Fetische überall

Vom fragmentierten Blick, nacktem Fleisch und parzellierten Körpern. Der Fetisch in der Kunst. Eine Ausstellung in der Grafischen Sammlung der ETH Zürich

Tiepolo Vater und Sohn, Das Märtyrium der Heiligen Agata. Foto: Wiki commons

Es gibt Worte, von denen geht ein Leuchten aus, das dasjenige von Bezeichnungen wie „Baum“, „Tasse“, „Auto“ bei weitem überstrahlt. Scheinbar unergründlich bergen sie ein Geheimnis, ein Versprechen. Eines ist das Wort „Fetisch“. Ist es selbst ein Fetisch?

Googeln wir den Begriff, bekommen wir allerdings zuerst Seiten zu sexuell Deviantem, viel nackte Haut in Lack und Leder geboten. Die Faszination des Begriffs weicht schnell stereotypen Bildern der Triebregulierung. War da nicht mehr? Wo bleibt die Magie des Worts?

Wenn Sie über den faszinierenden Begriff „Fetisch“ etwas erfahren und zugleich eine der wenig bekannten Schatzkammern der Stadt Zürich kennen lernen wollen, sei Ihnen bis Anfang Juli 2024 ein Besuch in der Graphischen Sammlung der ETH-Zürich empfohlen. Dort wird bis zum 7. Juli die Ausstellung „Im Rausch(en) der Dinge. Fetisch in der Kunst“ gezeigt, kuratiert von der stellvertretenden Leiterin des Hauses, Alexandra Barcel und der Zürcher Autorin, Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen. Das verspricht Augenfreude und Aufklärung.

Seit ihrer Gründung der Sammlung im 19ten Jahrhundert sind in der ETH dank umfangreicher Ankäufe und grosszügiger Schenkungen über 160‘000 Arbeiten überwiegend auf Papier aus dem 15. Jahrhundert bis heute zusammengekommen. Sie ist damit die grösste Sammlung ihrer Art in der Schweiz. Und jederzeit für jedermann und -frau zugänglich. Die Besucherinnen können sich dergestalt an unbezahlbaren Originalen von Albrecht Dürer bis Angelika Kauffmann, von Francisco Goya bis Louise Bourgeois oder Zeitgenossinnen wie Zilla Leutenegger und Miriam Cahn erfreuen und unterrichten.

So ist auch jetzt eine faszinierende Auswahl hochkarätiger Arbeiten zu sehen, die an Exquisität ihres Gleichen sucht. Ein tolles Ding des vergleichenden Sehens quer durch die Jahrhunderte. Die Kuratorinnen erlauben sich Werkgruppen zusammenzubringen. Da hängen zum Beispiel unter dem Motto «Die Waffen einer Frau» zwei aggressiv-monströse Future-Pistolen von Sylvie Fleury als Siebdrucke auf schrillem gelbem und rotem Spiegelpapier, 2004, über detailversessenen Kupferstichen des Renaissancekünstlers Hans Sebald Beham, eine Göttin der «Gerechtigkeit» und eine «Venus» aus dem Jahr 1539. Von deren Schwert und Speer schweifen wir hinüber zum Dolch einer drallen Schönen, eine «Lucrezia», die sich wie die Sage geht, durch Selbstmord der Schande entzog. Und so weiter entlang formaler und thematischer Linien, die die Besucherin und der Besucher selbst von Blatt zu Blatt ziehen darf.

Von der Lehre zur Kunstbildung

Anfänglich als akademische Kollektion von Anschauungs- und Studienobjekten für Dozenten und Studierende gedacht, wandelte sich die Funktion der Sammlung mit den Jahren. Blätter des Gebrauchs, die, wenn überhaupt, ihren Kunstwert aus dem dargestellten, reproduzierten Kunstwerk bezogen, wurde selbst der Status von Kunstwerken zugeschrieben. Sie hatten nicht mehr nur eine weitentfernte Architektur, ein Ölgemälde, eine Skulptur naturgetreu wiederzugeben oder in einer Skizze des Künstlers deren Idee, sondern überstiegen an Wertschätzung diese oft bei weitem. Aus der Frühzeit der serienmässigen Reproduktion wie dem Kupferstich sind Beispiele bekannt, die diesen Wettstreit bereits aufnehmen wollten, Dürers Meisterstiche 1514, oder Rembrandts Die drei Kreuze 1653. Damit rücken sie mit zunehmender Aufmerksamkeit und gleichzeitiger Statusvermehrung des Besitzers klandestin an das heran, was die grossartige Ausstellung von Barcal und Bronfen thematisiert, den Fetisch in der Kunst. Und damit den Fetisch Kunst, der im Idealfall durch das Kunstwerk selbst zum Gegenstand wird.

Albrecht Dürer, Nemesis, 1501/1502, Foto: Wiki-Arts-Project Gemeinfrei

Zum Beispiel in Albrecht Dürers Druckgrafik Nemesis, 1501 bis 1502. Der Titel, für die Epoche ungewöhnlich, ist durch den Künstler selbst dank einer Tagebuchnotiz überliefert. Der Kupferstich steht programmatisch für den Künstler und gleichermassen programmatisch zum Auftakt der Ausstellung. Wagen wir eine erste Annäherung an das vertrackte Thema und schauen das Blatt genauer an. Eine nackte geflügelte Frau, die griechische Göttin des gerechten Zorns, der Bestrafung und der austeilenden Gerechtigkeit, schwebt als Weltbeherrscherin weit über einem Alpenstädtchen auf einer Kugel. Sie steht würdevoll im rechten Profil und hält ein Zaumzeug in der Linken zur Zügelung unkontrollierter Regungen, einen kostbaren Pokal in der Rechten zur Auszeichnung der Würdigen. Ein Tuch flattert über ihre linke Schulter gelegt mit beiden Enden nervös im Wind und kontrastiert die ruhig-gemessene Gestalt der Frau ebenso wie der weisse Hintergrund der oberen Bildhälfte in scharfem Gegensatz zu der detailreich geschilderten Landschaft darunter steht, in die der Wolkensaum der Himmelsphäre durch den Druck der Kugel zu sacken scheint.

Was ist nun Fetisch, beziehungsweise taugt dazu? Das Blatt selbst? Die Frau? Die Zügel, der Pokal? Der Kupferstich ist von einer stupenden Ausführung, kleinteilig, Detailgenau bis in winzige Landsknechtsfiguren im Alpental oder gekräuseltem Haar in der ansonsten so streng gebundenen Frisur der Frau. Ihr Körper entspricht in Gestalt und Proportion den Idealmassen einer weiblichen Figur, die Dürer in den Vorstudien zu seiner posthum veröffentlichten Proportionslehre mathematisch genau ersonnen hatte. Der weibliche Körper als vermessenes, objektiviertes und damit beherrschbares und verfügbares Wesen – ein Fetisch par excellence. Das Muster kehrt heute in den ewiggleichen Porn-Film-Dramaturgien und KI-generierten Social-Media-Live-Style-Schönheiten wieder.

Barcel/Bronfen erklären und kommentieren nichts. Sie lassen die Bilder sprechen. Der Fetisch Frauenkörper, der männliche Blick auf Weiblichkeit unterläuft Dürer ohne weitere Reflexion. Anders seine Inszenierung der Kunst. Der Fetisch Kunst wird direkt und bewusst thematisiert. Die Bewegung der Göttin nach rechts lässt offen, wohin die sich bewegt und wem sie den Pokal übergeben wird. Wir können annehmen, dass der Künstler selbst gemeint ist. Die junge Kunst des Kupferstichs, in der es Dürer von den Zeitgenossen anerkannt zu höchster Meisterschaft gebracht hatte, hatte sich erst wenige Jahrzehnte zuvor aus der Gold- und Silberschmiedekunst entwickelt. Dürers Vater war Goldschmied, also mit der Herstellung solcher Pokale befasst. Dürer hätte in seine Fusstapfen treten sollen. Er hat sich erfolgreich gegen diese Suksession gewehrt. Nun übertrumpft er seinen Vater und dessen Handwerk. Der Kupferstecher kann die Schicksalsgöttin selbst in höchster Perfektion durch Ritzen und Sticheln in die Kupferplatte zur Erscheinung bringen, wodurch ihm selbst die Trophäe der Nemesis zuteil wird.

Ist der Birnenpokal aber tatsächlich eine Trophäe, die Trophäe ein Fetisch? Das liegt im Standpunkt des Betrachters. Indem die Betrachterin bei Dürers „Nemesis“ den Empfänger, die Empfängerin des Pokals jederzeit imaginieren kann, wird ihm auch die Kraft der Einbildung bewusst. Er kann sich an die Stelle des Künstlers ausserhalb des Bildes setzten und sich der Macht des Schicksals bemächtigen. Wir partizipieren dergestalt an der Schöpferkraft des Künstlers. Wir sind Teil des Kraftfeldes Kunst.

Fetisch Begriffe – Fetisch begreifen

Der elaborierte Rezeptionsvorgang von Dürers Kupferstich weist zurück auf die einfachste Konnotation des Fetisch-Begriffs. Er entsteht im 16ten Jahrhundert mit den ersten direkten Kontakten spanischer und portugiesischer Konquistadoren mit indigenen Völkern, in deren religiösen Gebräuchen Kultfiguren im Mittelpunkt standen. Durch Wortverschiebungen aus dem Lateinischen „facere“, machen, ins Portugiesische „feitiço“, Zauberspruch, mutierte das Wort „Fetisch“ als pagane Kultfigur, der als belebtes Wesen magische Kräfte zuerkannt wurde. Das aus der christlichen Gottesverehrung verbannte Götzenbild kehrte wieder. Durch Anbetung oder besänftigende Praxis, Weihegaben, Gesänge, Tanz übertrug sich die Energie eines Ahnen oder einer Gottheit auf den einzelnen oder die Gemeinschaft. Aus Sicht des aufgeklärten Europäers konnte das nur des Teufels sein.

Seinen negativen Charakter hat das Wort „Fetisch“ bis heute behalten. Ethnografen und Anthropologen sprechen auch nicht mehr von Fetisch sondern „Kraftfiguren“. So verstehen wir heute den Fetisch, als ein Gegenstand, der über seine Funktion, seinen Gebrauchswert hinaus Bedeutung erfährt, bzw. als Energiequelle magische Kräfte besitzt, wie der Tennisball, der uns einmal zum Sieg führte, oder die Autogrammkarte eines Stars, mit der wir uns zum inner circle einer Fangemeinschaft zählen dürfen. In Ball und Karte kondensieren sich Leistungen performativer Vorgänge der Vergangenheit und befähigen den Besitzer, die Besitzerin in jeder Situation, die Kraft wieder aufzurufen. Dennoch bleibt Fetisch und Fetischismus der Begriff für eine korrupte Objektbeziehung. Dafür steht Fetisch, bzw. „Warenfetisch“ bei Karl Marx, nach dem in der Kapitalgesellschaft die Werthaftigkeit einer Ware undurchsichtig bleibt.

Der Soziologe Hartmut Böhme knüpft 2006 mit seinem Buch „Fetischismus und Kultur“ mit Fug an. Der Fetisch ist demnach nicht abgeschafft oder in Darkrooms der Subkulturen abgetaucht. Vielmehr sind Fetische unter uns und überall. Weiterhin knüpfen wir, Individuen und Kollektive, Bedeutungen und Kräfte, die diesem Ding nicht zukommen. Denken wir an Markentaschen, Sonnenbrillen, schnelle Autos. Das Verhältnis zum Fetisch ist ein zwanghaftes, die Beziehung zu ihm ein bewusst gehandhabter Mechanismus, der in seiner inneren Struktur allerding unbewusst bleibt und nicht durchschaut wird. Fetischisierung wird im 19. Jahrhundert zu einem Sammeltitel, unter welchem alles subsumiert wird, was als irrationale, abergläubische oder perverse Objektbeziehung gilt. Und das setzt sich vom 20ten ins 21te Jahrhundert fort. Siegmund Freud hat einen Erklärungsansatz dafür angeboten: In der Psychoanalyse Fetischismus als Objektbeziehung beschrieben, die durch eine Verleugnung der Kastration gekennzeichnet ist. Der Fetisch fungiert als phallisches Ersatzobjekt, das eine mit frühkindlichen Allmachtsphantasien verbundene Dingbeziehung aufrechterhält. Fetischismus heisst hier eine übersteigerte Bindung an ein (beliebiges) Objekt aus permanenter Kastrationsangst. 

Bei den von Barcel/Bronfen vorgelegten Blätter ist diese These nicht von der Hand zu weissen. Die Kunstgeschichte liefert haufenweise abgetrennte Köpfe von Goliath – der her bezeichnender Weise nicht vertreten ist – über Samson bis Holofernes und Johannes.

Die Moderne überwindet, verabschiedet vormoderne Formen und Institutionen des Ritus, der Magie, der Feste nicht. Sie vermag deren Energien nicht aufzuheben und zu binden. Sie werden vielmehr auch in Fetischen freigesetzt und flottieren durch alle Systemebenen der modernen Gesellschaft. Sie sind dort ausser Kontrolle, ausser Rand und Band.

Daher die grandiosen wie skurrilen Über-Inszenierungen von banalen Dingen, der Hang zum drall-barocken in der Ausstattung.

Bilder sprechen – der Mnemosyneatlas

Mit Barcel/Bronfen sehen wir nun Fetische überall. Seit 1924 ist die Grafische Sammlung auf der Südostseite des Semperbaus untergebracht. Dort hat sie im Erdgeschoss einen quadratischen, hohen, mit Holztäfelungen ausgestatteten Ausstellungssaal. Sind die vier filigranen schiefergrauen Stahlstützen desselben, nicht als solche zu bezeichnen? Sie fallen hier aus dem Rahmen. Wider die stilistische Gesetzlichkeit von steinerner Last und Stütze führen sie eine gänzlich andere Materialität als Zeichen der Moderne um 1860 vor. Obwohl offensichtlicher Zeigegestus und Fetisch des Architekten fallen sie im Ausstellungsdispaly nicht auf. Acht in Paaren im Quadrat gegeneinander gestellte, leicht nach hinten geneigte Tafeln gestatten es, die ausgestellten Grafiken in acht thematischen Gruppen zu präsentieren. Bei Barcel/Bronfen sind dies unter anderem „Der parzellierte Körper“, „Faszination Tot“ oder „Im Dickicht der Städte“. Dürers „Nemesis“ ist wie gesagt gleich am Anfang in der Rubrik „Der erotische Blick“ präsent.

Eine Schule des Sehens. Barcel/Bronfen geben einen kurzen Einführungstext ihres Unternehmens an die Hand, verzichten aber auf Katalog und erläuternde Texte. Was geschieht bei einem unverstellten Blick auf die Arbeiten? Die Tafelwände erlauben es den Kuratorinnen ein Netzwerk der Blicke herzustellen. Der legendäre Mnemosyne-Atlas des Kunsthistorikers und Kulturhistorikers Aby Warburg (1866-1926) gab Takt und Methode vor. Warburg, dessen Arbeiten und Mäzenatentum am Anfang der einflussreichen Kunsthistorischen Schule der Ikonologie standen, hatte sich den formalen und inhaltlichen Übertragungen antiker Stoffe und, wie er es nannte „Pathosformeln“, das heisst analogen Haltungen und Bewegungen überwiegend mythologischer Figuren bis in die Gegenwart verschrieben. Seine aussergewöhnliche Sammlung meist fotografischer Reproduktionen von Bildwerken der Antike, über die Renaissance bis in die Moderne, wurde auf Tafeln montiert und wieder neu arrangiert. Erst vor kurzem gelang eine Aufwändige Rekonstruktion des legendären Projektes in Buchform (Aby Warburg, Mnemosyne Bilderatlas. Kommentar, Hrsg. Roberto Orth, Axel Heil, Haus der Kulturen 2024). Diese Neuedition liegt in der Ausstellung aus.

Also wieder der Blick auf die Tafel mit Dürers Schicksalsfürstin ganz nach links. Da tanzt eine «Salomé», 1913, eines Pablo Picasso. Turnerisch balancierend reisst die Prinzessin ihr Bein mehr bemüht als graziös in die Höhe. Oder Louise Bourgeois «The View from the Bottom of the Well” ,1996. Grosse Güte, welche Kostbarkeiten kommen allein hier zusammen. Können wir uns satt sehen? Wie schön die Torsion, wie zart die Brüste einer «Dame auf Diwan, aus dem Fenster blickend», ein Blatt aus der Serie „Specimen of Polyautography“, 1803, von Heinrich Füssli. Wir könnten weiter schwären, halten uns hier jedoch besser zurück, um unsererseits nicht in den Verdacht des Fetischisten zu geraten. Das mehrt den Ruf bis heute nicht.

Der Text erschien redaktionell überarbeitet am 8. April 2024 im Online-Magazin Republik.ch

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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