Maîtresse de vol. Sylvie Fleury im Kunstmuseum Winterthur

Sylvie Fleury, ‹White Gold›, 2010, Installationsansicht Kunstmuseum Winterthur, Foto: Max Glauner

Winterthur – Maîtresse et complice de vol, eine Meisterdiebin und ihre Komplizen. Mit dieser kurzen Formel lässt sich das Verhältnis der Genfer Künstlerin Sylvie Fleury, Jahrgang 1961, zu ihrem Publikum treffend beschreiben. Dass das Multitalent, ihre Arbeit reicht vom intelligent arrangierten Objets trouvés – ihre berühmten Luxus-Einkaufstüten wie ‹Milano› 1991 – über Videos, Skulpturen, Malerei bis hin zu Installationen, weiter munter, augenzwinkernd und auf der Höhe der Zeit produziert, ahnten wir vor kurzem mit einer kleinen Ausstellung in der Bechtler-Stiftung mit der Schau ‹Double Positive›.

Fleury hat mehr zu sagen. Das zeigt die Sommerausstellung des Kunstmuseum Winterthur beim Stadthaus mit der Ausstellung ‹Sylvie Fleury. Shoplifters from Venus›, also Ladendiebe oder Diebstähle von der Venus, wobei wir gerne an die Göttin, den Planeten, Ausserirdische oder uns selbst denken können.

Bevor es in ihre in retrospektiver Fülle ausgebreiteten Welt in den Erweiterungsbau geht, legt die Künstlerin in den Sälen der Klassischen Moderne programmatisch erste Köder aus. Gleich im zweiten Saal stossen wir auf ‹White Gold›, 2010. Auf einem Sockel glänzt eine zerknautschte Luxustasche silbrig, aus der ebenso versilbert ein Bilderrahmen ragt. Wir ahnen, das Objekt behauptet nicht nur durch den Sockel, sondern durch sein Material, Bronze, eine Skulptur, ein Kunstwerk zu sein, das es mit den Klassikern aufnehmen will: Die Ölmalerei eines Ferdinand Leger an den Wänden veredelt den glitzernden Gegenstand und degradiert zugleich zu dessen Kulisse. Fleury steckt sie munter in die Tasche.

Aneignung, Crossover und Remodellierung verschiedener sozial-gesellschaftlicher Bedeutungs- und Anerkennungssysteme beherrscht die Künstlerin meisterhaft, grosszügig, humorvoll, nie didaktisch oder bevormundend. Wir sehen uns ausgerechnet im kleinsten Saal mit einem beeindruckenden Arsenal Raketen konfrontiert, phallische Monumente in glänzender Lackierung (‹First Spaceship on Venus›, 2023, aus verschraubten Zink-Platten (‹First Spaceship on Venus›, 1995) oder weissem Puschel-Überzug (‹First Spaceship on Venus›, 1998) – alles, was männliche Ermächtigungsfantasien beflügeln mag und zugleich konterkariert. Komplizenschaft mit wem, womit ist aufgerufen? Komplizenschaft mit dem faszinierenden, fetischartigen Objekt oder der Künstlerin und ihrem Spiel des Uneindeutigen? Eine Antwort gibt die absolut sehenswerte Schau bis Ende August.

Der Text erschien zuerst redaktionell leicht überarbeitet in Kunst Bulletin 7-8/2023

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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