetzt bei „Werner Büttner. Malerei 1981 – 2022“ in der Charlottenburger Galerie von Max Hetzler, kann getrost von einem Ereignis gesprochen werden. Wir bleiben ungeachtet der Figurationen mit dem Blick auf ihrer Oberflächenlandschaft kleben. Wie Fliegen in der Falle.

Büttner, der Anfang der 1980er-Jahre mit der Hamburger Kunstszene um die Oehlen-Brüder und Martin Kippenberger und nicht zuletzt dank seines Galeristen-Freundes Hetzler zum augenzwinkernden Künstler-König und Akademieprofessor aufstieg, mochte sich so etwas gedacht haben, als er sein Gemälde „Weißes Haus“, 1985, 2m x 2m, mit drei von grob verspachtelter weißer Farbmasse gehaltenen Fliegen-Klebstreifen ausstattete.

Eyecatcher geben Büttners oft kalauernden Motive immer ab, von „Stalins“ Stiefeln 1985 bis zu den blauen Tränenköpfen vor rotem Hammer-und Sichel-Signet in „Düsterer Nachruf“, 2022. Seine anfangs wild-pastosen Bilder, die Farbkleks und -schlieren nicht scheuen, werden mit den Jahren konturierter, heller, im Farbauftrag weniger Schlachtfeld, fast heiter. Der Künstler gönnt sich und seinen Betrachterinnen und Betrachtern Ruhe ohne Biss zu verlieren. So verbreitet Büttner in der Bleibtreustraße gute Laune im ansonsten flauen Berliner Kunstsommer.

Zuerst erschienen in tip-Stadtmagazin Juli/August 2023

Veröffentlicht unter Ausstellungen, Geschmacksfragen, Zeitgenössische Kunst | Verschlagwortet mit , , | Kommentar hinterlassen

Giacometti/ Dalí. Traumgärten

Alberto Giacometti, Projet pour une place, 1931/32, Foto: Peggy Guggenheim Collection, Venice
© Succession Alberto Giacometti / 2023

Zürich – Zwei Kometen treffen sich in den unendlichen Weiten des Alls und winken sich zu. Die Szene auf die Geschichte der klassischen Moderne heruntergebrochen spielt zu Beginn der 1930er-Jahre im Salon der Pariser Aristokraten und Mäzene der surrealistischen Bewegung Marie-Laure und Charles de Noailles. Die Kometen heissen Salvador Dalí und Alberto Giacometti. Sie waren dort im illustren Kreis gern gesehene Gäste. Im zweiten Stock des Chipperfield-Baus des Zürcher Kunsthauses treffen die beiden Künstlerkometen nun in der Ausstellung „Tagträume“ erneut zusammen.

Den Zürcher Ausstellungsmacherinnen und des Pariser Institut Giacometti, wo die Schau zuvor gezeigt wurde, gelingt ein dichter, ja atemberaubender Parcours von gut hundert Objekten, Skulpturen und Zeichnungen aus der surrealistischen Hochzeit Dalís und Giacomettis. Die viszeralen Albtraumwelten des katalanischen Feinmalers wie „Architecture surréaliste“, um 1932, treffen zum ersten Mal in dieser Fülle auf die skulpturalen Fantasien des Bildhauers aus dem Bergell. Seine aggressiv-erotische Bronze „Homme et femme“, 1928/29, öffnete nicht nur dem Katalanen einen produktiven Echoraum.

Doch war da mehr als ein „Hallo“ der Künstlerkometen, mehr als eine gegenseitige Kenntnisnahme und Salongespräche? Gar eine künstlerische Zusammenarbeit, eine Kooperation, wie es die Ausstellungsmacherinnen behaupten? Die Faktenlage ist dünn. Ein von Giacometti und Dalí gemeinsam geschaffenes Werk fehlt. Dass sich beide in unterschiedlicher Weise Traumwelten näherten und sich gegenseitig geschätzt haben – gebongt. Aus wenigen Skizzen, wie Dalís „Parc d’attraction“ 1932, in der eine Plastik Giacomettis auftaucht, und einem Notizbucheintrag des Schweizers – „Das Projekt Dalí jetzt beiseiteschieben“ – eine Kollaboration an einer Gartenskulptur für den Sommersitz der Noailles im südfranzösischen Hyères zu konstruieren, ist jedoch gewagt. Ein Auftrag der Noailles erging im Gegensatz zu einer Stele Giacomettis „Figure dans un jardin“, 1931 entstanden, hierfür nicht. Giacometti entwirft in der Folgezeit das sechsteilige Skulpturenensemble „Projet pour une place“ (1931/32). Nie umgesetzt, ist es lediglich in einem Holzmodell, Skizzen und Fotos von einzelnen Maquetten in Originalgrösse überliefert. Rekonstruiert steht es nun im Zentrum der Ausstellung und die neugierigen Betrachterinnen dürfen raten, wieviel Dalí im Giacometti steckt.

Der Text erschien redaktionell überarbeitet in Kunst Bulletin 6/2023

Veröffentlicht unter Ausstellungen, Geschmacksfragen, Kollaborative, Kunst im öffentlichen Raum, Performative Visual Arts, Psychogeografie | Verschlagwortet mit , , , | Kommentar hinterlassen

Der Irrwisch. „Professor der Apokalypse“ erzählt die vielen Leben des Religionsphilosophen Jacob Taubes

Zum 100ten Geburtstag des Judaisten und Philosophen Jacob Taubes am 25. Februar 2023 legt der U.S.-amerikanische Historiker Jerry S. Muller eine gewichtige Biografie des bewunderten und verachteten Ausnahmedenkers vor.

Jacob Taubes, Foto: Klaus Mehner/ Ullstein

Abgründe, Einblick in das Leben eines Intriganten – Im Oktober 1951 erhält der junge, aufstrebende Dozent Jacob Taubes in New York einen eingeschriebenen Brief aus Jerusalem. Ein akademisches Todesurteil. Nachdem Taubes in der Schweiz, wohin er mit der Familie des Wiener Rabbiners Zwi 1934 gezogen war, keine Aussichten auf eine Karriere hatte, versuchte er nach der Promotion zur „Abendländische Eschatologie“, 1947 in Bern veröffentlicht, in Amerika Fuß zu fassen. Eine Stelle am Jüdischen Theologischen Seminar, das ursprünglich für die Ausbildung von Rabbinern eingerichtet war, blieb unbefriedigend. Eine Alternative tat sich mit dem einstigen Freund Walter Benjamins, dem großen Religionshistoriker und einer der ersten Dozenten an der Hebräischen Universität Jerusalem, dem 20 Jahre älteren Gershom Scholem auf.

Anfängliche Sympathie und gegenseitige Bewunderung schlugen um in rigorose Ablehnung des Jüngeren durch den Älteren. „Gescheit sind wir alle,“ bekundete Scholem später, „Sitzleder muss man haben.“ Das hatte Taubes nicht. Blitzgescheit und belesen mangelte es ihm von jeher an Disziplin und Ausdauer längere Texte zu schreiben. Die „Eschatologie“ blieb sein einziges Buch, die einzige Monografie. Endgültig zu Bunt wurde es Scholem jedoch, als er feststellen musste, dass Taubes sein Vertrauen sträflich missbraucht hatte. Taubes hatte Scholems negatives Urteil über einen Promovenden taufrisch an diesen übermittelt. Das war Scholem zu Ohren gekommen. Ein „Vertrauensbruch der schwersten Art,“ so Scholem. Dem Hochbegabten Taubes blieb trotzt Entschuldigung nichts weiter übrig, als fortan als akademischer Ahasver zu nomadisieren. Und ihm lief der Ruf des Intriganten lebenslang voraus.

Besuch bei Carl Schmitt

Nach Taubes befragt, verdrehen heute viele Kommilitoninnen, die wie ich in den 1980er-Jahren in seinen Seminaren zu den Paulusbriefen des Neuen Testaments und ihrer Politik des Kreuzes saßen, die Augen und winken ab. Scharfsinnig sei er gewesen, ja, aber übertrieben arrogant und selbstverliebt. Geblieben ist uns die Einsicht, dass vor allem das in Texten zählt, was nicht geschrieben steht, im Subtext aber durchscheint, wenn die Leserin hineinhorcht. Es waren die Leserinnen, an die sich seine Lektüren vornehmlich richteten.

Wer war also Jacob Taubes? Der provokante „Erzjude“ und Adept des Apostel Paulus, als den er sich selbst bezeichnete, eine faszinierende Ausnahmepersönlichkeit oder schlicht der falsche Jakob, ein unverantwortlicher Scharlatan und Schürzenjäger? In seinen sozialen Rollen war er Hochschullehrer, Rabbiner, Judaist, Religionssoziologe und -historiker, Hermeneut und Philosoph, Nach dem Jüdischen Thologischen Seminar und dem Intermezzo bei Scholem erhielt der Tausendsassa immerhin noch ein Rockefeller-Stipendium an der Harvard  und konnte eine Gastprofessur in Priceton wahrnehmen, wo er sich mit Herbert Marcuse anfreundete, bis er in den 1960ern konnte an die renommierten Columbia University, New York, aufsteigen konnte und von dort ab 1966 als Professor an die Freie Universität Berlin, wo er bis zu seinem Krebstod 1987 lehrte. Er war zwei Mal verheiratet, 1946 bis 1967 mit der US-amerikanisch-jüdisch-ungarischen Autorin und Religionswissenschaftlerin Susann, geborene Feldmann, die bei Paul Tillich zur Philosophin Simone Weil promoviert hatte und mit der Taubes einen Sohn und eine Tochter in die Welt setzte. Sie nahm sich 1969, auch wegen der gescheiterten Ehe, das Leben. Dann nach langem Vorlauf 1967 bis 1975 mit der Philosophin Margarita von Brentano, ein Lebensbund, der über die Scheidung hinaus bis zu seinem Tod währte.

Wer also war Jacob Taubes? Hat er uns heute bei dem vergleichsweisen schmalen, unsystematischen und verstreuten Werk, das er hinterlassen hat, noch etwas zu sagen? Die Frage lässt sich heute uneingeschränkt mit Ja beantworten. Allein der kleine Text, „Noten zum Surrealismus“ in Poetik und Hermeneutik 1966 (S.139-155), öffnet Augen auf ungeahnte Tiefenschichten der Kunstbewegung.

Wir tun also gut daran, seine Person als das eine und die intellektuelle Leistung als das andere zu bewerten. Auch und gerade, weil die Faszination für das eine ins Andere, das süffig Anekdotische ins tiefgründige Durchdachte übergeht wie in keiner Intellektuellenexistenz der zweiten Hälfte des 20ten-Jahunderts. Das zeigt auf beeindruckende Weise die Biografie „Professor der Apokalypse. Die vielen Leben des Jacob Taubes“ des U.S.-amerikanischen emeritus für Geschichte und Autors Jerry Z. Muller, die nun im Jüdischen Verlag bei Surkamp auf Deutsch vorliegt.

Wir können an Kleinigkeiten kritteln, warum gibt es kein Interview mit Taubes Assistentin an der Columbia, Susan Sonntag? Wie kann es sein, dass Taubes auf Seite 145 „im September 1947 New York erreicht“, aber auf Seite 136 „im Oktober 1947 auf der R.M.S. Queen Elisabeth in die Neue Welt aufbrach“? Ärgerlich auch, dass von der bei Taubes früh manifesten Bipolaren Störung ostentativ medizinisch und grammatisch-logisch falsch von einer „manischen Depression“ gesprochen wird. Dennoch ist das Buch Mullers ein Meisterstück der Intellektuellenbiografie, über 20 Jahre hervorragend recherchiert und fesselnd geschrieben. Unabhängig, was man am Ende von der Person, der Figur, der Persönlichkeit Taubes halten möchte. Abgestoßen oder angezogen, wir sind hier von Anfang bis Ende in eine Geschichte gezogen, die wie keine andere das geistige Gemengelage der Post-WW-II-Zeit im Westen einfängt und reflektiert, in seiner ganzen Anstrengung und Brüchigkeit erzählt.

Nicht nur in Susan Taubes‘ Emanzipationsroman „Divorcing“, 1969 spielt Jacob als Ezra Blind, der Mädchenname Jacobs Mutter Fanny, die Hauptrolle. Eng mit Susan Taubes verbunden, drehte sie Autorenfilme. Jacob Taubes diente in „Duet for Cannibals“ 1969 als Vorbild für den Protagonisten, einem „wahnsinnigen Professor“ mit „dämonischen Zügen“.

Abgründe zum Zweiten.

Das ist die berühmte Bertram von Hildesheim-Anekdote vom intellektuellen Rummelboxer Taubes: Zwei Kollegen an der Columbia University versuchten Taubes beim Cocktail-Empfang eine Falle zu stellen, um ihn seiner Aufschneiderei zu überführen. Ihr Setting, sie unterhielten sich über das Konzept der Seele beim mittelalterlichen Scholastiker Bertram von Hildesheim. Taubes stieg ein und legte nonchalant dessen Theorien aus, bis die beiden Jungs den Vortag mit der Bemerkung stoppen, Bertram habe nie existiert. Betretenes Schweigen. Auch Muller legt nahe, Taubes habe sich in diesem Moment seiner narzistischen Neigung überführt gezeigt. Eine zweite Version könnte mit Mullers luzider Biografie aber auch so lauten: Taubes ist seiner Überlegenheit bewusst und extemporiert gerade darum ein Phantasma der Sonderklasse, um die beiden in ihrer Mittelmäßigkeit zu deklassieren. Peinlich war ihm die Episode nie.

Faszinierend war Jacob Taubes, weil er schwer zu fassen, sich nicht einordnen mochte, sich weder intellektuell noch politisch in der politisch so aufgeladenen Zeit der 1968er vor den Karren spannen ließ, im Gegensatz zu seinem Freuend Ludwig Marcuse. Obwohl sich Taubes als politisch links verstand, verkehrte er schon zu Studentenzeiten auch mit dem rechten Lager. Er besuchte den greisen NS-Staatsrechtler Carl Schmitt in Plettenberg 1978, um mit ihm über den jüdischen Christen Paulus und dessen politischen Konzept des Neuen Bundes zu diskutieren. Mit ihm teilte er die Auffassung, die Annahme einer hereinbrechenden Endzeit, öffne Handlungsspielräume für die politische Gegenwart. Taubes machte Schmitts These vom Katechon, dem Gegenspieler des Antichristen, und die Idee, Souverän sei, wer den Ausnahmezustand bestimmt, in der Linken populär und übte damit beträchtlichen Einfluss auf Denker wie Giorgio Agamben aus.  

Und heute? Alles Schnee von gestern? Ist in der Demokratie nicht der Souverän, der Wohlstand und guten Schlaf verspricht? Doch Taubes Analyse der Figur des Paulus geht tiefer. Im Gegensatz zu Jaques Derrida, der von Taubes mehrfach eingeladen, kaum an die Wirkmacht des Wortes glaubte, sieht Taubes hinter den Schriften ein Transzendentes wirken, das auch in die Gegenwart geholt werden kann. Der Klimawandel und die Frage, nach der Legitimation von Aktionismus, die Kriege in der Ukraine, Tigray, Jemen, Postkolonialsmus-Debatten und Migrationswellen, der Apokalyptiker Taubes hätte zu den Apokalypsen unserer Tage noch einiges zu sagen.

Der Text erschien zuerst redaktionell überarbeitet in Der Freitag Nr. 13, 30. März 2023, S. 24

Veröffentlicht unter Buch, Geschmacksfragen, Kulturgeschichte, Literatur, Theorie | Verschlagwortet mit , , , , , , , | Kommentar hinterlassen

Zillas Mondfahrt. Zilla Leutenegger „I Love You to the Moon and Back” in der Zürcher Galerie Kilchmann

Zilla Leutenegger, Moby Dick, 2022 © the artist and Galerie Peter Kilchmann, Foto: Sebastian Schaub

Zürich – Der Klassik ist die grosse Erzählung eigen, der Romantik poetische Sehnsucht, Ironie und Fragment. Das Biedermeier bescheidet sich im Anekdotischen. Von all dem findet sich im Werk der Zürcher Zeichnerin, Malerin, Video- und Installationskünstlerin Zilla Leutenegger. Nach ihren tollen Ausstellungen in Chur 2021 und Schaffhausen 2022, hier mit Sandra Böschenstein, stellt sie das nun wieder souverän, dramaturgisch klug und anrührend in den grosszügigen Räumen der Galerie Kilchmann mit „I Love You to the Moon and Back“ im MAAG Areal unter Beweis.

Ihr Parcours beginnt mit handwerklich-anekdotischen Augenzwinkern. Im Flur hängt über der langen Holzbank eine Batterie Wasserhähne, 38 Stück in Reihe aus handmodelliertem Ton, wiess glasiert, dergestalt allesamt Unikate, die die Rücklehne der Bank zur Ablaufrinne erklären. Unmerklich doch penetrant tönen Wassertropfen aus einem Lautsprecher. Das harmlose Arrangement kippt ins Reale, damit ins Unheimliche, Unbehauste.

Diese Kippfigur vom scheinbar Vertrauten ins Unvertraute beherrscht Leutenegger meisterlich. Sie begleitet uns vom Anfang bis zum Schluss, im Video und Serien von teils grossformatigen Monotypien, einem Medium, dem sich die Künstlerin in jüngster Zeit angenommen hat. Bemerkenswert, sie verzichtet dabei auf ihr Markenzeichen, die stillen Zimmer, die kargen Interieurs. Es geht ins Offene, zum Mond eben, den Zilla im dritten Raum auf einer monumentalen Videoprojektion als Orbit im Stratosphärenrauschen mit Sonnenbrille und wehendem Blumenschaal umkreist, ‚Behind the Moon‘, 2023, bevor wir in den hinteren Galerieräumen wieder in Monotypien zu Birkenwäldchen mit Mondbällen spielenden Mädchen entführt werden, u.a. ‚Moonrise‘, 2022.

Zuvor aber wird’s wuchtig. Noch das Präludium des tropfenden Wasserhahns im Ohr, geht’s in den Ozean. Im grossen Saal der Galerie warten fünf monumentale querformatige Monotypien, 152 x 250 cm, ‚Bartwal‘, ‚Blauwal‘, ‚Moby Dick‘, ‚Bartwal‘ 2‘ und ‚Buckelwal‘, alle 2022. Die Gravität und Anmut der Tiere findet Entsprechung in der aufwändigen Herstellung der Bilder im Hochdruckverfahren, das für weiche Konturen und charmante Fehlstellen wie weisse Punkte sorgt: Für die grossen Formate gab es keine Presse, sodass die Künstlerin das Atelier verlassen musste und den nötigen Druck – schöne Pointe am Rande – im Freien mit einem Gabelstapler herstellen musste. In diesem Kunstwinter lässt’s sich mit Zillas Mondfahrt erfreut, tief und befreit durchatmen.

Der Text erschein redaktionell überarbeitet zuerst in Kunst Bulletin 3/2023

Zilla Leutenegger, Moony, 2022 © the artist and Galerie Peter Kilchmann, Foto: Sebastian Schaub

Veröffentlicht unter Ausstellungen, Performative Visual Arts, Zeitgenössische Kunst | Kommentar hinterlassen

Megalässig. Isa Genzken. Zeichnung Plan Collage 1965-2018, in der Berliner Galerie Buchholz

Auschnitt Collage © Isa Genzken | Buchholz

Isa Genzken in der Galerie Buchholz noch bis 25. Februar 2023 – Glamourös und vulgär, verletzlich und stark, niemals berechenbar kommt die Kunst von Isa Genzken daher. Längst zu Ruhm und Ehre gelangt, lässt sich die junggebliebene Grand Dame der deutschen Gegenwartskunst nicht festlegen. Skulpturen, Objekte, Assemblagen, Installationen, Architekturen, aber auch Bücher und Videos gehören in ihr umfangreiches Repertoire.

Dass die Raumkünstlerin auch eine begnadete Zeichnerin ist, konnte man ahnen. Nun gibt die Galerie Buchholz, die seit 25 Jahren mit der Künstlerin zusammenarbeitet, einen umfangreichen Einblick in ihr graphisches Werk. Eine kleine Sensation. Denn hier breitet sich die künstlerische Entwicklung Genzkens von ihren figurativen Anfängen in den frühen 1970er-Jahren in allen verblüffenden Findungen und Wendungen aus.

Wir begegnen ihr sehr nahe in einer Fotocollage aus dem Jahr 2003, «Balance». Wie Filmstreifen klebt sie hochkant Schwarz-Weiss-Fotos eines fröhlichen Gelages in den 1970ern mit ihrem damaligen Lebensmenschen Benjamin Buchloh auf blauen Karton. «Alles, was ich mache, ist in gewissem Sinn auch ein Selbstportrait,» gab sie einmal zu Protokoll. Hier wird es greifbar. Ebenso wie ihr performativer Ansatz, der mathematisch-technische, konkrete und minimalistische Momente ihrer Kunst in der Lebenswirklichkeit, vor allem auch in der gebauten Umgebung mit großem Humor und Gespür für lebendige, soziale Körper erdete.

Buchholz stellt zum Beispiel den fast fünfeinhalb Meter langen Computerausdruck «Untitled» 1976/77 aus, den die Künstlerin mit einem IT-Spezialisten in Köln erstellte, Vorarbeit zu einem ihrer «Ellipsoide», die als langgestreckte Bodenskulpturen den Raum wie die Bewegung der Betrachtenden strukturieren. Faszinierend auch ihre Suche nach einer gültigen Form für Eingriffe im öffentlichen Raum wie die Zeichnung «Scetch for ‘ABC’» 1987 für die Landesbibliothek Münster. Wir sehen Genzken unplugged und megalässig. Nichts wie hin!

Redaktionell überarbeitet erschienen in Tip-Stadtmagazin im Dezember 2022

© Isa Genzken | Buchholz

Veröffentlicht unter Ausstellungen, Geschmacksfragen, Zeitgenössische Kunst | Verschlagwortet mit , , | Kommentar hinterlassen

Aufruf zum rLSD – dem redLipStickDay: 24. Oktober

Wie die NZZ heute, Freitag, den 10. Februar, berichtete, ist am vergangenen Sonntagmorgen Vio La Cornuta von drei jungen Männern zuerst blöd angetanzt, mit homophoben Sprüchen bedacht und schliesslich zusammengeschlagen worden. Es reichte, dass Vio im Dragqueenoutfit unterwegs war und die Jungs freundlich zur Rede stellte. Ihre Kollegin und zwei Begleiter konnten nicht mehr eingreifen.

Der Fall der Vio La Cor

Der Fall Vio La Cornuta ist kein Einzelfall. Weder in homophoben Ecken Berlin-Neukölln noch in der Züricher Langstrasse oder Seebach. Im ersten Jahr der statistischen Erfassung 2021 wurden in Zürich nach Polizeiangaben achtundsechzig „Hate Crimes“ registriert, 2022 dreiundsechzig. Sind die Zahlen niedrig? Jede Woche, mehr als ein LGBTQ+-phobischer Übergriff wenig? Jeder Übergriff ist einer zuviel. Es handelt sich bei den Zahlen um regisitrierte Fälle, nicht um die Fälle, die nicht angezeigt wurden, die widerlichen und für die Betroffenen erniedrigenden und anstrengenden sogenannten Bagatellen. Und getraut sich in der Zwinglistadt ein Mensch sein Anders-Sein mit seinem Qutfit, einem queeren zumal auszudrücken? Nein, auch schräge wie verächtliche Blicke sind schwer auszuhalten.

Daher rufen wir zu einem Tag der Haltung, einer Bejaung des Anderen, des Anderen in uns selbst auf: der Red Lip Stick Day, den rLSD zum 170ten Geburtstag des non-binären Dichters Oscar Wildes, am 24. Oktober 2024.

Jeder Mann – gerne auch jede Frau – und alle, die queer und non-binär dazwischen leben, tragen in der Office, im Supermarkt und auf dem Bau, im Theater und zum Restauratbesuch zum Zeichen des Anderen-in-sich-selbst und Signal der Solidarität einen roten Lippenstift als personal und commuity signature peace. Rrose Selavy aka Marcel Duchamp hat es vorgemacht, David Bowie und Robert Smith von The Cure und haben den Stafettenstab in den 1970ern weitergetragen.

Und es kann weitergehen, mit Eurer Unterstützung. Stellt Euch vor, Manuel Neuer hätte zum Fussball-Weltmeisterschaftsauftritt in Katar statt der inkriminierten Pride-Regenbogen-Binde am Arm zur Solidarität mit der Queer-Community einfach einen Red Lipstick auf die Lippen gezogen. Mut Leute! Prominente Beauty Shops spendieren am 24.10. den Pasanten einen roten Lippenstift. Jedermann hat einen roten Lippenstift zum Nachziehen in der Tasche.

Polizeiberichte, Zeitungsartikel, ab und an eine Mahnung der Politik oder Solidaritätsadressen aus den Communities sind schön und gut – die diskreten aber auffälligen roten Lippen unter einem Männerschneuz machen Politik!

Nun ist die Reihe an Euch, liebe Hetero-Männer, Haltung zu zeigen!

Schirmherren, anzufragen: Dieter Meier, Stephan Müller, Manuel Neuer, Kim d’Horizon, Rainald Goetz, Max Frisch, Rosa von Praunheim, Conchita Wurst, Peter Weibel, Olav Scholz, Alain Berset, Emanuel Macron, Dieter Bohlen, Mathias Döpfner, Holger Friedrich, Christoph Aeschlimann, Greta Thunberg u.a.

Zürich, 10. Februar 2023

Call for rLSD – the redLipStickDay: October 24.

As reported by the NZZ today, Friday, February 10, on the weekend Vio La Cornuta has been first stupidly danced at by three young men last Sunday morning, with homophobic slogans and finally beaten up. It was enough that Vio was wearing a drag queen outfit and confronted the guys in a friendly manner. Her colleague and two companions were unable to intervene.

The case of Vio La Cornuta is not an isolated one. Neither in homophobic corners of Berlin-Neukölln, nor in Zurich Langstrasse or Seebach. In the first year of statistical recording in 2021, sixty-eight „hate crimes“ were registered in Zurich, according to police data, and sixty-three in 2022. Are the numbers low? Every week, more than one LGBTQ+-phobic assault little? Every assault is one too many. The numbers are regisitrated cases, not the cases that were not reported, the disgusting and for the victims humiliating and exhausting so-called trivialities. And does a person in the Zwinglistadt dare to express his otherness with his outfit, a queer one at that? No, also oblique as contemptuous looks are difficult to endure.

So we call for a day of attitude, an affirmation of the Other, the Other within ourselves: the Red Lip Stick Day, the rLSD for the 170th birthday of the non-binary poet Oscar Wilde, on October 24, 2024.

Each man – gladly also each woman – carries a red lipstick as personal and commuity signature peace in the Office, in the supermarket and on the construction site, in the theater and to the restaurant attendance to the indication of the other in itself and signal of the solidarity.

Beauty shops donate on 24.10. in their entrances to each passerby a red lipstick. Everyone has a red lipstick in their pockets to draw on.

Police reports, newspaper articles, the occasional reminder from politicians or solidarity addresses from communities are all well-and-good – the discreet but eye-catching red lips under a man’s cross make politics!

Now it’s your turn, dear straight men, to show stance!

Zurich, 10. Februar 2023, Max Glauner

Veröffentlicht unter Geschmacksfragen, Kollaborative, Kulturgeschichte, Kunst im öffentlichen Raum, Performance & Performing Arts, Psychogeografie, Theater, Theorie | Kommentar hinterlassen

Shifting Spaces: Christoph Rütimanns Psychogeographien – Dérive Winterthur

Die Stadt ist Bühne. Sie wurde als düster, bedrängend aber auch als ein heller Möglichkeitsraum beschrieben. Für den Flaneur wird sie zum Ort der Beobachtung und Erforschung menschlichen Verhaltens, von Anpassung, aber auch von Veränderung und Rebellion. In dieser Tradition steht die «Psychogeografie», ein Begriff, der von uns vorläufig als künstlerische Praxis der Raumerkundung und Raumbesetzung vorgeschlagen wird. KUNSTFORUM International widmete dieser Praxis als «Urban Performance» bereits 2014 zwei Monografien.[1] Wir ergänzen nun Perspektiven, die damals nicht in den Blick kommen konnten, wie den Schweizer Maler, Zeichner, Installations-, Performance-, Foto- und Videokünstler Christoph Rütimann, der hier im Zentrum steht. Er zeigt gegenwärtig die Summa seiner Werkreihe Geh-Länder im Kunst Museum Winterthur.[2] Rütimann auch als einen begnadeten Psychogeographiker zu apostrophieren liegt nahe, auch wenn er sich selbst nie als solchen bezeichnet hat.

Psychogeographie

Ein Grund, der Begriff Psychogeografie ist bis heute diffus.[3] Das liegt nicht zuletzt in seinem Ursprung: Seine Gründungsurkunde stammt aus dem Jahr 1955 oder 1957. Ganz eindeutig ist das nicht festzustellen.[4] Es handelt sich um Guy Debords Guide psychogéographique de Paris, lithografierte Karte in der Größe von 60cm x 74cm. Sie hätte mit vier weiteren, darunter die berühmte Collage The naked city in einer Ausstellung mit Asger Jorn, Yves Klein und Ralph Rumney in Brüssel gezeigt werden sollen. Sie kam nicht zustande. In unzähligen Publikationen reproduziert, steht der Guide heute emblematisch für die Bewegung des Situationismus und die ebenso 1957 gegründete allerdings kurzlebige Vereinigung der Situationistischen Internationale. Er zeigt neunzehn wie Inseln aus einem Pariser Stadtplan ausgeschnittene Quartiere, die durch rote Pfeile dynamisch verbunden sind. Debords Guide/ Führer lässt in zwei mal sieben Felder falten, wobei sich links aussen ein Deck- und Rückblatt ergeben. Neben dem Titel werden auf dem Deckblatt die Herausgeber, das Bauhaus Imaginiste, und der Erscheinungsort Dänemark vermerkt. Statt einer Legende erweitert das Rückblatt den Titel und erklärt vielversprechend, es handele sich hier um einen «discours sur les passions de l’amour», einen Diskurs über die die Leidenschaften der Liebe, und führt weiter aus: «Pentes psychogéographiques de la dérive et localisation d’unites d’ambriances, par G.-E. Debord.» Wir übersetzen frei: Es gehe spezifisch um psychogeografische Schräglagen, «pentes», die durch eine Drift, ein Umherschweifen, «dérive», und Verorten, «localisation» von gefühlten Ambivalenzen, hervorgerufen werden. Mit dieser Spezifikation will der Autor verunsichern. «Psychogeografie» wird hier nicht in der Nominalform benutzt, sondern adverbial. Warum? Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass Debord alles vermeidet, was einer Fixierung, einer eindeutigen Form nahekommen könnte. Der Neologismus Debors intendiert die Dynamik einer Graphie, einer Schrift, einer Kunst, die sich aus der Interaktion der (künstlerisch-revolutionären) Gefühlslage und der städtischen Umgebung ergibt, um aus dieser Konfrontation, Erschütterung, Paarung ein Neues, Widerständiges entstehen zu lassen. «Das charmante Adjektiv» (Debord) eignet sich dazu treffender.[5]

Geh-Länder

Bevor das Auge die Szene auf dem Videoschirm erfasst hat, drängt sich ein Geräusch auf. Es legt sich über die Bilder, ehe die Betrachtenden begreifen, was zu sehen ist: Ein Surren, Rattern, Rauschen, schreibt sich als Kontinuum in die Wahrnehmung ein, während das Auge kaum Halt findet. Das Spiel mit Klängen, Tönen, akustischen Interferenzen zieht sich wie ein roter Faden durch Christoph Rütimanns Werk.[6] In seiner Werkreihe Geh-Länder ist es das Rattern eines Kamerawägelchens, mit dem er Kanten, Simse, Dachtraufen, Rohre, Bauabsperrungen in und an Gebäuden und Gebautem abfährt, und so klein es ist, nahezu alle Umgebungsgeräusche schluckt, als wolle es alle Aufmerksamkeit für sich und seine aberwitzige Fahrt beanspruchen.

Inzwischen existieren in Rütimanns Serie Geh-Länder weit über 150 Videos, die jeweils unter dem Titel Handlauf, einerOrtsangabe oder dem fokussierten Gegenstand firmieren, Handlauf Seoul, Peking, Rämistrasse zum Beispiel oder Pilze, Bier, Kürbis. Im letzteren aus dem Jahr 2004/05 fährt die Kamera an einem trübnebligen Herbsttag auf einem am Boden liegenden orangeroten Plastikschlauch entlang in ein Kürbisfeld. Drei Minuten dauert die aberwitzige Fahrt, bis sie im Loop von Neuem beginnt: aus der Bodensicht auf ein rotes Monstergewächs zu, bis zur Kollision mit der Kamera, die nach dem Black und Cut kurvenreich auf ihr nächstes Ziel, den nächsten Kürbis zusteuert. Es drängt sich für den Vorgang der Eindruck auf, er sei surreal. «Subreal» wäre treffender. Zumal der Künstler ausser der gewohnten Kameraperspektive in Augenhöhe an der abgebildeten Realität bis auf die durch ein Hindernis motivierten Cuts nichts am Bild manipuliert. Sie sorgen für einen scheinbar reibungslosen Ablauf der Fahrt, einen linearen Gang, der so jedoch nie hat stattfinden können.

Die Linie als potenziell unendliches Kontinuum, als Grenze und Ordnungsprinzip, das mit der Orientierung zugleich für Irritation und Unordnung sorgt, begleitet das Schaffen des Künstlers seit seinen Anfängen. Nah an Gordon Matta-Clarks skulpturalen Durchbrüchen, Schnitten, Öffnungen in Häuser und Gebäuden in den 1970er-Jahren begann Rütimann 1991 mit geschwungenen Stahlrohrkonstruktionen wie Zeichnungen im Raum Bauten monumental zu durchstossen, zu überformen. Die endlose Linie 1991 am Bieler Musée Schwab, 1992 in einer verlassenen Zürcher Villa, 1993 im belgischen Breda und 1994 in einem Bürobau in Zürich-Opfikon definierte die Räume neu, löste ihre Grenzen und Kubaturen auf, brachte sie in Bewegung, ebenso wie die geschlossene Linie von der Kubatur unterbrochen, vom Betrachtenden ergänzt und vollendet werden musste. Die Stahlrohre der Installation Die endlose Linie 1992 in Zürich fuhr Rütimann mit der Kamera auf einem kleinen Wagen ab. Zu den Handläufen war es allerdings Jahre später ein kleiner Schritt, wenn man so will, ein «Performative Turn», der sich mit dem Ort und der Umgebung auseinandersetzt.

Besitzen

Dafür steht die Aktion Besitzen an der Berner Kunsthalle 1999. Rütimann setzte sich für das Foto der Einladungskarte mit Stuhl und Magritte-Pfeife (Cesi n’est pas une pipe) im Mund auf den Dachfirst des Gebäudes und blickte in die Ferne. Für die Ausstellung waren statt des Künstlers zwei Kreisrunde Kameraschienen auf dem Dach montiert, deren Bilder schwindelerregend in den Ausstellungssaal projiziert wurden.

Mit den Handläufen konnte das flüchtig-parformative der Aktion und die Kamera-Apparatur zusammengeführt werden. Die Handwagenkamera erschloss den Raum durch Untersicht in Hüfthöhe und am Boden, geleitet durch vorhandene Linien und Fluchten, die Stadt, Architektur und Umgebung vorgaben. 1999 inszenierte Rütimann die Performance Handlauf Zürich. Auf seinem Weg in die städtische Kunsthalle Helmhaus trug Rütimann eine Kamera und einen Bildschirm auf dem Rücken, über den das Publikum den Walk im Videobild mit seiner Realität abgleichen konnte. Und es entstehen die Handläufe Berlin 5 down/ Schlauch/ Rosarohr und Travemünde Mole, in denen der Künstler nicht mehr in Erscheinung tritt.

Promenadologie

Die Theoriebildung der Psychogeografie blieb auf akademischer Seite dürftig. Das situationistische Abrakadabra auf künstlerisch-aktivistischer Seite kreiste mehr um die Begriffe des Umherschweifens, «dérive» und des In-Beschlag-Nehmens, «détournement». Da sticht eine Figur heraus, die erst mit der documenta14, 2017, wieder ins Bewusstsein einer breiteren Kunstöffentlichkeit gerückt ist, der Basler Lucius Burckhardt, der von 1972 bis 1997 den Lehrstuhl für Soziökonomie urbaner Systeme im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung der Gesamthochschule Kassel innehatte. Ohne explizite Bezugnahme auf Debord und den Situationismus entwickelte er mit seiner Frau Annemarie in den 1980er-Jahren ein heuristisches Mittel der kritischen Stadtraumerschliessung und -erforschung, die Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie.[7] Ging es Debord darum, das «dérive» gegen das bourgeoise Schlendern des Flaneurs zu beschleunigen, geht es dem Ehepaar Burckhardt um Entschleunigung. Doch wie der Psychogeografie geht es der Promenadologie um neue Blickwinkel, Beobachtungen, Einsichten falsche (stadt-)planerischen Konzepte und Machtverhältnisse, Ein- und Ausschlussmechanismen von Architektur und Städtebau, die quer zum Gemeinwohl stehen. «Hinschauen, das tun wir oft schon nicht mehr.» äussert sich Burckhardt in einem späten Interview, «Die Spaziergangswissenschaft sucht den Ort und das Lebendige auf, versucht sich darin das Betrachten wieder zu entdecken. Betrachten heisst, neue Blickwinkel erschliessen, Sehweisen ausprobieren, Ungewohntes wahrnehmen, störende Elemente aufdecken, Fehler machen und bei sich selbst bemerken.»[8] Die Burckhardts finden dafür verschiedene Settings, in der die Promenadolog*innen als teilnehmende Beobachtende unterwegs sind. Dabei spielt das kinematografische Darstellung des Ergangenen eine entscheidende Rolle, die Übersetzung des Gesehenen in ein Narrativ, das mit den Erfahrungen der anderen abgeglichen werden kann, um zu verlernen, was jede*r sieht, das er*sie gelernt hat zu sehen.

Handlauf

Rütimanns Handläufe, die nun in den 2000er-Jahren bis heute entstehen, positionieren sich zwischen Debords beschleunigter Psychogeografie und Burckhardts abgebremster Spaziergangswissenschaft. Der Künstler filmt nicht ein Spaziergang, ein Umherschweifen ab, sondern produziert mit dem ungewohnt positionierten Kameraauge und dem Filmschnitt einen artifiziellen Blick, der das Auge des Betrachtenden in seinen Sog zieht. Erst recht, wenn Rütimann seine Handläufte wie jetzt in Winterthur im Cluster präsentiert.

Auch wenn wir das großzügige Foyer des Kunst Museum Winterthur am Stadthaus betreten, umfängt uns das Surren Rütimanns Handwägelchen aus 20 Monitoren. Er hat sie an einem auskragenden Stahlrohr-Gestänge im repräsentativen Art-déco-Treppenhaus montiert. Ein Hintergrundrauschen, wie eine Kaskade, die wir zunächst nicht identifizieren oder orten können. Hier beginnt eine Reise mit dem Video auf einem der 20 Screens Handlauf Linz, 2011, 4’33‘‘, und steigt geografisch mit unterschiedlich lang, maximal 25 Minuten geschnittenen Abstechern nach London und Odessa über 20 Handläufe in Städten der Donau-Linie, Bratislava, Wien, Budapest über Travemünde in den baltischen Raum. Im benachbarten zweiten großen Haus des Kunst Museums am Stadtgarten baut Rütimann auf dem Absatz der Haupttreppe ein weiteres Gestänge für 19 weitere Handläufe von von Aqaba, 2007, 5‘10‘‘ bis Venedig San Marco, 11‘09‘‘ 2009 auf. Durch das einfache, sich immer wiederholende Prinzip der Kamera auf einer Kante mit Unterbrechungen und Cuts entsteht so eine imaginäre, weltumspannende Linie, eine Verbindung an deren Rändern außerhalb der Fluchtline immer Neues und Irritierendes stattfindet und zu entdecken ist. Fortsetzung und zugleich vorläufigen Endpunkt findet diese in einer wandfüllenden Dreikanal-Videoprojektion, neuesten Handläufe, Handlauf Kunst Museum Winterthur | Villa Flora, sowie Beim Stadthaus und Reinhart am Stadtgarten, 2022. In schier atemlosen Staccato geht es hier durch die Säle, Räume, Trepp auf Trepp ab und auf die Dachkanten. Wir suchen nach Orientierung, Halt im kubistischen Raumgewitter der mal waagrechten, dann gekippten Perspektiven, dem Rattern des Wägelchens. Dann gewöhnt sich das Auge, sieht die Wände, Decken, Dachschindeln tanzen und wir denken, die gebaute Welt sei immer schon so schön formatiert gewesen. Es kommt nur auf die Performanz und Perspektive an.


[1] KUNSTFORUM International Urban Performance I u. II, Bd. 223 u. 224, 2013/2014.

[2] Ausstellung Christoph Rütimann. Handlauf Museum Winterthur und weitere Welten, im Kunst Museum Winterthur, vom 29.10.2022 – 19.03.2023; Katalog in Vorbereitung.

[3] Vgl. Anneke Lubkowitz, Einleitung, Psychogeografie, Berlin 2020

[4] Vgl Roberto Orth, Phantom Avantgarde. Eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst, Hamburg 1990; S.156 ff

[5] Siehe Guy Debord, Les Lèvres Nues #6, September 1955, online: https://www.cddc.vt.edu/sionline/presitu/geography.html

[6] Dazu Marcus Landert, In den Tönen. Ton und Klang im Werk von Christoph Rütimann, in: Christoph Rütimann. Der grosse Schlaf, Katalog, Kunstmuseum St. Gallen 8.12.2007-17.02.2008 u.a., Hrsg. V. Adolphs, K. Bitterli, M. Landert, Nürnberg 2007, S.21 ff

[7] Siehe Lucius Burckhardt, Markus Ritter, Martin Schmitz, Warum ist Landschaft schön? Die spaziergangswissenschaft, Berlin 2006

[8] Lucius Burckhardt, Querfeldeindenken mit Lucius Burckhadt, Radiofeature von Martin Schmitz, deutschlandfunk 2019, online: https://www.deutschlandfunk.de/querfeldein-denken-mit-lucius-burckhardt-1-3-von-der-102.html

Veröffentlicht unter Ausstellungen | Kommentar hinterlassen

Lina Lapelytė: Undine rockt. Chorgesang als plastischer Körper

Teil 6 der KUNSTFORUM-Reihe SHIFTING SPACES

Die theatrale Installation „Sun & Sea (Marina)“ machte die litauische Künstlerin, Performerin, Regisseurin und Musikerin Lina Lapelytė 2017 auf einen Schlag zur bekannten Größe im Kunstfeld. Sie errang mit ihren Kolleginnen Rugilė Bardžiiukaitė und Vaiva Grainytė für den litauischen Pavillon auf der Venedig-Biennale einen Goldenen Löwen. „Sun & Sea“ tourte von da an auf Festivals in Räumen und Besetzungen. Lina Lapelytė entwickelte ihre Performative Visual Art auf faszinierende Weise weiter, zuletzt auf dem Zürcher Theaterspektakel mit ihrer Arbeit „What happens with a dead fish?“. Ihr ist der 6. Teil der KUNSTFORUM-Reihe Shifting Spaces gewidmet. Im Auftrag der Stadt München arbeitet sie gegenwärtig an einer großangelegten Klanginstallation im öffentlichen Raum in 2023.

Allen Künstlerinnen und Künstlern dieser Reihe ist gemeinsam, dass sie an der Schnittstelle zwischen Bewegung und Objekt, zwischen Performativer und Visueller Kunst arbeiten.[1] Mit einer immer grösser werdenden Durchlässigkeit zwischen den Gattungen, Medien aber auch den Ausbildungsgängen an Kunst-, Design- und Theaterhochschulen und nicht zuletzt durch die Neugierde und den Erfindungsreichtum der Künstlerinnen ist in den letzten Jahren ein enormer Reichtum an freilich oft flüchtigen, in Fotos, Videos und Dokumentationen nur unzureichend überlieferbaren Formaten entstanden, die sich als Performative Visual Arts nur schwer rubrizieren lassen, aber zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Warum? Ich möchte hier zwei Gründe anführen. Erstens, wir verlernen mit der digitalen Welt, ihren Gadgets und Sozialen Medien die Begegnung. Die Begegnung mit unserer Umwelt, ihren Objekten, ihren Tücken, den Mitmenschen. Damit wächst jedoch auch wieder das Bedürfnis, direkt zu kommunizieren, Körper zu spüren, Blicke auszuhalten, Schweiß zu riechen, sich gemeinsam, unmittelbar diskursiv auszutauschen. Der Kunst kommt dabei eine elementare Rolle zu.[2] Sie vermag Situationen herzustellen und Gemeinschaften zu stiften, macht Angebote, veranstaltet über die Party hinaus Feste. Indem sie Situationen schafft, wird das Publikum performativ einbezogen, aktiver Teil der Aufführung, der künstlerischen Setzung. Im besten Fall wäre die Kunst Katalysator eines gesamtgesellschaftlichen „Empowerments“.

Zweitens, damit träten die Performative Visual Arts eine Gegenbewegung zum neuerlichen Strukturwandel des Kunstfelds an, der sich, wie jüngst von Isabelle Graw treffend beschrieben, in einer Spaltung kritischer Öffentlichkeit in Internet-Bubbles und Asset-Owner-Resorts vollzieht.[3]  Künstler:innen entdecken die Möglichkeiten, sich im Performativen gegen die Fetischisierung ihrer Arbeiten zu wehren und Vermarktungszwängen und Verwertungsketten zu entziehen. Sie entziehen sich dem viszeralen Feld des Internets wie des Blue-Chip-Markts – freilich um den Preis, dass sie meist auf mäzenatische Großzügigkeit oder auf die von der öffentlichen Hand subventionierten Theater und Festivals angewiesen sind. Dennoch ist man dem Druck marktgerechte Wahre zu liefern zunächst enthoben. Das Publikum zeigt sich differenzierter, die Teilnehmer heterogener, ein intensiver Diskurs wahrscheinlicher – Theatergänger finden sich im Kunstfeld und umgekehrt. Die Neu-Definition und Entfaltung der Visual Performative Arts steht erst am Anfang.


Die Kulisse ist atemberaubend. Im Sonnenuntergang glänzt die Altstadt Zürichs und verdoppelt sich in den dunklen See, wie die eng und teuer bebauten Ufer nach Osten, wo unter schwarzen Gewitterwolken die Alpenriesen grüßen. Es ist kurz nach acht Uhr. Wir befinden uns Anfang September am Ufer der kleinen, durch einen Steg mit der sogenannten „Landi“-Wiese verbundenen Stäfa-Insel am Zürichsee. Alljährlich findet auf dem Areal in eigens dafür erstellten Bühnen und Lokalen das Theater-Spektakel statt.

Lina Lapelytė grinst herüber. Sie trifft unter einer Plane am Regiepult mir ihren Darsteller-Sänger:innen letzte Verabredungen für die Aufführung. Alle sind in graue Kapuzenoveralls gehüllt. Darunter Neoprenanzüge. Gleich geht es ins Wasser, ihre Bühne, Scheinwerfer auf Pontons rechts und links, zwei Luftkissen und eine im Wasser vollständig versenkte Treppe stehen bereit, davor Mikrofone, das Publikum wird an der Böschung in drei Zuschauerreihen Platz finden, die unterste schwimmend am Ufer vertäut.

Die Regisseurin gibt ein Zeichen. Die 18 Mitglieder des Seefelder Kammerchors steigen mit ihr ins kühle Nass und drapieren sich wie tot auf dem rechten Ponton als hätte man’s mit den Leichen Géricaults „Floss der Medusa“ zu tun. Die Zuschauer werden eingelassen. Das Spiel beginnt im schwindenden Tageslicht mit einem zarten Lied Lapelytės, worauf die Darsteller:innen ins Wasser gleiten und sich frontal zum Publikum auf der Treppe in vier Reihen formieren. Ein starkes Bild. Untote aus einem Zwischenreich, der Chor, wie schwebend im Wasser, beginnt zu singen: „What happens with expired food?“

Wasserwesen

Sirenen, Nixen, Undine, Melusine, die schöne Lau – die Sagenwelt ist voll von Gestalten, die den flüssigen Aggregatzustand mit einem ideologisch unterfütterten Ur-Weiblich-Kreativen in Verbindung setzen. Künstlerinnen wie Joan Jonas[1] oder jüngst die Choreographin Florentina Holzinger[2] schließen sich dem kritisch-affirmativ an, ohne sich vereinnahmen zu lassen.

Auf die Frage wie sie es mit dem Wasser hält, lacht die litauische Künstlerin, „ja, das kommt in meinen Arbeiten öfter vor,“ antwortet sie. „Aber ich habe das Wasser nicht gesucht. Es hat mich gefunden.“ Ihr erster öffentlicher Auftritt im nassen Element war 2013 mit einer „Candy Shop“-Performance im Rahmen des Veranstaltungsreihe „Wet Sounds“, das immersive Licht- und Ton-Badeerlebnisse verspricht. Von eindeutigen Zuschreibungen hält sie nichts: „Mit mir oder meiner Identität hat das wenig zu tun.“

Lina Lapelytė ist ein Multitalent. 1984 im litauischen Kaunas geboren, spielt sie nahezu jedes Instrument, das sie in die Hand kriegt. Sie ist ausgebildete klassische Violinistin, Sound Artistin und im Besitz eines Masters in Bildhauerei am Londoner Royal College of Art. Darüber hinaus zeichnet sie in ihren Produktionen neben der Musik als Szenografin und Regisseurin verantwortlich. Ihr Leben pendelt zwischen der litauischen Hauptstadt Vilnius und London.

Dieser zwischen den Ländern und Disziplinen nomadisierende Hintergrund erklärt, warum sie bevorzugt weder in der Black Box des Theaters noch im White Cube der Galerie agiert. Sie erfindet ihre eigenen sitespezifisch definierten Räume, Dramaturgien und Inszenierungen. Ihre Produktionen entwerfen weder ein lineares Narrativ noch hinterlassen sie Objekte, die sich in den Kunstmarkt einspeisen ließen, von Video-Arbeiten abgesehen.

Nach Beendigung ihres Studiums ging es Schlag auf Schlag. Seit 2013 veröffentlicht sie Performance-Serien, in denen sie Laiensänger und ihr Publikum in ungewöhnlichen Aufführungssituationen durch ein breites Spektrum von Genres vom Mainstream und Indi-Volk bis zur Oper zieht. Das Singen wird zum affektiven gemeinschaftsstiftenden Ereignis, der Chor zu einem zentralen Moment ihrer Arbeit. „Mir geht es dabei aber nicht um die Musik an sich. Sie besitzt eine funktionale Rolle,“ kommentiert Lapalytė. Aus dem Klangkörper formt sich eine soziale Gemeinschaft.

Auf berührende und befreiende Weise gelang ihr dies in der ersten Gemeinschaftsarbeit mit Rugilė Barzdžiukaitė und Vaiva Grainytė „Have a Good Day!“, die 2011 ihen Anfang nahm, eine Oper für 10 Sängerinnen, die auf Podesten vor dem Publikum uniform aufgereiht als Supermarkt-Kassiererinnen von ihrem Alltag, Wünschen und Träumen sangen. Aus der Routine bricht Widerstand heraus, aus der Regel, das Unregelmäßige, auch Bedrohliche. Wie in der zweiten Arbeit der Drei, „Sun & Sea“ zur Venedig Biennale 2019. Warum sie nicht unter einem gemeinsamen Label auftreten? „Das brauchen wir nicht. Wir sind zu unterschiedlich, als dass unter einen Hut passen,“ antwortet die Künstlerin trocken.

Choral empowerment

Chorisches Empowerment, Berührung, Begegnung durch die Gewalt der Musik und Kraft der Bilder, die auf den umgebenden Raum bezogen sind, das begegnet uns in Lina Lapelytės Arbeit immer wieder. Und immer wieder spielt Wasser eine entscheidende Rolle: Zur Riga Biennale RIBOCA2, 2020, versammelt sie im Kollaborativ mit dem Architekten Mantas Petraitis in „Currents“ an einem Flussarm 2‘000 Holzstämme um einen Steg, baut eine Soundinstallation auf und zeigt mit zwei Back-up-Sängerinnen die Performance „Instructions for the Woodcutters“. Ihr suggestiver Sprechgesang, „They were going on and on“, wird in „What Happens With A Dead Fish?» wieder auftauchen. Serielle, repetitive Verschiebungen in den Kompositionen, Motiven, Bildern und Themen sind stellen ein zentrales Prinzip ihrer Arbeit dar.

Die Künstlerin passt die Brüssler Uraufführung von „What Happens With A Dead Fish?» 2021 den Zürcher Gegebenheiten an. Was vorher in einem zum Kunstenfestivaldesarts eingerichteten provisorischen Schwimmbad gezeigt wurde, muss nun in den See. Der Chor wird grösser. Die Sänger bekommen die schwimmenden Inseln als Aktionsflächen hinzu, die Gesänge, die Choreografie werden erweitert. Konnte sich das Publikum in Brüssel frei bewegen, sitzt es nun in Reihen vor den Akteur:innen. «Sicher, mir ist lieber, die Leute können ihre Positionen und Perspektiven während der Aufführung frei wählen, hier war aber mehr Theater angesagt und weniger Kunst,» stellt Laypelytė verschmitzt fest.

Immerhin war es möglich hinter der Absperrung die Aufführung zu verfolgen. Die Vorstellungen waren überlaufen. Nach gut 50 Minuten verliess das Publikum mit glänzenden Augen das Terrain. Eigenartig, was man da zu sehen bekam. Nach «Sun & Sea» als Allegorie auf eine Gesellschaft vor der Apokalypse nun die Allegorie einer post-apokalyptischen? Singende Aliens, tolle Musik, bestechende Tablaux vivants – zum Schluss als Rettungssymbol die Sänger:innen auf ihrer Schwimminsel wie Rodins «Bürger von Calais» gruppiert. Lina Lapelytė freut sich über diese Beschreibungen. Ausgedeutet ist ihre Arbeit damit jedoch noch lange nicht.




[1] Shifting Spaces portraitierte nach der Video-, Performance und Theaterkünstlerin Wu Tsang (Auftakt März-April 2020, Band 266), der Video- und Performancepionierin Joan Jonas (Band 268), der Tänzerin und Video-Künstlerin Alexandra Bachzetsis (Band 272) und dem Immersive Art Space des Departements Darstellende Künste und Film der Zürcher Hochschule der Künste (Band 276) in seiner letzten Ausgabe den Künstler und Szenographen Dominic Huber (Band 279).

[2] Siehe die Konzepte der Situationistischen Internationale und Beuys Figur der Sozialen Plastik. Eine erneute entpolitisierte Begründung erfolgte Anfang der 1990er-Jahre durch Nicolas Bourriauld mit dem Begriff der «Relational Art».

[3] Isabelle Graw, Willkommen im Resort. Sechs Thesen zum neuerlichen Strukturwandel des künstlerischen Feldes und zu dessen Folgen für die Wertbildung, in: Texte zur Kunst, Heft Nr. 127 / September 2022, S. 43-65

[1] Joan Jonas mit dem Oceans Space in der Thyssen Bornemisza Art ContemUnd porary an verschiedenen Orten, online: https://www.tba21.org/#item–JoanJonas–1928

[2] Florentina Holzinger, Ophelia’s Got Talent, UA Volksbühne am Rosa Luxemburgplatz 15.09.2022, online: https://www.volksbuehne.berlin/#/de/repertoire/ophelias-got-talent

Veröffentlicht unter Ausstellungen, Geschmacksfragen, Kollaborative, Kunst im öffentlichen Raum, Performance & Performing Arts, Psychogeografie, Theater, Zeitgenössische Kunst | Verschlagwortet mit , , , , | Kommentar hinterlassen

Post-Histoire. Zum Deutschen 9. November

Überlegungen zur Ikono-Chronologie Deutscher GeschichteRevisited

Joseph Beuys, auf dem Festival der neuen Kunst“, Aachen 1964, Foto: Heinrich Riebesehl

Da war etwas aus dem Ruder gelaufen. Das Foto zeigt einen Mann mit Hut. Er hebt pathetisch den rechten Arm, etwas zu hoch um ihn mit dem Deutschen Gruß zu identifizieren. Mit dem linken streckt er dem Betrachter ein Kruzifix entgegen. Aus der Nase strömt Blut, der Blick wirkt abwesend wirr. Der Mann mit Kruzifix, Weste und Hut ist Joseph Beuys. Nahezu jeder würde ihn noch heute zweiundzwanzig Jahre nach seinem Tod auf einem Foto von Heinrich Riebesehl aus dem Jahr 1964 wiedererkennen. Joseph Beuys arbeitete früh mit seinem Image, mit einem medialen Erscheinungsbild, das ihn als Künstler, als Person Joseph Beuys authentifizierte.

Auf dem Foto von Riebesehl tritt der Künstler nun – blutende Nase – als Opfer auf. Ungeschminkt. Das Blut ist echt, der Blick zeigt Schock. Doch er gibt sich zugleich – Gestus der Gabe und Kreuz – als Märtyrer, als Erlöser. Mit dem Schwarzweißbild wird das Image zur Ikone. Damit steht es  am Anfang einer Reihe von Versuchen der Nachkriegslinken der deutschen Geschichte Herr zu werden: Denn das Foto wurde am 20. Juli 1964 während des „Festivals der neuen Kunst“ an der TU Aachen aufgenommen. Im Verlauf des Festivals kam es Tumulten und Schlägereien, bei denen auch Beuys verletzt wurde. Das Festival musste abgebrochen werden. Auch wenn das Veranstaltungsdatum anfangs zufällig gewählt war, wurde es – der Tag des Stauffenberg-Attentats auf Adolf Hitler – durch die Organisatoren und Presse zum Politikum.

Die Martyrergeste von Joseph Beuys am 20. Jahrestag des Attentats konnte und wollte sich nicht außerhalb einer kunstinteressierten Öffentlichkeit eingegraben. Doch die Strategie Bildmacht und historisches Datum in eigener Sache zu nutzen, hatte sich bewährt und wurde in den Folgejahren ohne bewussten Bezug auf das Fluxusevent immer wieder aufgegriffen. Dabei wurde nicht das singuläre Ereignis des 20. Juli 1944 beschworen, sondern der 9. November, mit dem sich weitaus mehr Zäsuren in der deutschen Geschichte verbinden als gemeinhin angenommen und darüber hinaus also zu fragen ist, in welchem Zusammenhang sie stehen.

Um die erste Frage zu beantworten, reicht fast schon ein Klick zum Eintrag 9. November bei Wikipedia. Relevant für die deutsche Geschichte sind allerdings nur die Jahre 1848, 1918, 1923, 1938, dann 1967, 1969,1974 und schließlich 1989, also die Jahre der modernen Nationalstaaten nach Einführung des Gregorianischen Kalenders 1586 in katholischen, 1700 in protestantischen Ländern.

Alle genannten Daten haben eins gemeinsam: Sie verbindet Opfergänge, verkappte Revolutionen und Revolten. Das kann kein Zufall sein. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich über den Verlauf der Geschichte eines Nationalstaats Jahrestage mit epochaler Bedeutung häufen, ist wenig nahe liegend. Bemerkenswert ist allerdings der Umstand, dass in der Geschichte moderner Staaten freilich jährlich ein Tag wiederkehrt, nämlich der Nationalfeiertag, der Tag also, der den Gründungsakt – den Tag der Befreiung, der Selbstständigkeit oder der Verkündung einer Verfassung – symbolisch wiederholt und damit auch das Ende der Geschichte markiert: Ab hier soll der Gemeinschaft Gleichberechtigter nichts mehr Wesentliches passieren. Mit dem nationalen Feiertag soll gerade das ausgeschlossen werden, was gefeiert, nämlich ein Gründungsakt, der die vorige Gemeinschaft (revolutionär) abgelöst hat. Gerade aber dieser Vorgang findet in der Widerholung und Beschwörung des 9. Novembers in der deutschen Geschichte statt. Der 9. November hat seine eigene Dynamik.

Allgemeiner bekannt ist die Tatsache, dass der Putschversuch am 9. November 1923 mit dem Marsch auf die Feldherrnhalle in München, bewusst auf den Tag gelegt wurde, an dem fünf Jahre zuvor Philipp Scheidemann vom Reichtag aus die erste Republik ausrief. Diese im Nationalsozialistischen Deutschland als Tag der Erhebung gefeierte gescheiterte Umsturzversuch, veranlasste nicht nur Goebbels dazu, den SA-Vandalismus der Reichsprogromnacht 1938 als Volkserhebung zu legitimieren, sondern bot durch seinen ritualisierten Ablauf auch Gelegenheit zu planvollen Attentaten: Georg Elser versuchte am 9. 11. 1938 im Bürgerbräukeller in München einen Anschlag auf Hitler zu verüben, der Schweizer Student Maurice Bavaud am 9. 11. 1939 von einer Tribüne an der Feldherrnhalle aus. Nach der Verhaftung wurde Bavaud 1941 in Berlin-Plötzensee hingerichtet, Elser 1945 kurz vor der Befreiung im KZ Dachau ermordet.

Doch schon vor Scheidemanns Akt am Reichstag und auch nach Bavauds Attentat ergibt sich eine bemerkenswerte Chronologie, die über eine bloß zufällige Kette der Ereignisse hinausgeht. Philipp Scheidemann hatte als Führer der Mehrheits-SPD die Republik eigentlich gegen seinen Willen erst ausgerufen, nachdem er erfahren hatte, dass dies Karl Liebknecht vom Stadtschloss der Hohenzollern aus tun wolle. Der Kaiser sollte eh zurücktreten, was er zwei Tage später am 11. November auch tat. Nun kam Scheidemann seinem USPD-Kollegen aus taktischen Gründen zuvor. Liebknecht sah sich in der revolutionär-marxistischen Tradition, die die Gründung einer neuen Gesellschaft nicht dem Rücktritt eines Monarchen überlassen konnte. Daher der Plan das Stadtschloss als Kulisse, den 9. November als Datum des Gründungsakts zu wählen: Für diesen Akt gab es ein Zeitfenster von einigen Tagen. Doch mit diesem Zeitpunkt konnte er ein revolutionäres Opfer beschwören, dessen Vermächtnis nun mit einem neuerlichen revolutionären Akt eingelöst würde: Am 9. November 1848 hatte man vor den Toren Wiens den linken Abgeordneten der aufgelösten Paulskirchenversammlung Robert Blum mit dem Versprechen auf freies Geleit gelockt und ohne Prozess standrechtlich erschossen. Was lag also näher die mit Blum begrabene Revolution genau siebzig Jahre später wieder auferstehen zu lassen?

In dieser Durchkreuzung von Opfer, Befreiung und Erlösung, so die Logik, kommt die Zeit als sinnloser Ablauf der Ereignisse zum Stillstand, zur Epoche.

Für die 9. November der Nachkriegsgeschichte mit Ereignischarakter – bis hin zu Günther Schabowskis hilfloser Antwort auf die Frage, ab wann die neue ständige Ausreiseregelung gelte: „Meines Wissens ab sofort,“ am 9. November 1989 – ist diese Chronologik ebenso anzunehmen, auch wenn sie einmal mehr die Seite des Opfers einmal mehr die Seite der Erlösung betonen. Der revolutionäre Ereignischarakter steht 1967 im Vordergrund, als die Studenten Detlev Albers und Gert Hinnerk Behlmer am 9. 11. das Transparent „Unter den Talaren/ Muff von 1000 Jahren“ vor den Ordinarien im Audimax der Uni Hamburg aufziehen. Doch erst der Koinzidenz des Tags der Amtseinführung des neuen Rektors, der Aktion und der Anwesenheit eines Agenturfotografen, der den Spruch verbreitete, ließ die Aktion in die Geschichtsbücher eingehen. Von Albers und Behlmer ist nicht bekannt, dass sie mit dem Datum Epochales verbanden.

Anders bei der Stadtguerillagruppe Tupamaros West-Berlin, die am 9. November 1969 unter dubiosen Umständen und bis heute unbekannten Motiven einen Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in der Berliner Fasanenstraße verüben wollte.

Anders am 9. November 1974. Hier stirbt der 183 cm große Holger Meins nach einem Hungerstreik auf 30 kg abgemagert in der rheinland-pfälzischen Justizvollzugsanstalt Wittlich an Unterernährung. Der Ort seines Todes ist eher zufällig. Beim Zeitpunkt kommt man nun leicht ins Grübeln. Während die Unterbringung von Holger Meins den Überlegungen der deutschen Justizbehörden zuzurechnen ist, die vor der Zusammenlegung der gefangenen RAF-Kämpfer im eigens erbauten Hochsicherheitstrakt der Stuttgart-Stammheimer Haftanstalt darum bemüht war, ihre erklärten Feinde weit voneinander entfernt zu isolieren, steht der Zeitpunkt seines Todes in der Reihe eines keineswegs zufälligen Datums. Um gegen ihre Haftbedingungen zu protestieren und um als Kriegsgefangene zu gelten, tritt die gefangene RAF-Führung Andreas Baader, Holger Meins, Jan Carl Raspe, Gudrun Ensslin, Brigitte Mohnhaupt und Ulrike Meinhof auf unterschiedliche Gefängnisse der Republik verteilt Mitte September 1974 in einen dritten Hungerstreik. Während man darum bemüht war, die Sache nach außen hin glaubhaft durchzuziehen, jedoch heimlich Nahrung zu sich nahm, hatte man Meins als Opferfigur auserkoren, der diese Rolle auch annahm und diszipliniert durchzog. Gudrun Ensslin versorgte ihn mit regelmäßigen Durchhalteparolen. Anfang November schreibt sie: „Du bestimmst, wann du stirbst. Freiheit oder Tod.“ Holger Meins, ein Hungerkünstler, der trotz Zwangsernährung auf den 9. November hinsiecht, um Robert Blums Vermächtnis zu erfüllen, der sinnlosen Folge sinnloser und grausamer Ereignisse deutscher Geschichte ein Ende zu setzen?

Der Kassiber Gudrun Ensslins an Holger Meins macht es wahrscheinlich, dass er im Bewusstsein der Propagandawirksamkeit des Datums wider medizinischer Wahrscheinlichkeit darum bemüht war, exakt am 9. November 1974 zu sterben. Damit hätte die Bewegung endlich ihr protestantische Opfer- und Erlöserbild, das an Christus und KZ gemahnte und Ikonengleich als An- Klagebild durch die Straßen geführt werden konnte. Es signalisierte Wahrheit. Hier würde nicht eine Person, sondern die Sache, nicht das Ego, sondern das Ethos vertreten.

Max Glauner
Der Text „Der 9. November“ erschien zuerst 2008 in „Deutschlandsaga-Fanzine, die 70er-Jahre“, Hrsg. Schaubühne am Lehniner Platz, Christoph Barner, Andreas Seyfert, Berlin 2008

Veröffentlicht unter Ausstellungen, Kulturgeschichte, Psychogeografie, Theorie, Zeitgenössische Kunst | Verschlagwortet mit , | Kommentar hinterlassen