Pappkkameraden und Papierfigurinen bei Agnes Scherer „Ein seltsames Spiel“ in der Kunsthalle Sankt Gallen

Installationsansicht, Agnes Scherer; „Ein seltsames Spiel“, Kunsthalle Sankt Gallen 2023, Foto: Max Glauner

Dioramen üben eine ungebrochene Faszination aus. Kalvarienberge, Krippen und lebensgroße Kreuztragungsgruppen aus Wachs, Gips, Stoff und Pappmaschee sorgten für Augenfreude und volksfromme Anteilnahme am Heilsgeschehen. In Naturkundemuseen, Wachsfigurenkabinetten, auf Volksfesten und im Märchengarten schaudern wir im Verein mit unseren Kindern vor dreidimensionaler Lebensnähe, die digital nicht zu überbieten ist.

Distinktions- und Legitimationsdruck der modernen und postmodernen Kunstproduktion hat das Genre weitgehend zum Verschwinden gebracht beziehungsweise der Zerstreuungsindustrie überlassen, statt sich mit dreidimensionalen Erfahrungsräumen zu beschäftigen. Marcel Duchamps «Etant donnés», 1946-1966, Louise Bourgeois «Destruction of the Father”, 1974, Environments von George Segal, Ed Kienholz, Anna Oppermann oder Ilya Kabakow blieben Ausnahmen wie die Miniaturfigurenmassakerkunst der Gebrüder Chapman oder die gebastelten Pappmodelllandschaften eines Thomas Hirschhorn.

Es gibt Indikatoren, dass sich das nun ändert. Im Schatten des Digitalen meldet sich das Präsenzversprechen der Kunst. Begehbare Erlebnisräume erklären das Publikum zu Darstellern inszenierter Lebenswelten wie in Mike Nelsons «I, Imposter», einer verlassenen Karawanserei im britischen Pavillon auf der Venedig Biennale 2011 oder Kaary Upsons «There is no Such Thing as Outside», 2017/2019, ein multimedialer Tumultraum des Verdrängten. Wir erinnern uns an das Buzzword «Immersion», das distanzlose Aufgehen des Publikums im Kunsterleben.

Die Ausstellung «Ein seltsames Spiel» der deutschen Agnes Scherer, Jahrgang 1985, in der Kunsthalle Sankt Gallen spielt damit und liefert eine intelligente Umdeutung. Die Professorin für Malerei am Salzburger Mozarteum triggert Sehnsuchtsbilder und verweigert die vorbehaltlose Hingabe. Theater trifft auf Kunst, Kunst auf Theater.

Installationsansicht, Agnes Scherer; „Ein seltsames Spiel“, Kunsthalle Sankt Gallen 2023, Foto: Max Glauner

Agnes Scherer stellt lebensgrosse Szenografien grotesker Figurengruppen aus bemaltem Pappmaschee her, die popkulturelle Standards zum Thema Liebe und Beziehung aufrufen. Scherer serviert in Sankt Gallen drei, ein Ritterturnier, «Savoir Vivre», 2023, eine Hochzeit, «A thousand times yes», 2022, und einen Vampirbiss vor dem Halbrund einer Niagarafälle-Kulisse bei Nacht mit angeleinten heulenden Wölfen, «A thousand times goodnight», 2022.

Die drei Szenen, hat die Künstlerin als begehbare Bilder monumental und durch das Material Papier widersprüchlich filigran ohne Bühne oder distanzierende Plattform in die drei hohen Räume der Kunsthalle gebaut. Das scheint bei allem Aufwand auf den ersten Blick trivial. Wir staunen über die lebensgrossen Pferde, Ritter, Lanzen, die Burgfräuleins auf der Tribüne bei «Savoire Vivre» im ersten Saal. Wir reiben uns im zweiten Raum ungläubig und gerührt vor einem Hochzeitspaar die Augen, dessen Braut mit langer Schleppe ausgestattet ist, die von sechs artig knienden Kindern getragen wird. Wir staunen gleichermassen vor einem Himmelbett aus bunt bemaltem Papier «Trousseau dérangé N. 1» 2022», das im dritten Saal der Vampirszene zugeordnet ist.

Installationsansicht, Agnes Scherer; „Ein seltsames Spiel“, Kunsthalle Sankt Gallen 2023, Foto: Max Glauner

Dennoch stutzen wir. Vampirszene, Hochzeit, Ritterspiel werden nicht täuschend echt vorgeführt. Das Ritterturnier kommt nicht solide und historisch verbürgt wie in der Dresdner Rüstkammer daher. In Scherers Arrangements sind Finten und Fallen eingebaut. Stereotype Rollenmodelle, kollektive Archetypen bürgerlicher Geschlechterverhältnisse, platonische Liebe, ehelicher Bund, Sexualität und Amour Fou stehen zur Disposition.

Die Ritterszene wird von einem friesartigen Landschaftspanorama und einer begehbaren Tribüne mit jubelnden Pappmascheehoffräuleins gerahmt. Das Panorama zeigt Frauen in einer Schwarzwaldlandschaft Gänse mästen, während ihre Männer Bäume fällen, um jene Turnier-Lanzen zu produzieren, die von den Papprittern in der Figurengruppe zerbrochen werden. Damit kontextualisiert die Malerei die Ritterszene neu, bestätigt und verschiebt die Hierarchie der Geschlechter, die im Tournier als Archetyp vorformuliert wird, in eine gespenstisch-naive Gegenwart. Bei näherem Besehen ist diese auch beim Tjost, dem Ritterturnier, gegenwärtig. Die jubelnden Hofdamen halten Handys in den Händen. Im Helm eines Ritters steckt ein Flugzeug und wir sind mittendrin.

Installationsansicht, Agnes Scherer; „Ein seltsames Spiel“, Kunsthalle Sankt Gallen 2023, Foto: Max Glauner

Scherer geht es um die theatralische Inszenierung, die Querbezüge der Figuren, weniger um ihren ästhetischen Eigenwert. Sie strahlen den Reiz des kontrollierten Dilettantismus aus, den wir an Henri Rousseau oder Pierre Klossowski schätzen.

Agnes Scherer setzt dem formal noch eins obendrauf. Arbeiten auf Papier, damit verbinden wir bis heute Druckgrafik, Zeichnungen und Gouachen. Bei Scherer geht das gemalte, bezeichnete Papier in den Raum, bildet illusionistisch Objekte ab. Die beeindruckenden Figuren müssen durch transparente Fäden an Wänden und Decken gehalten werden. Hielten sie diese nicht, würden die Figuren heillos in sich zusammenfallen. Kunst muss hängen, hat Andreas Kippenberger einmal zu bedenken gegeben. Agnes Scherer schliesst an dieses Statement an, um es verblüffend und intelligent zu konterkarieren.

Installationsansicht, Agnes Scherer; „Ein seltsames Spiel“, Kunsthalle Sankt Gallen 2023, Foto: Max Glauner

Zuerst veröffentlicht in KUNSTFORUM International Bd. 293, Dezember 2023

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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