Der Traum vom grossen Erzählen. „Il Gattopardo“ im Schauspielhaus Zürich

Am Ende der drei Stunden zehn Minuten Aufführung stellte sich eigentlich nur die eine bange Frage: Hatte jemand am Schauspielhaus den Roman „Il Gattopardo“ jemals gelesen? Denn ausser Kostüm- und Kulissenschlacht, als gälte es „Tosca“ oder „Madame Butterfly“ zu wuppen, war in der Dramatisierung des Stoffs nichts zu sehen, was auf eine Lektüre hindeutete, die im Gelesenen etwas liest, das den Lesenden und damit uns, die Gegenwart, interessieren könnte.

Damit trifft sich aber die Züricher Provinzveranstaltung mit dem Schicksal des „Il Gattopardo“-Autors Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Sein einziger Roman kam 1956 im Format bei Tolstoy oder Joseph Roths beheimatet, heillos zu spät. Einen Verleger fand der Spätberufene nur mühsam und seine Popularität erreichte der Autor erst mit der Verfilmung Luchino Viscontis 1963. Dieser las ihn narzistisch auf die eigene Familiengeschichte hin und liess die Protagonisten kongenial mit Burt Lancaster, Alain Delon und wir staunen, Mario Girotti, aka Terence Hill, besetzen. Das Zentrum des Begehrens, Angelica, gab schön, fern und sinnlich Claudia Cardinale.

Ihre Figuren sind in Zürich allesamt mit Knallchargen besetzt, eine Besetzung die man in der Illusionismus-gesättigten Geradeaus-Inszenierung fast schon als ein Gegen-den-Strich-bürsten lesen könnte. Beim Zuschauer steigt Unmut auf. Eine gute Nachricht: Der Film dauert auch etwas über drei Stunden. Die Zeit ist hier besser investiert. Die vierzig Minuten Ballszene am Ende des Films und der finale Abgang Burt Lancasters in eine dunkle Gasse werden in Zürich durch den schier endlosen Monolog des sterbenden Fürsten ersetzt. Hier weiss die Regie endgültig nicht mehr zu sagen und kapituliert ohnmächtig vor der Prosa, die sie zu bemeistern trachtete.


Filmstils aus „Il Gatopardo“ von Luchino Visconti 1963

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IL GATTOPARDO

von Giuseppe Tomasi di Lampedusa
aus dem Italienischen von Burkhardt Kroeber
Bühnenfassung von Pınar Karabulut und Hannah Schünemann
REGIE: Pınar Karabulut

SCHIFFBAU HALLE
SCHWEIZER ERSTAUFFÜHRUNG: 29.11.2025

3 Stunden 30 Minuten (inkl. 20-minütige Pause)
1. Teil: 2 Stunden 15 Minuten
2. Teil: 55 Minuten

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Bildstrecke zum Nachsitzen auf der Traufe. Grosskünstler Maurizio Cattelan reenacted Christoph Rütimann

2002, Luzern, Christoph Rütimann, Hängen am Museum, Kunstmuseum Luzern, 2002/2003 © Foto: Kunstmuseum Luzern

2025, Berlin_ Maurizio Cattelan auf der Traufe der Neuen Nationalgalerie © Peter Rigaud

2008, Bonn, Christoph Rütimann, Verdacht, Ausstellungsplakat © Kunstmuseum Bonn, Christoph

2025 Berlin, Maurizio Cattelan auf dem Dach der Neuen Nationalgalerie Foto: Peter Rigaud, 2025, © Ludwig Mies van der Rohe / VG Bild-Kunst, Bonn 2025

1994 Hängen am Museum I 16. 12. 1994 Kunst- und Kongresshaus (Armin-Meili-Bau), Luzern Aufzugwagen, diverse Aufhängungen, Gewand 60 Minuten (18 bis 19 Uhr)

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Paralipomenon XXV

Ebenso wie die Floskel „Wir müssen das neu denken“ indiziert, dass nichts gedacht wird, lässt das wiederholt in den Satz eingestreute Adverb „sozusagen“ vermuten, dass der Redner nichts zu sagen hat.

Sigbert Kunz, Röhrender Hirsch am Hochgebirgssee, 1947, © der Autor

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Marina Abramović. Retrospektive – Kunsthaus Zürich

Von Max Glauner

Marina Abramović. Retrospektive Kunthaus Zürich Installationsansicht, Foto: Max Glauner

Gab es in den letzten fünfzig Jahren eine Künstler*in, die die Aufmerksamkeitsökonomien des Kunstfeldes so erfolgreich triggerte, wie die 1946 in Belgrad geborene Marina Abramović? Vorreiterin der Performancekunst, Ikone, Diva, Megastar lauten einschlägige Epitheta. Sie hat lange und hart an diesem Image gearbeitet. Das demonstriert jetzt eine retrospektive Ausstellungsreihe eindrücklich. Sie führt von der Royal Academy of Arts in London über das Amsterdamer Stedelijk Museum und wird im Wiener Bank Austria Kunstforum abgeschlossen. Davor gastiert sie im Kunsthaus Zürich.

Das hat seine Tücken. Abramović ist eine großartige Performance-Künstlerin. Doch ihre Stärke liegt im Augenblick der Aufführung. Videos, Fotografien, Objekte, Beschreibungen dokumentieren das. Sie fallen aber dagegen notwendig ab und können die Präsenz der Darstellerin, Ko-Präsenz und partizipative Interaktion des Publikums nicht einholen. Damit haftet jeder Abramović-Ausstellung, die sich historisch zur Künstlerin verhält, der Malus einer Totenklage und Geisterbeschwörung an. In Zürich wird diese Tendenz durch den Ort, den Pfisterbau des Kunsthauses, unterstrichen. Während sich Chipperfields Erweiterungsbau des Zürcher Kunsthaus als Kenotaph-artiges Memorialgebäude gebärdet, wirkt der zweite Erweiterungsbau aus den 1950er-Jahren, in dem die Ausstellung stattfindet, wie der dazugehörige Sarkophag. Sein großzügiger Ausstellungssaal trägt den Namen seines Stifters, dem umstrittenen Rüstungsindustriellen Emil Bührle, dem am Eingang mit einer Büste gedacht wird. So treten wir mit dem Reenactment Abramovićs Performance Imponderabilia, 1977, ins Reich des Thanatos. Dunkle Wände, gedämpftes Licht, lange Korridore sorgen für sakrale Wiederauferstehungsatmosphäre.

Abramovićs unbändige darstellerische Energie ist im Zürcher Arrangement von Objekten, Fotos, Videos schwer zu ahnen. Zum Vergleich, die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte setzt in ihrer Theorie des Performativen, 2012, Abramović ein literarisches Denkmal. Sie schildert detailliert und anrührend die Performance Lips of Thomas in der Innsbrucker Galerie Krinzinger, 1975. Der Museumsbetrieb dagegen bemüht zur Revitalisierung des Genres Reenactments, Wiederaufführungen mit gecasteten Darsteller*innen.

Marina Abramović. Retrospektive Kunthaus Zürich Installationsansicht, Foto: Max Glauner

Doch das funktioniert in Zürich schon mit der Arbeit Imperabilia zum Auftakt nicht. Performances spielten mit Haltungen, dem kalkulierten Skandal, der Zumutung. Das wird dem Zürcher Publikum erspart. Das italienische Wort «imperabilia» bedeutet so viel wie «undurchlässig, undurchdringlich». Das nahmen Abramović und ihr damaliger Partner Ulay wörtlich. Sie stellten sich für 90 Minuten nackt in einen aufgestellten Türrahmen im Foyer der Bologneser Galleria Cumunale d’Arte Moderna. Bis zur Räumung durch die Polizei, war ein Durchkommen ohne Berührung nicht möglich. Wir spazieren einfach durch und haben zudem die Wahl nach links, ohne die billig erkaufte Initiation einzutreten. Die liminale Erfahrung von Künstler und Publikum findet nicht statt. Es bleibt bei der symbolischen Reminiszenz.

Was folgt, gruppiert grossformatig Foto- und Video-Material in chronologisch-thematischen Kabinetten, zeigt die Milestones ihrer Karriere. Da sind die Videodokumentationen der die Grenzen des Körpers auslotenden Performances der 1970er- und 1980er-Jahre, die auf monumentale Bildschirme projiziert werden, weil man ihnen offensichtlich nicht zutraut, bescheidener präsentiert, beim Publikum anzukommen. Krampfhaft versucht die Ausstellung die emotionale Differenz zwischen vergangener Aufführung und ihrer medialen Vermittlung einzuholen, zum Beispiel, wenn ein kleines Häufchen Rinderknochen für ihr erschütterndes Balkan Baroque auf der Venedig Biennale 1997 stehen muss. Die Künstlerin schrubbte damals stundenlang Sehnen und Fleisch von den Knochen. Stattdessen verhindert die Inszenierung gerade hier aktive Anteilnahme. Abramovićs künstlerischer Weg vom Exzess zur Askese endet für das Publikum in asozialer Isolation. Kristallbewehrte Stühle, Stellagen, Sessel und Liegen, die die Künstlerin als Objekte zum Gebrauch bereithält, lenken vom Eigentlichen, der exponierten Körperlichkeit, ab.

So können wir uns gleich zu Anfang mit einem Kopfhörer in einen Liegestuhl legen und nichts tun, ausser durch die Fenster ins Herbstlaub an den Bäumen zu blicken, dort, wo einst ein Friedhof sich befand, auf dem Georg Büchner begraben lag. Am Schluss lädt uns ein runder Tisch dazu ein, Reiskörner von Linsen zu trennen. Wer da an Cinderella denkt, liegt nicht falsch. Denn wer Abramovićs Methode der Lebensführung befolgt, hat die Chance wie sie sich vom Kunstfeld-Niemand zum Star zu verwandeln.

Nach dem Kunsthaus Zürich geht die Ausstellung Marina Abramović in das Wiener Bank Austria Kunstforum 2.10.2025 – 18.01.2026

Zuerst erschienen in KUNSTFORUM International Band 300, Januar – Februar 2025

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Versuch einer Übersetzung | Laura Marling_Caroline, Song released 2024

Der Song ist unter dieser Adresse bei Spotify abrufbar: https://open.spotify.com/intl-de/track/1SNB5tolDTBIT2ygSthC8d?si=e76536a3839d43a6 Hier folgt der englische Originaltext.

What a way to change an evening
Was my number hard to find?
You know, I′d given up believing
But the song had somewhat lingered on my mind

It went, „La-la-la-la, la-la-la-la-la, la-la
Something something, Caroline“

Caroline, you’re like an ember
A rock that burst back into life
A song I only just remember
That goes, „Oh, something something, Caroline“

La-la-la-la, la-la-la-la-la, la-la
Something something, Caroline

Caroline, we are old now
I got married, and I loved my wife
I have kids, they′re good and grown now
All in all, I’ve been happy with my life

I was never really far from you, was I?
Something something, Caroline

I’d like you not to call again
I like to keep you off my mind
You′re the one who went away, Caroline, so
The song was forgotten all the time

It went, „La-la-la-la, la-la-la-la-la, la-la
Something something, Caroline“
„La-la-la-la, la-la-la-la-la, la-la-la
Something something, Caroline“

——

Übersetzung vom 17.11.2024

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Nationales Einheitsdenkmal. Leipziger Allerlei

Essay zum 2. Realisierungswettbewerb des Freiheits- und Einheitsdenkmals. Tagesspiegel 3./4. Oktober 2024

Von Max Glauner

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Freiheits- und Einheitsdenkmal: Leipziger Allerlei

Das Einheitsdenkmal in Leipzig setzt auf populäre Zeichen. Die Akzeptanz des Siegerentwurfs des Leipziger Architektenkollektivs ZILA ist damit gesichert.

Einladung zur Teilhabe. Das Leipziger Einheitsdenkmal will es allen recht machen.

Modellansicht Wettbewerb Freiheits- und Einheitsdenkmal Leipzig, 1. Preisträger, das Architektenkollektiv ZILA, © dpa, Foto: Jan Woitas

Schon die Pluralbildung bereitet Kopfzerbrechen. Heißt es „Denkmale“ oder „Denkmäler“? Geht es darum, eines zu errichten, potenziert sich die Pein. Noch schwieriger wird es, wenn es um ein Denkmal für die friedliche Revolution 1989, den gewaltlosen Widerstand, die Montagsdemonstrationen, kurz, um ein nationales Freiheits- und Einheitsdenkmal geht.

An die schwere Geburt der Berliner Einheitswippe mag sich darum keiner mehr erinnern. Die brachliegende Baustelle vor dem Humboldtforum erinnert an einen gestrandeten Wal, das Scheitern eines ambitionierten, doch zu kurz gedachten Unternehmens.

Vor diesem Hintergrund nimmt es fast wunder, dass am Mittwoch ein Sieger eines einstufigen und anonym durchgeführten künstlerischen Wettbewerbs für das Leipziger Freiheits- und Einheitsdenkmal bekannt gegeben wurden.

Nachdem ein erster Wettbewerb parallel zum Berliner Projekt trotz Preisvergabe 2014 gescheitert war, zeigten sich die Auslober, das Land Sachsen, der Ministerpräsident Kretschmer, die Stadt Leipzig, OB Jung und die Organisatoren, voran die Stiftung Friedliche Revolution, sichtlich erleichtert.

Reizbegriffe der Kunstpädagogik

Grund eins: Der Entwurf „Banner, Fahnen, Transparente“ des Leipziger Architekturbüros ZILA baut Echokammern für die aktuellen Reizbegriffe der Kunstpädagogik – Niederschwelligkeit, Inklusion und Teilhabe. Das einfache Konzept besteht aus dem Platzieren von gut 50 überdimensionierten, weiß beschichteten Bannern, Fahnen und Transparenten aus facettierten Stahlplatten, bis zu fünf Meter hoch.

Sie sollen symbolträchtig vereinzelt sowie in Clustern im noch anzulegenden Park der heutigen Brache des Willhelm-Leuschner-Platzes bar jeder Aufschrift, sozusagen als Leerstelle emanzipatorischer Handlungsanweisungen zur Wende-Meditation einladen. Dass von ihnen auch die Einladung ausgeht, Farbbeutel, Tags und Graffiti zu platzieren, ist im Entwurf zwar nicht explizit erwünscht, aber doch kalkuliert.

Erleichterung verschaffte auch die Tatsache, dass hinter dem Entwurf ein Kollektiv steht. Auch das trifft den Zeitgeist; trotzdem gehört nur eine Frau zu den sechs Entwurfszeichnern – ein Nachteil anonymer Wettbewerbe. Auch dass mit ZILA ein Leipziger Team das große Los zog, ist Zufall. Die Euphorie war groß, die Politik avisiert erste sichtbare Zeichen im nächsten Jahr.

Doch vom ersten Entwurf bis zur Umsetzung ist es ein langer Weg. Bis dahin bleiben grundsätzliche Bedenken zum Leipziger Entwurf.

Abschied vom überholten Denkmalprunk

Das Teilhabeversprechen kaschiert ein tieferliegendes Dilemma. Demokratie und Denkmale tun sich nicht nur schwer, sie passen eigentlich auch nicht zusammen. Während das wilhelminische Kaiserreich noch par ordre du mufti widerspruchslos plastische Großkunst zur Verherrlichung feudaler Machansprüche in die Welt klotzen konnte, tat sich schon die nachfolgende demokratisch verfasste Weimarer Republik schwer darin, Gedenkorte und -zeichen zu setzen.

Drei Gründe lassen sich dafür ausmachen. Erstens konnte der Postfeudalismus mit einem bis heute gängigen, im Barock ausformulierten Formrepertoire wie Löwengruppe, Säulenkranz und Mann auf Pferd auf breite Akzeptanz stoßen. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg mussten angemessen egalitäre architektonisch-skulpturale Symbole und Zeichen der jungen Demokratie hingegen erst verhandelt werden.

Ein gutes Beispiel: das von Heinrich Tessenow 1931 minimalistisch gestaltete Ehrenmahl der Preußischen Staatsregierung in der Neuen Wache unter den Linden in Berlin. Es stand bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg in seiner Einfachheit und Reduktion in krassem Gegensatz zum grotesken Prunk des 1897 eingeweihten Kaiser-Wilhelm-National-Denkmals an der Berliner Schlossfreiheit, auf dessen noch vorhandenem Sockel nun die Einheitswippe entsteht.

Ein zweites Moment für die Unvereinbarkeit von Demokratie und Ehrenmal wird hier deutlich: Die Monothematik eines Erinnerungszeichens widerspricht dem Pluralismus, der Poliperspektivität, dem Widerspruch und Konsens als Kernprinzipien eines demokratischen Gemeinwesens. Der Leipziger über eine Park-ähnliche Fläche verteilte Flaggenhain trägt diesem Gedanken immerhin ein Stück weit Rechnung.

Statt auf eine Dominante, mit der bis heute der Denkmalgedanke verbunden bleibt (die zweit- und drittplatzierten Entwürfe des Leipziger Wettbewerbs hängen dem noch an), setzt er auf Dezentralisierung. Doch die monumentalen Banner, Fahnen und Transparente werden wie Leinwände im Autokino die Einladung zur Teilhabe, weil penetrant überdimensioniert, negieren. Die populäre Denkmallösung verkehrt sich in der Realisierung ins Gegenteil.

Weniger Einreichungen im zweiten Anlauf

Die Zweit- und Drittplatzierten zeigen sich nicht durchdachter. Hat es nichts Originelleres, Kühneres, künstlerisch Überzeugenderes gegeben? Sieht man sich die Wettbewerbsbedingungen genauer an, war dies nicht zu erwarten. 

Damit die zivilgesellschaftliche Teilhabe am Realisierungswettbewerb gewährleistet würde, delegierte die Stadt die Organisation des Projekts als Ausloberin an die Leipziger Stiftung Friedliche Revolution, die ihrerseits ein Berliner Beratungsbüro für den reibungslosen Ablauf des Verfahrens einsetzte.

Dabei wird man den Eindruck nicht los, dass mit dem Delegieren von Aufgaben und Verantwortung mit knappen Verfahrensfristen nicht mehr Transparenz, sondern Diskurshoheit hinter den Kulissen geschaffen werden sollte. Gab es beim ersten Wettbewerb über dreihundert Einsendungen, waren es nun lediglich zweiundsiebzig. Renommierte Namen fehlten.

Merkwürdig blieb auch die Zusammensetzung der Fach- und Sachpreisrichter und ihrer Stellvertreter. Bei den stimmberechtigen Fachpreisrichter:innen war nicht eine, nicht einer, der in der DDR geboren und aufgewachsen war. Dazu ließ auch die fachliche Kompetenz der Preisrichter zu Wünschen übrig. Bis auf Wolfgang Ullrich fehlten Namen mit Gewicht.

Das Missverhältnis in Sachen Kompetenz und Ost-Hintergrund war auch bei den Sachpreisrichtern, wenn auch nicht ganz so gewichtig, zu konstatieren. Immerhin waren hier der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, und der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung vertreten.

So wurde auch auf der Ebene der Wettbewerbsentscheidung Teilhabe suggeriert – und gleich wieder dementiert. Die Juryentscheidungen ließen sich so besser steuern. Doch künstlerische Würfe entstehen selten unter Zeitdruck und im Konsens, sondern durch Konflikt und Debatte. Dass in Leipzig nicht mehr herausgekommen ist, wundert nicht.

Zuerst veröffentlicht online Tagesspiegel Berlin 3.10.2024. Printversion am 4.10.2024

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Immersion – Participation – Performance | Time-Based Spatial Constructions at the 60th Venice Biennale Created

By Max Glauner

Art begins in Padua. With a bang between 1302 and 1306. The painter, architect, and mosaic maker Giotto di Bondone designed the so-called Scrovegni or Arena Chapel for the immensely wealthy banker Enrico Scrovegni. A masterpiece that already showcases everything that generations of artists would grapple with later – up to the present day. The thesis that, according to Alfred North Whitehead’s dictum, the history of philosophy is best understood as a series of footnotes to Plato, when applied to European art, especially painting and its staging, implies that every artistic effort can merely extend Giotto’s foundations, much like an annotation, rather than surpass them.

A careful walk through the 60th Venice Biennale confirms this. Scrovegni’s treasure chest was nearly demolished in the 19th century along with his palace at the north curve of an ancient arena. A private initiative and the purchase of the chapel by the city in 1880 prevented this. Admission is now strictly regulated. It must be booked well in advance. Groups of 25 people are allowed in for 15 minutes into the now freestanding, externally unremarkable high Gothic brick building. The contrast with the interior could hardly be greater. In dozens of individual pictures over four registers and a concluding barrel vault, Giotto unfolds a fireworks display of al fresco depiction art. The lives of Jesus and Mary, the Annunciation, and the Last Judgment are vividly presented to the viewer. The painter knows how to imitate every material, the marble cladding of the chapel, the garments of the protagonists, the deceptively real stone of the allegorical figures of the cardinal virtues and deadly sins. A sensation that surpassed any Gothic stained glass and Byzantine mosaic art, the leading media of the time, in inventiveness and expressive power. Two hundred years later, Michelangelo would make the first attempt to surpass this feat with the Sistine Chapel in Rome. We are still working on Giotto’s attempt to create a spiritual but at the same time consistent, believable parallel world into which we can immersively and performatively enter.

Over the 19th century, with its rigorous separation of genres, it has been suppressed and forgotten that the Scrovegni served as the solemn climax and stage for the annual Annunciation processions with performances of the legend of Mary. In these, leading members and friends of the family took on the roles of the protagonists, while the audience saw themselves in the role of empathetic comparing witnesses who followed the reenacted holy events directly and compared them with those imagined by Giotto on the walls. Visual arts and architecture harmonise as a perfect frame and stage for performative representation and participation.

Immersion, diving into spaces of imagination, and performance, staging, and audience participation are also the magic words of the major exhibitions in the lagoon city. This is still true for the main exhibition Foreigners Everywhere, curated by the artistic director of the Biennale, Adriano Pedrosa, in the Giardini and the Arsenale. Where the curator conservatively and museum-like focuses on classical media such as painting and sculpture, the immersion and dramaturgy of his parcours primarily aim to create connectivity for visitors, offering spaces where the artworks can formally and thematically enter into a dialogue with each other and with the viewers. In a nutshell, he offers them an extended Scrovegni Chapel.

Immersion into space

Let’s take the beginning in the Arsenale. Before the endless stretch of historical magazines begins, we enter a mysteriously lit room with parallel shadow stripes running over the massive supports and brick walls. They originate from a huge mesh of grey lashing straps suspended like an intermediate ceiling. We also read them as a final and significant comment on the ongoing popularity of lashing straps in contemporary art. This beautiful initiation comes from the New Zealand Mata Aho Collective, which comprises four Maori artists: Bridget Reweti, Erena Baker, Sarah Hudson, and Terri Te Tau. With the title of their work Takapau, 2022, the concrete artwork translates back into the real, everyday life. For „Takapau“ is the Maori word for a particularly finely woven mat used in ritual acts for birth, marriage, and death. Takapau can stand for life, its complex web of relationships, as well as for the complexity of art and what follows in the exhibition. Thus, the installation is a space of transformation and initiation. By entering it, we participate, linger, or pass through it, leaving with a renewed state of mind. In this way, the work is iconic for this 60th Venice Biennale. None in the main exhibition is more impressive or contemporary.

In addition, the other main exhibition of the Biennale comes across as solidly conventional, especially where it earnestly tries to impress. Its curator, Adriano Pedrosa, director of the Museu de Art de São Paulo, skilfully presents over three hundred artists, mostly from Latin America, many of whom are unfamiliar even to art professionals. While this is impressive and overwhelming, it leaves a somewhat hollow feeling. Pedrosa focuses primarily on painting, with his parcours in the Arsenale resembling a grand, proven Scrovegni Chapel, aiming to engage the audience with the exhibits. The 19th-century museum makes a cheerful return. Photography appears only marginally, as do videos. Conceptual, performative, and actionist art, which is so rich in the global South, especially South America, remains relatively underrepresented. Where performance is part of the artistic practice, it remains external to the exhibited works, such as the dance session documentaries of the Hong Kong-Chinese artist Isaac Chong Wai, who lives in Berlin, or the Amsterdam collective Antonio Jose Guzman & Iva Jonkovic, who present a tower of beautifully indigo-dyed cloths created collaboratively in workshops in India. However, a workshop does not imply a performance character. Artists who, for example, combined art, theatre, and activism with political resistance in Brazil from the 1960s onwards, such as Lygia Clark, Hélio Oiticica, or Augusto Boal, are not mentioned at all. Pedrosa’s programme of ennoblement falls back into long-overcome patterns. He aims to explore the unfamiliar within the familiar, the other modernity, away from the hegemonic centres of the USA and Europe. Yet he fights fire with fire. No previous main exhibition of the Biennale has been so conservatively museum-like. This is an unintended opportunity for the neo-fascist sympathising TV journalist and theatre man Pietrangelo Buttafuoco, who was appointed indefinitely as the new president of the Venice Biennale by Giorgia Meloni. This signals a storm warning for the lagoon.

The effort to score in the attention economy of Biennale visitors is great. The attraction of the Venice Biennale lies paradoxically in the often-dismissed national pavilions, which have used the Venice stage for decades to counteract the concept of nation and national identity or to give space to unheard voices in their own or other countries. Most rely on spaces of participation, immersion, and performative formats. The spectrum was wide. The extremes ranged from the innocuous Swiss Pavilion to the profound German one, the cheerfully colourful American Pavilion, and the impressively thought-provoking Polish Pavilion. Here, art borrows moments from theatre. With stages for the artists, they simultaneously offer stages for their audience.

Stages of Participation

The stack of amalgamated red-lacquered pedestals in the Cours d’honneur of the lively American Pavilion was hard to miss. The pedestals could, and indeed should, be climbed. Many visitors understood the invitation and from day one eagerly staged themselves for selfies. People became part of the artwork. The images distributed through social networks advertised the USA and its representative at the art biennale. His name is Jeffrey Gibson, a gay member of the Choctaw and Cherokee tribes, making him the first Native American to represent the USA in Venice. He aims to bring the marginalised, the excluded, as well as the visitor, to the centre of attention. This leads to an all-over display of geometric patterns and figures in bright colours, which Gibson understands as a protest against a drab mainstream modernity.

The moment of active participation, of cooperation, was most impressively and aesthetically convincingly implemented in the Polish Pavilion. Pure participation. What looked like mere participatory art captivated precisely because it suppressed the audience’s impulse to join in. After the inauguration of the new Polish government, the new cultural administration acted swiftly. A nationalist grand painter was uninvited and instead, the Open Group collective, consisting of Yuriy Biley, Pavlo Kovach, and Anton Varga, was commissioned. They now offer a monumental war karaoke. The trio projects the videos Repeat after Me, 2022 and 2024, in large format onto the cross walls of the pavilion black box. Biley, Kovach, and Varga filmed civilians of all ages in a refugee camp near Lviv, always in the same setting, close-up, frontal, and outdoors, without shelter. After a brief introduction of themselves, they recount their trauma, the sounds of a grenade, an approaching bomb, a machine gun. The „TDDDDZDZHZZZHHH-PIU“ was now coloured for us in the English subtitles as in karaoke. However, neither my friends Ida, Inke, Claudia, nor I felt inclined to follow the invitation, although microphones were set up in front of the screens. We were too breathless at the presence of the narrators. Art is more than a beautiful appearance and a vehicle for this or that message. It can give voice to others and otherness. It can create empathy, immediacy, and relevance through the density or refusal of participation.

The Australian Pavilion also relies on participation and refusal. It was designed by a member of the First Nations, Archie Moore, and rightly received the Golden Lion for the best national pavilion. Here too, an impressive memorial space is created. The artist placed stacks of blackened files documenting the racist exclusion policies of the Australian government on an extensive pedestal in the middle of a distancing basin. As a counterpoint, Moore wrote a biblical family tree on the black walls with chalk, weaving the life lines of his Kamilaroi and Bigambul ancestors with those of contemporary humanity. Moore focuses strongly on distance from the object, reflection, and enlightenment rather than on overwhelming. Participation for Moore, as for the Polish Pavilion, means breaking immediate involvement to call for participation as a process of thinking and intellectual effort. This is not easy, as the competition from commercial digital virtual reality has become so great that the art field has had to outdo itself with interactive, „immersive“ experiential worlds since the early 2000s. One strategy to undermine this pressure lies in the affirmative subversion of established narratives and their representation by the entertainment industry, political propaganda, and scientific visualisations in diagrams, pictures, texts. An impressive example is offered by the Czech Pavilion, where the artist Eva Kotáková tells the story of the giraffe Lenka in Prague Zoo as part of the diplomatic symbolic politics of socialist brother countries behind the Iron Curtain. The fragmented giraffe body can be walked through and marvelled at and serves as a stage for the artist’s supplementary texts, drawings, and performances, which casually and humorously expand and enhance the grotesque story of the animal to the personal and, above all, to the universally relevant and contemporary.

Stages of Immersion

The seriousness of engagement and the playful ease of the Polish Pavilion remained unmatched. In comparison, some presentations fell significantly short. Right at the entrance of the Giardini stands the elegantly modernist pavilion by Bruno Giacometti from the 1950s. Diversion is provided by the bi-national Swiss-Brazilian artist from Geneva, Guerreiro do Divino Amor. An animated trans-goddess leads from her temple through a birth canal into a cosy boudoir via LED rotors. Those who wish can recline on comfortable cushions to dream under a dome projected with mainstream LGBTQ+ triggers and cliché images of German-speaking Switzerland. Immersion here meant submerging, participation, taking part in the artist’s merely claimed club community.

Participation in marginalised communities and memories is also the focus of the French Pavilion by the artist Julien Creuzet, who hails from Martinique, and the British Pavilion by the artist and filmmaker John Akomfrah. While Akomfrah places powerful videos of disturbingly beautiful landscapes, people, streams, and the sea in a narrow parcours to create contemplation and empathy, Creuzet offers his audience more space to move and explore between video walls and airy sculptural meshes, accompanied by a penetrating sound. France had, along with Belgium, by far the best sound system.

Nothing constitutes community as immediately as music, dance, and song, the magic ingredients in the Belgian and Egyptian pavilions. The collective the collective organised long processions from Charleroi, Dunkirk, and Spanish cities to Venice, under the title The Petticoat Government, where larger-than-life traditional folklore figures were carried. The pavilion was declared a passage, with celebrations and dances under the framework of the exhibited giants.

The immersive and community-building power of music and song was also utilised by the Egyptian artist and filmmaker Wael Shawky in the Egyptian Pavilion. While visitors usually gave Egypt a wide berth, this pavilion had by far the longest queues during the opening days. The reason: the length of the video, which, like a theatre play, should be watched from the beginning, only allowing 40 viewers at a time, and especially the quality of the offering. While Shawky’s sculptures in the darkened room barely sparked interest, the film projected across the entire length of the wall captivated. Known for his parables and stories presented with puppets and marionettes, Shawky dared to tackle the grand genre of opera in Drama 1882, 2024. He now tells the story of the so-called Urabi Revolution of 1879-1882 in candy colours and historical costumes in a singspiel in the style of epic theatre. History is cleverly presented and subversively twisted. The proximity of the audience to the large projection surface and the characters creates an immediacy that is hardly conceivable in analog, real-presentational performances, unless the audience itself becomes the actor.

This occurs in the pavilions of Serbia and Germany. What began in the 1970s with Ed Kienholz and Illya Kabakov expanded over the years, evolving into walk-in spatial sequences that told stories, as seen with Gregor Schneider, Mike Nelson, Christoph Schlingensief, or Christoph Büchel, who now presents his most extensive spatial installation in the Palazzo of the Prada Foundation in Venice. These stages more or less consciously follow Giotto’s tradition of narration, making sacred events in the image present and performative as testimony.

The Serbian Pavilion attempts this with its stage production „Exposition Coloniale.“ Its artist, scenographer Aleksandar Denić, works with similar methods to Büchel, using an abandoned stage, props, and an atmosphere of neglect and hopelessness, casting the visitor as a part of the production, reflecting their own desolation. In Denić’s work, the audience moves like actors in a film set, portraying the reality of a border post at the EU’s edge with dilapidated booths, broken phone boxes, and a functioning jukebox with European songs. This is professionally done theatre with a good dose of humour and a sense for the marginal. However, despite the effort to present the shabby, it ends up being too routine and, in the end, too smooth.

The German Pavilion is aware of this danger, with one of its participants being Ersan Mondtag, a professional theatre man, director, costume, and set designer. Alongside the video and object installations by the Berlin-based Israeli Yael Bartana, Mondtag installs a monumental memorial architecture before and behind the main entrance of the building from the Nazi era, under the guidance of the curator and theatre woman Çağla, who is also of Turkish descent, forcing the audience, as with Anne Imhof’s Faust in 2017, to enter through the back door. The actual threshold, as the title „Threshold“ of the German Biennale contribution suggests, is thus symbolically blocked. Inside is a multi-story mud-plastered monument that seems to slide outward. It serves as a heavy stage of remembrance, both a catafalque remembering his grandfather, a first-generation Turkish migrant worker, and a cenotaph for all those lured to Germany as „guest workers“ with empty promises. Here, we are not merely spectators but witnesses of martyrdom. For Mondtag, participation means – like Magdalena in the Christian Passion – empathy. His grandfather worked at Eternit in Berlin, as evidenced by original documents on the ground floor. He died of asbestos poisoning. Therefore, the accessible floors, where he reconstructs a humble apartment, are covered in dust, which we carry on our hands and clothes outside, just like the performers who silently re-enacted the Mondtag family’s grief and mourning for the grandfather during the opening days. This theatrical element wasn’t necessary to grasp the message from the set. Even if ironically broken, Yael Bartana’s fantasy of the Jewish people’s extraterrestrial survival in a giant spaceship, presented through a stage model and video wall, fits well aesthetically and in terms of pathos.

Büchel – Illusion Machine of Superlatives

The immersive efforts of the national pavilions are only surpassed at Ca‘ Corner della Regina. Without the Biennale’s „Collateral Event“ label, Swiss artist Christoph Büchel, as a guest of the Fondazione Prada, stages an unparalleled material spectacle, „Monte di Pietà.“ This is surprising, as Büchel had announced his withdrawal from the art world after the Barca Nostra debacle in 2019. In St. Gallen, in 2002, he set up „House of Fiction (Pumpwerk Heimat),“ one of his first and still accessible installations today. The audience is intellectually and physically challenged by navigating a labyrinthine, chaotic sequence of spaces, constructing their own narratives. Not linear but chaotic. „Monte di Pietà“ can be read as a calibrated expansion of this concept. The baroque Prada Palace, long a pawnshop, prompted Büchel to reflect on value, goods, and money flows. He transformed the entire palace into virtual sales and office spaces for second-hand items, crammed with clothes, real bombs, genuine artworks from Titian to Beuys, muzzle-loaders, flower vases, genuine jewellery, knick-knacks, bicycles, and mink coats, while the mezzanine floor offered glimpses into the recently vacated surveillance, celebration, and party rooms of those who ran the place. Extravagant, opulent critique of capitalism. It takes capital and chutzpah to pull this off.

Enrico Scrovegni’s father is mentioned in Dante’s Divine Comedy. He roasts in hell because he amassed his fortune through usury, driving his debtors into poverty. Giotto’s chapel was intended to restore the family’s good name. The indulgence is valid until Judgment Day. With Scrovegni, we learn that art cleanses a guilty conscience and carries the name of its owner forward. As Büchel’s fame grows, so does that of the Prada siblings.

The text was published first in a revised editorial form in KUNSTFORUM International Bd. 296 in German – see on this website

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Malen müssen. Chaïm Soutine im Kunstmuseum Bern

Text: Max Glauner

Der russisch-jüdische Maler Chaïm Soutine floh ein Jahr vor dem ersten Weltkrieg von den Rändern Osteuropas ins kulturelle Zentrum Paris. Er ist dort trotz Anerkennung nie angekommen. Das Berner Kunstmuseum bietet jetzt einen faszinierenden Einblick in das Werk des Ausnahmekünstlers, der zwischen Ausgrenzung und Selbstbestimmung immer ein Sonderling blieb.

Caïm Soutine, Selbstportrait, 1918, © Wiki, gemeinfrei

«Das arme Huhn,» kommentierte meine Grossmutter und zog mich schnell weiter. Da war ich sechs Jahre alt. In den Sommerferien ging es oft in die Staatsgalerie in Stuttgart, als es den postmodernen Anbau von James Sterling noch nicht gab und der Eintritt umsonst war. In einem der Seitenflügel des Museums, das für mich aussah wie ein Märchenschloss, fand sich nach den von Grossmutter geliebten Klassizisten unter der Rubrik «Moderne» zuverlässig das «arme Huhn» und die demonstrative Abneigungsbekundung meiner Oma. Ich hingegen war davon fasziniert.

So fasziniert, dass sich nicht nur das in einem Mauerdurchbruch am langen Hals aufgehängte Huhn über weissem Tuch und roten Tomaten, «Poulet et tomates», um 1924, sondern auch den Namen des Malers dieser erbärmlich geschundenen Kreatur nicht mehr vergass: Chaïm Soutine. Der Name verschmolz mir, dem kleinen Kerl, mit dem Bild im Hochformat in Öl und wurde zum Synonym für einen berufsmässig malenden Menschen, noch bevor ich mir Memling, Rembrandt oder Rubens merken konnte. Caïm Soutine, der Einklang von Namen und Bild hatte etwas Magisches. Was ich damals freilich nicht zu ergründen suchte: Während die Herkunft des jüdischen Familiennamens Sutin, der in Soutine romanisiert wurde, nicht bekannt ist, bedeutet «Kaim/ Chaïm» im Jiddischen «Leben». Dem so Benannten wird Kraft, Vitalität und Glück für den weiteren Lebensweg mitgegeben. Bei allen Entbehrungen und Fremdheit des jüdischen Osteuropäers in Frankreich sollte sich dieser Segen bei Soutine einlösen, dank und kraft seiner von Schaffensmut und Schaffenswut getriebenen Malerei, die er «gegen den Strom», wie ihn nun die Berner Ausstellung zutreffend im Untertitel annonciert, sein Leben lang eigensinnig und beharrlich betrieben hat. Doch anders als Vincenz van Gogh, mit dem er sowohl stilistisch wie der Aussenseiterexistenz halber immer wieder verglichen wurde, besass Soutine Fortune und konnte schon zu Lebzeiten mit Anerkennung rechnen. So schafften zwei Begegnungen entscheidende Lebenswendungen, die Freundschaft mit dem italienischen Maler Amedeo Modigliani, Expat in Paris wie er, und seine «Entdeckung» durch den exzentrischen U.S.-amerikanischen Pharmaziemagnaten und Kunstsammler Albert C. Barnes.

Vom Shtetl in den Bienenkorb

Chaïm Soutine wird als Khaim Solomonowitch Sutin irgendwann im Januar 1893 geboren. So genau weiss man das heute nicht. Auch weil der julianische Kalender, der in Russland gilt, mit dem westeuropäischen gregorianischen in der Geburtsstadt Soutines wie die westlichen und östlichen Kulturen miteinander konkurrenzieren. Smilavitchi liegt gut 25 Kilometer von der Weissrussischen Hauptstatt Minsk entfernt und gehört seit der zweiten polnischen Teilung 1793 zum russischen Zarenreich, nach der Oktoberrevolution zur Weissrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik, die 1991 als Belarus nominell unabhängig wurde. Jiddisch ist Verkehrssprache, Smiliavitchi ein typisches Schtetl. Der jüdische Bevölkerungsanteil beträgt vor der völligen Vernichtung im zweiten Weltkrieg über 60 Prozent und damit etwas über 2’300 Einwohner. Der Anpassungsdruck, dem ein junger Mensch dort ausgesetzt ist, bekommt Soutine am eigenen Leib zu spüren, auch wenn es ihm zunächst gelingt als 10ter von 11 Kindern unter dem Erziehungsradar seiner Eltern hindurchzufliegen. Schon früh zeichnet und malt er begeistert. Nach der Talmudschule reist er gegen den Rat der Eltern nach Minsk und finanziert den Besuch einer Zeichenschule als Retuscheur bei einem Fotografen. Da ist er nicht einmal dreizehn. Mit siebzehn portraitiert er heimlich einen orthodoxen Juden, der das mosaische Bilderverbot sehr ernst nimmt. Soutine wird dafür von den Söhnen des Manns krankenhausreif geschlagen. Zum Glück? Ihm wird nach der Anzeige seiner Eltern eine Entschädigung zugesprochen. Er kann sich davon in der Kunsthochschule im litauischen Vilnius einschreiben.

Sein Minsker Malerfreund Michail Kikóin begleitet ihn. Er wird ihm zeitlebens verbunden bleiben, ebenso wie Pinchus Krémègne, den sie in Vilnius kennenlernen. Die drei entfliehen ein Jahr vor dem ersten Weltkrieg 1913 dem repressiv-autoritären Zarenreich und der Enge des Schtetls. Das Ziel ihrer Träume, Paris, das sie über 2000 Kilometer entfernt nach vier Tagen,in der Holzklasse auf Bänken und am Boden sitzend erreichen. Ein unbekannter Gönner finanziert die beschwerliche Reise. Ihre erste Bleibe ist die Künstlerkolonie La Ruche, der Bienenkorb im Quartier Montparnasse, Zuflucht vieler Emigranten mit russisch-jüdischem Hintergrund wie dem Maler Marc Chagall, den Bildhauern Ossip Zadkine und Jaques Lipchitz, aber auch dem Maler Fernand Léger aus der Normandie sowie dem Italiener Amedeo Modigliani.

Amedeo Modigliani, Portrait Chaïm Soutine, 1915, © Staatsgalerie Stuttgart, gemeinfrei

Soutines erste Zeit in Paris, die in die nationale Notsituation des ersten Weltkriegs hinein reicht, ist von Armut, Hunger und Krankheit geprägt. Gelegenheitsjobs halten ihn gerade so über Wasser. Doch er zieht sich durch die Entbehrungen ein Magenleiden zu, das ihm schliesslich dreissig Jahre später auf dem Scheitelpunkt des zweiten Weltkriegs 1943 das Leben kostet. Ein hoher Preis für die Kunst, der ihn wieder in die Nähe van Goghs und den Malermythen vom Genie rückt, das sich für die Kunst opfert, um solchermassen zum erlösungsmächtigen Heros aufzusteigen, mit dessen Hinterlassenschaften, den genialen Bildwerken, ein Stück Erlösungsmacht ins Wohnzimmer geholt werden kann. Soutines Malerfreund Modigliani, er brachte ihn mit dem polnischstämmigen Kunsthändler Léopold Zborowski zusammen, starb bereits am 24. Januar 1920 gerade 36-jährig an Tuberkulose. Ganz nach Handlungslogik der zeitgenössischen Oper springt seine im achten Monat schwangere Lebensgefährtin Jeanne Hébuterne zwei Tage später gerade einmal 22-jährig und ebenso Malerin aus dem fünften Stock in den Tod. Sie tritt erst 1992 aus dem anekdotischen Schatten Modiglianis, nachdem ein Konvolut ihrer Arbeiten beim Entrümpeln eines Pariser Kellers gefunden wurde. Soutines Leben verlief verglichen dazu in ruhigen Bahnen. Er belegte zunächst die renommierte Kunsthochschule École des Beaux-Arts de Paris für zwei Jahre und besuchte, wie es sich seit über hundert Jahren in Paris für einen angehenden Künstler gehörte, zum Studium der grossen Meister den Louvre.

Von der Notwendigkeit zu malen

Dabei fällt auf, dass er sich dort direkter und unmittelbarer als seine Kolleg:innen mit bestimmten Kunstwerden auseinandersetzt, die jedoch nicht zum klassischen Kanon der Malerei der Zeit gehören: Jean Fouquets «Portrait des König von Frankreich Charles VII», 1450-55, das die Blaupause für seine Bildnisse namenloser einfacher Leute abgeben sollte und Rembrandt van Rijns «Geschlachteter Ochse», 1655, den er in Serie zu überbieten suchte. Legendär ist die Anekdote, nach der Soutine zur Vorlage ein ausgeweidetes Rind an den Hinterläufen im Atelier aufhängen liess, um das inkarnat des rohen Fleisches möglichst direkt einzufangen. Dort hing der Kadaver tagelang, faulte, stank bestialisch und wurde, da das Fleisch die Farbe verlor, regelmässig mit frischem Blut übergossen, das der Künstler eimerweise beim Metzger um die Ecke holte. Bern zeigt zwei Versionen dieser Serie, die 1925 entstand, «Le boef écorché», aus eigenem Bestand und «Boef et tête de veau» aus dem Pariser Musée d’Orangerie, in dem sich zur Rindshälfte noch einen Kalbskopf gesellt.

Die Anekdote könnte leicht dazu verführen, anzunehmen, Soutine ginge es um die möglichst naturgetreue Schilderung des Gegenstandes. Präziser wäre, das Gegenüber, den Gegenstand als eine Kraftquelle zu bezeichnen, die den Künstler in einem Dialog zum malerischen Akt verhilft. Soutine geht es primär nicht um die dargestellte Figur oder Landschaft, sondern ihm geht es, wie Thomas Hirschhorn in einem für die Ausstellung produzierten Video zutreffend sagt, «um nichts weniger als die Wiederentdeckung der Malerei.»

Rembrandt und Chaim Soutine, Ausgeweideter Ochse hängend, 1665 und 1925 © Wiki gemeinfrei

Das ist das Faszinierende der Berner Ausstellung, die zuvor im K20, der Düsseldorfer Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen und dem Dänischen Louisiana Museum of Modern Art, Humlebaek Station machte, besteht darin, dass wir dieser Widerentdeckung unmittelbar von den dem Leben abgetrotzten Anfängen bis zum erzwungenen Abschluss beiwohnen dürfen. Es geht um die Magie vor unseren Augen nur durch Farbe etwas entstehen zu lassen, das uns in seinen Bann schlägt, nicht weil es etwas wichtiges, prominentes, kostbares präsentiert, sondern den Akt seiner Entstehung unmittelbar nachvollziehbar macht. Dieses Prozessuale in Soutines Bildern, wenn wir so wollen das Performative, also die Handlung, den Vorgang des Malens sichtbar werden zu lassen, macht das Moderne, das Zeitgenössische seiner Kunst aus. Das wird schon mit dem ältesten Bild der Berner Ausstellung, dem Stilleben «Nature morte aux harengs» 1915/16 sichtbar. Wir sehen das karge Mahl auf schwarzem Tisch, leere weisse Kaffeeschale, zwei gierig-spitze Gabeln, drei erbärmlich dürre Heringe attackierend. Das lässt sich mühelos als Allegorie auf die existenziellen Entbehrungen des Künstlers, womöglich der Gesellschaft, vielleicht der Welt lesen. Doch Soutine geht es eigentlich um etwas anderes. In dem er drei schrumpelige Fische für Bildwürdig erklärt, negiert er im Grunde die Bedeutung des Sujets. Ihm geht es vielmehr um materielle Qualitäten, das Silber der Schuppen, der Gabeln, die von der Farbe hervorgebracht werden, den Kontrast zwischen Holzteller und Tisch, die schwarze Oberfläche, ihre Tiefe, die die Gegenstände fast verschluckt. Das ist es, was uns an dem simplen Bild abholt und verweilen lässt. Nicht die traurigen Glubschaugen der Fischchen, sondern ihr leuchtendes hoffnungsfrohes Gelb, nicht der Gegenstand, sondern die Farbe, die den Gegenstand hervorbringt. Hier liegt das Alchemistische, das Zauberhafte der Malerei. So erklärt sich auch, warum Soutine für seine Bilder nie Vorzeichnungen verwendete. Proportion und Form brachte er direkt mit dem Pinsel auf die Leinwand. Bei Soutine wird die Malerei zum Ereignis. Sie wird von nichts und niemand in Dienst gestellt. Moden der Avantgarden macht er schlicht nicht mit. Fauvismus, Kubismus, Surrealismus gehen schlicht an ihm vorbei. Das Primat des Malerischen zeigt sich auch in der reduzierten Wahl seiner Gegenstände. Sie beschränkt sich auf drei Gattungen, das Tronie, die Darstellung einer anonymen Person, in Bern wird dazu auch ein Selbstportrait aus dem Jahr 1918 aus Princeton gezeigt, zweitens Kleinstadtansichten und drittens das umfangreichste Konvolut, Stillleben von den Heringen bis zum Ochsen, von toten Hühnern bis zu Rochen.

Karriereschub in der Provinz

In der Dringlichkeit Malerei absolut zu setzen kommt Soutine tatsächlich Vincenz van Gogh gleich. Doch anders als dieser, der zu Lebzeiten kein Bild an den Mann brachte, hatte Soutine ein gutes Netzwerk an Freunden und Gönnern, die seine Obsession zu schätzten wussten. Galerist Zborowski verkauft bereits 1918, da ist der Künstler keine 30, eine Reihe von Gemälden an den elsässischen nach Paris übergesiedelten Unternehmer und Sammler Jonas Netter. Zborowski schickt den Künstler anschliessend in die Abgeschiedenheit der Pyrenäenberge. Er erwartet einen Karriereschub, der tatsächlich auch eintritt. 1922 kehrt Soutine mit 200 Leinwänden aus der Provinz zurück. Die meisten davon sind Stadtansichten. Im gleichen Jahr kauft der Industrielle Albert C. Barnes 51 Gemälde, was für den Maler aus dem osteuropäischen Niemandsland ein kometenhafter Aufstieg bedeutet. Die Pariser Szene nimmt es erstaunt und neidisch auf. An Soutines Malerei kommt man nicht mehr herum. Es wäre interessant gewesen, welche Arbeiten von Barnes gekauft wurden. Doch die Fonation in Philadelphia atmet heute noch den schrulligen Geist ihres Gründers, der gerne selbst durch seine Sammlung führte, zum Beispiel Thomas Mann, Greta Garbo und Charlie Chaplin aber nicht T.S. Eliot und Le Corbusier. Es wurden für Europa keine Bilder ausgeliehen. 

Doch die annähernd siebzig in Bern ausgestellten Gemälde beeindrucken. Einmalig der Grosse Oberlichtsaal im historischen Hauptgebäude. Beeindruckend, die Portraits, wie der in leuchtendes Rot gekleidete, linkisch-selbstbewusst sitzende Hotelpage «Le Groom», 1925, aus dem Centre Pompidou, Paris. Eine Ikone der französischen Zwischenkriegskunst. Er platzt förmlich aus dem dunklen Hintergrund, der ihn gleich wieder verschlingen will. Im grossen Saal werden allerdings die Stadtlandschaften zum herausragenden Ereignis. Sie entfalten wie selten in der Malerei als Fest von Farbe und Bewegung. Ihre Dynamik greift weit ins Heute vor. «La Coline de Céret», um 1921, macht die Tektonik des dargestellten Hügels zu einer von reiner Form, eine Gratwanderung zwischen Darstellung, Abstraktion und Auflösung. Schwindelerregend, aufregend, unbedingt sehenswert!

Ausstellung “Chaïm Soutine. À contre-courant» vom 16. August bis zum 1. Dezember 2024 Kunstmuseum Bern https://www.museen-bern.ch/de/

Der Text erschien redaktionell überarbeitet zuerst online am 22.08.2024 auf Republik.ch

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Immersion – Partizipation – Performanz | Raum – Teilhabe – Theater | Zeitbasierte Raumkonstruktionen auf der 60. Venedig Biennale

Von Max Glauner

Die Kunst beginnt in Padua. Mit einem Paukenschlag zwischen 1302 und 1306.1 Der Maler, Architekt und Fertiger von Mosaiken Giotto di Bondone gestaltet für den ungeheuer reichen Bankier Enrico Scrovegni die sogenannte Scrovegni- oder Arena-Kapelle. Ein Wunderwerk, das schon alles zeigt, woran sich Generationen von Künstlerinnen und Künstlern später abarbeiten sollten – bis heute.2 Die These, die, nach Alfred Noth Whiteheads Diktum, die Geschichte der Philosophie sei als eine Reihe Fußnoten zu Platon zu verstehen, auf die europäische Kunst, voran die Malerei und ihre Inszenierung gemünzt, impliziert, dass jedes künstlerische Mühen Giottos Setzungen nicht überbieten, sondern, wie eine Anmerkung dazu, bloß erweitern kann.


Die Reste der antiken Arena Paduas, lat. Circus Patavinus, ist, wie die exotischen Vögel zeigen, zum Hortus Conclusus umgebaut. In der Nordkurve steht der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert abgerissene Scrovegni-Palast . Er wurde auf späteren Darstellungen durch zwei Kapellen flankiert, während hier von der linken nur eine Fassade sichtbar ist. Die rechte Kapelle stellt die heute noch erhaltene, um den Narthex beraubte Kapelle Giottos dar. Druck aus dem 17. Jajrhundert, anonym, Quelle:Exhibooks

Ein aufmerksamer Gang durch die 60. Venedig Biennale bestätigt sie. Scrovegnis Schatzkästlein wäre im 19. Jahrhundert mit seinem Palast an der Nordkurve einer ehemaligen antiken Arena um ein Haar abgerissen worden. Eine Privatinitiative und der Kauf der Kapelle durch die Stadt 1880 verhinderten dies. Der Eintritt ist heute streng reglementiert. Es muss lange vorgebucht werden. Gruppen von 25 Personen bekommen für 15 Minuten Einlass in den heute freistehenden, von außen unspektakulären hochgotischen Ziegelbau. Der Gegensatz zum Inneren könnte kaum größer sein. Giotto entfaltet in Duzenden Einzelbildern über vier Register und ein abschließendes Tonnengewölbe ein Feuerwerk der Darstellungskunst al Fresco. Das Leben Jesu und Mariens, Verkündigung und Weltgericht werden dem Betrachter plastisch vor Augen geführt. Der Maler weiß jedes Material, die Marmorverkleidung der Kapelle, die Gewänder der Protagonisten, den täuschend echten Stein der allegorischen Figuren der Kardinaltugenden und Todsünden nachzuahmen. Eine Sensation, die jede gotische Glasmalerei und byzantinische Mosaikenkunst, die Leitmedien der damaligen Zeit, an Einfallsreichtum und Ausdruckskraft überbot. Zweihundert Jahre später wird Michelangelo mit der Sixtina in Rom den ersten Anlauf unternehmen, diesen Wurf zu überbieten. An Giottos Versuch, eine spirituelle aber gleichzeitig konsistente, glaubwürdige Parallelwelt herzustellen, in die wir immersiv und performativ eintauchen können, arbeiten wir uns bis heute ab.

Scrovegni-Kapelle in Padua, Giotto di Bondone 1302 bis 1306. Innenansicht nach Nord-Osten in die gotische Apsis mit Darstellungen der Marienlegende; Aussendung des Erzengels durch Gottvater im Bogen und Verkündigung im darunterliegenden Register. Auffällig, lediglich die Ostseite der Kapelle besitzt Fenster, 6 hohe schmale Rundbogenfenster . Der Umstand erklärt sich aus der ursprünglichen Lage des Kirchenbaus, der direkt an den Palast anschloss.
Foto: Max Glauner

Über das 19. Jahrhundert mit seiner rigorosen Gattungstrennung ist verdrängt und vergessen worden, dass die Scrovegni als feierlicher Höhepunkt und Bühne für die alljährlich stattfindenden Mariä-Verkündigungsprozessionen mit Aufführungen zur Marienlegende diente. Darin übernahmen führende Mitglieder und Freunde der Familie die Rollen der Protagonistinnen- und Protagonisten, während sich das Publikum in die Rolle emphatisch vergleichender Zeuginnen und Zeugen versetzt sah, die das nachgestellte Heilsgeschehen unmittelbar verfolgte und mit dem von Giotto an den Wänden imaginierten vergleichen konnte. Bildende Kunst und Architektur harmonieren als vollendeter Rahmen und Bühne für performative Darstellung und Partizipation.

Immersion, eintauchen in Imaginationsräume, und Performanz, Aufführung und Beteiligung des Publikums lauten die Zauberworte auch der Großausstellungen in der Lagunenstadt. Das gilt selbst noch für die durch den Künstlerischen Leiter der Biennale Adriano Pedrosa kuratierten Hauptausstellung Foreigners Everywhere/Fremde sind überall in den Giardini und den Arsenale. Wo der Kurator konservativ-musealisierend auf klassische Medien wie Malerei und Skulptur setzt, bedeutet Immersion und Dramaturgie seines Parcours vor allem Anschlussfähigkeit für die Besucherinnen und Besucher herzustellen, Räume zu bieten, in denen die Bilderwerke formal und thematisch in einen Dialog untereinander und mit den Betrachtenden treten können. Plakativ gesagt, er bietet ihnen eine ausgedehnte Scrovegni-Kapelle.

Eintauchen in den Raum

Nehmen wir den Auftakt in den Arsenale. Bevor die endlose Flucht der historischen Magazine beginnt, treten wir in einen geheimnisvoll beleuchteten Raum mit parallelen Schattenstreifen, die sich über die wuchtigen Stützen und Ziegelwände ziehen. Sie stammen von einem gewaltigen, wie eine Zwischendecke eingezogenen Geflecht aus grauen Zurrgurten. Wir lesen sie auch als finalen und bedeutungsschwangeren Kommentar zur anhaltenden Konjunktur von Spanngurten im zeitgenössischen Kunstschaffen. Diese schöne Initiation stammt von dem neuseeländischen Mataaho Collective, zu dem sich vier Maori- Künstlerinnen, Bridget Reweti, Erena Baker, Sarah Hudson und Terri Te Tau zusammengeschlossen haben. Mit dem Titel ihrer Arbeit Takapau, 2022, übersetzt sich das konkrete Kunstwerk wieder zurück ins Reale, Alltägliche. Denn „Takapau“ ist das Maori-Wort für ein besonders fein gewebtes Tuch, das bei rituellen Handlungen zu Geburt, Vermählung und Tod Verwendung findet. Takapau kann für das Leben, sein komplexes Geflecht an Beziehungen stehen wie für die Komplexität der Kunst und dem, was in der Ausstellung folgt. So ist die InstallationTransformations- und Initiationsraum. Bereits indem wir ihn betreten, nehmen wir an ihm Teil, verweilen oder durchschreiten ihn, um ihn neugestimmt zu verlassen. Dergestalt ist die Arbeit für diese 60. Venedig Biennale ikonisch. So eindrücklich und auf der Höhe der Zeit zeigt sich in der Hauptausstellung keine mehr.

Christoph Büchel, Monte di Pietà, in der Fondatione Prada, Foto: Max Glauner

Daneben macht sich die weitere Hauptausstellung der Biennale gediegen bieder aus. Gerade, dort, wo sie sich redlich bemüht. Ihr Kurator Adriano Pedrosa, Direktor des Museu de Art de Saō Paolo präsentiert sauber und dramaturgisch geschickt über dreihundert Künstler*innen überwiegend aus dem lateinamerikanischen Raum, von denen auch Kunstfeldprofis kaum etwas gehört haben. Auch das beeindruckt, überwältigt, hinterlässt aber ein schales Gefühl. Pedrosa setzt vor allem auf Malerei, sein Parcours, vor allem in den Arsenale, eine gewaltige, provanierte Scrovegni-Kapelle, die mit dem Gezeigten Anschlussfähigkeit für das Publikum herstellen will. Das Museum des 19. Jahrhunderts feiert fröhliche Urständ. Fotografie erscheint nur am Rande, ebenso Videos. Auch konzeptuelle, performative und aktionistische Kunst, an der der globale Süden, insbesondere Südamerika so reich ist, bleibt vergleichsweise marginal vertreten. Da, wo die Performance Teil der künstlerischen Praxis ist, bleibt sie den gezeigten Arbeiten äußerlich wie die Tanz-Session-Dokumentationen des in Berlin lebenden Hong-Kong-Chinesen Isaac Chong Wai, oder dem Amsterdamer Kollektiv Antonio Jose Guzman & Iva Jonkovic, die einen Turm aus betörend schönen indigoblauen Tüchern präsentieren, die kollaborativ in Workshops in Indien entstanden. Doch ein Workshop impliziert noch keinen Aufführungscharakter. Künstlerinnen und Künstler, die zum Beispiel in Brasilien ab den 1960er-Jahren Kunst, Theater und Aktionismus mit politischem Widerstand zusammenbrachten, wie Lygia Clark, Hélio Oiticica oder Augusto Boal werden mit keinem Wort erwähnt. Pedrosas Nobilitierungsprogramm, fällt in längst überwundene Muster zurück. Es geht ihm zwar um das Fremde im Eigenen, die andere Moderne, abseits der hegemonialen Zentren USA und Europa. Doch er treibt den Teufel mit dem Beelzebub aus. So konservativ-museal kam bisher keine Biennale-Hauptausstellung daher. Eine ungewollte Steilvorlage für den mit den Neo-Faschistischen sympathisierenden TV-Journalisten und Theatermann Pietrangelo Buttafuoco? Er wurde von Giorgia Meloni Gnaden unbefristet zum neuen Präsidenten der Venedig Biennalen ernannt. Das bedeutet Sturmwarnung in der Lagune.

Die Mühen in der Aufmerksamkeitsökonomie der Biennale-Besucherinnen und -Besucher zu punkten sind groß. Die Anziehungskraft der Venedig Biennale liegt paradoxerweise gerade in den immer wieder totgesagten nationalen Pavillons, die die Bühne Venedig seit Jahrzehnten dazu nutzen, den Begriff Nation und nationale Identität zu konterkarieren, oder unerhörten Stimmen im eigenen oder anderen Ländern Raum zu geben. Die meisten setzten auf Räume der Teilhabe, Partizipation, Immersionen und performativen Formaten. Das Spektrum war weit gesteckt. Die Pole lagen zwischen den Harmlosigkeiten des Schweizer Pavillons und dem gründelnden Deutschen, dem vergnügt bunten U.S.-Amerikanischen und dem beeindruckend hintersinnigen Polnischen. Hier borgt sich die Kunst Momente des Theaters. Mit Bühnen der Künstlerinnen und Künstler bieten sie zugleich Bühnen für ihr Publikum.

Bühnen der Partizipation

Nicht zu übersehen waren der Stapel zu einer einzigen Skulptur amalgamierter rotlackierter Sockel im Cours d’honneur des munterbunten U.S.-amerikanischen Pavillons. Die Podeste konnten, ja sollten bestiegen werden. Viele Besucher verstanden die Aufforderung und setzten sich von Tag eins an gerne in Selfie-Szene. Man/frau wurde zum Teil des Kunstwerks. Über die Sozialen Netzwerke verteilt machen die Aufnahmen Reklame für die U.S.A. und ihren Vertreter auf der Kunstbiennale. Der heißt Jeffrey Gibson, ist homosexuelles Mitglied der Choctaw und Cherokee und so der erste Native American, der die U.S.A. in Venedig vertritt. Auch ihm geht es darum, das Ausgestoßene, Marginalisierte, ebenso wie die Besucherin, den Besucher auf dem Sockel ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Das führt im Pavillon zu einem All-over geometrischer Muster und Figuren in leuchtenden Farben, die Gibson als Protest gegen eine abgeklärt-graue Mainstream-Moderne versteht.

Das Moment der aktiven Teilnahme, der Kooperation war am beeindruckendsten und ästhetisch am überzeugendsten im Polnischen Pavillon umgesetzt. Partizipation, Teilhabe pur. Was als bloße Mitmachkunst aussah, zog gerade dadurch in Bann, dass es den Impuls des Publikums mitzumachen unterdrückte. Nach der Vereidigung der neuen polnischen Regierung handelte die neue Kulturadministration rasch. Ein nationalistischer Großmaler wurde ausgeladen und statt seiner das Kollektiv Open Group von Yuriy Biley, Pavlo Kovach und Anton Varga mit der Ausführung betraut. Sie bieten nun ein monumentales Kriegskaraoke. Großformatig projiziert das Trio auf die Querseiten der Pavillon-Blackbox die Videos Repeat after Me, 2022 und 2024. Biley, Kovach, Varga hatten in einem Flüchtlingslager bei Lwiw Zivilisten aller Altersgruppen immer in der gleichen Einstellung, nah, frontal und im Freien, Unbehausten gefilmt. Nach einer kurzen Vorstellung ihrer Person erzählen sie von ihrem Trauma, die Geräusche, die eine Granate, eine herannahende Bombe, ein Maschinengewehr machte. Das «TDDDDZDZHZZZHHH-PIU» wurde nun für uns wie im Karaoke in den englischen Untertiteln eingefärbt. Doch der Aufforderung mochten weder meine Homies Ida, Inke noch Claudia und auch ich nicht Folge leisten, obwohl vor den Leinwänden Mikrofone zum Mitsprechen aufgestellt waren. So sehr verschlug es uns ob der Präsenz der Erzählenden den Atem. Kunst ist eben mehr als schöner Schein und Vehikel für diese oder jene Botschaft. Sie kann Anderem und Anderen eine Stimme geben. Sie kann in der Verdichtung oder Verweigerung, hier der Teilhabe, Empathie, Unmittelbarkeit und Aktualität herstellen.

Performance im wattierten Giraffenleib im Tschechischen Pavillon, Foto: Max Glauner

Auch der Australische Pavillon, setzt auf Teilhabe und Verweigerung. Er wurde ebenso von einem Mitglied der First Nations, Archie Moore, gestaltet und erhielt dafür zu Recht den Goldenen Löwen für den besten Länder-Pavillon. Auch hier wird ein beeindruckender Gedenkraum geschaffen. Der Künstler legte auf einem ausgreifenden Podest inmitten eines abstandgebietenden Bassins Stapel geschwärzter Akten aus, die die rassistisch Ausgrenzungspolitiken der australischen Regierung dokumentieren. Zum Kontrapunkt ließ Moore auf die schwarzen Wände mit Kreide einen biblischen Stammbaum schreiben, der die Lebenslinien seiner Ahnen, der Kamilaroi und Bigambul, mit der heutigen Menschheit verwebt. Moore setzt Bildstark auf Distanz zum Objekt, Reflexion und Aufklärung statt auf Überwältigung. Partizipation bedeutet Moore wie dem Polnischen Pavillon Brechung unmittelbarer Teilhabe, um Teilhabe als ein Mitdenken, als intellektuelle Anstrengung aufzurufen. Das ist nicht einfach, denn die Konkurrenz auch aus der kommerziellen digitalen Virtual Reality ist so groß, dass sich das Kunstfeld spätestens seit Anfang der 2000er-Jahre mit interaktiven, „immersiven“ Erlebniswelten überbieten muss. Eine Strategie diesen Druck zu unterlaufen liegt in der affirmativen Subversion etablierter Narrative und deren Darstellung durch die Unterhaltungsindustrie, Politpropaganda und wissenschaftlichen Veranschaulichungen in Diagrammen, Bildern, Texten. Ein eindrückliches Beispiel bietet der Tschechische Pavillon in dem die Künstlerin Eva Kotáková die Geschichte der Giraffe Lenka im Prager Zoo als Teil diplomatischer Symbolpolitik sozialistischer Bruderländer hinter dem Eiserenen Vorhang. Der fragmentierte Giraffenkörper kann durchschritten und bestaunt werden und dient der Künstlerin als Bühne für ergänzende Texte, Zeichnungen und Performances, die die groteske Geschichte des Tiers beiläufig und humorvoll ins Persönliche, vor allem aber auch Allgemeingültige, Heutige ergänzen und erweitern.

Bühnen der Immersion

Die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung und spielerische Leichtigkeit des Polnischen Pavillons blieb dabei unübertroffen. Im Vergleich fielen einige Präsentationen deutlich ab. Gleich beim Eingang der Giardini wartet der elegant-modernistische Pavillon Bruno Giacomettis aus den 1950er-Jahren. Für Ablenkung ist durch den bi-nationalen Schweizer-Brasilianer Künstler aus Genf Guerreiro do Divino Amor gesorgt. Eine über LED-Rotoren animierte Trans-Göttin führt aus ihrem Tempel wie über einen Geburtskanal in ein Kuschelboudoir. Wer mag kann sich dort auf bequeme Kissen betten, um in eine Kuppel zu träumen, in mainstreamtaugliche Trigger der LGBTQ+-Szene und gängige Klischeebilder der Deutschschweiz projiziert werden. Immersion hieß hier abtauchen, Partizipation, Teilhabe an der allerdings bloß behaupteten Club-Community des Künstlers.

Um Teilhabe an marginalisierten Gemeinschaften und Erinnerungen geht es auch im Französischen Pavillon bei dem aus Martinique stammenden Künstler Julien Creuzet und dem Pavillon Großbritanniens, beim Künstler und Filmemacher John Akomfrah. Während Akomfrah bildgewaltige Videos verstörend schöner Landschaften, Menschen, von Bächen, dem Meer in einen engen Parcours platziert, um Kontemplation und Empathie herzustellen, gestattet Creuzet seinem Publikum zwischen Videowänden und luftigen skulpturalen Geflechten, begleitet von einem durchdringenden Sound, mehr Raum zur Bewegung und Erkundung. Frankreich hatte neben Belgien die mit Abstand beste Musikanlage.

Nichts konstituiert Gemeinschaft so unmittelbar wie Musik, Tanz und Gesang, die Zaubermittel im Belgischen und Ägyptischen Pavillon. Das für Belgien engagierte Kollektiv the collective organisierte unter dem Titel The Petticoat Government lange Prozessionen von Charleroi, Dünkirchen und spanischen Städten, in denen überlebensgroße traditionelle Folklorefiguren nach Venedig getragen wurden. Der Pavillon wurde zur Passage erklärt, unter dem Gerüst der ausgestellten Giganten gefeiert und getanzt.

Drama 1882, die theaterähnliches Heranrücken der Projektion an den Zuschauer, Foto: Max Glauner

Die immersive und gemeinschaftsstiftende Kraft von Musik und Gesang machte sich auch der ägyptische Künstler und Filmer Wael Shawky im Ägyptischen Pavillon zu Nutze. Während die Besucherinnen und Besucher in der Regel um Ägypten einen großen Bogen machten, bildeten sich an diesem Pavillon zu den Eröffnungstagen die mit Abstand längsten Schlangen. Die Ursache: Die Länge des gezeigten Videos, das wie ein Theaterstück von vorne gesehen werden sollte, nur 40 Zuschauerinnen und Zuschauer wurden eingelassen und vor allem die Qualität des Dargebotenen. Während die Skulpturen Shawkys im abgedunkelten Raum das Interesse kaum wecken konnten, zog der über die gesamte Längswand projizierte Film in seinen Bann. Der für seine mit Puppen und Marionetten dargestellten Parabeln und Geschichten bekannte Künstler wagte sich in Drama 1882, 2024, an das ganz große Bühnen-Genre Oper. Nun erzählt er in einem Singspiel im Stil des epischen Theaters von der sogenannten Urabi Revolution 1879-1882 in Candy-Colours und historischen Kostümen. Geschichte wird clever präsentiert und gegen den Strich gebürstet. Durch die Nähe der Zuschauenden zur großformatigen Projektionsfläche und zu den Figuren wird zusätzlich eine Unmittelbarkeit hergestellt, die auf diese Weise in analogen real-präsentischen Aufführungen kaum denkbar ist. Es sei denn, man macht das Publikum selbst zum Darsteller.

Das passiert in den Pavillons Serbiens und Deutschlands. Was in den 1970er-Jahren mit Ed Kienholz und Illya Kabakow begann, dehnte sich über die Jahre aus, bis begehbare Raumfolgen Geschichten erzählten, wie bei Gregor Schneider, Mike Nelson, Christoph Schlingensief oder Christoph Büchel, der jetzt in Venedig seine gewaltigste Rauminszenierung im Palazzo der Prada-Stiftung präsentiert. Gerade diese Bühnen stehen mehr oder weniger bewusst in Giottos Tradition der Narration, der Vergegenwärtigung eines Heilsgeschehens im Bild und seinem performativen Nachvollzug als Zeugenschaft.

Das versucht auch der Serbische Pavillon mit seiner Bühneninszenierung Exposition Coloniale . Sein Künstler, der Szenograf Aleksandar Denić, arbeitet mit ähnlichen Mitteln wie Büchel, verlassene Bühne, Requisiten, eine Atmosphäre von Verwahrlosung und Hoffnungslosigkeit, die Besucherin, der Besucher als auf sich selbst zurückgeworfener Teil der Inszenierung. Bei Denić bewegt sich das Publikum wie ein Darsteller im Filmset, der ihm die Realität eines Grenzpostens an der EU-Außengrenze mit gammeligen Buden, kaputten Telefonzellen und einer funktionierenden Juke-Box mit Europa-Liedern nahebringen will. Auch das ist Theaterprofessionell mit einer guten Portion Humor und Sinn fürs Randständige gemacht. Doch auch hier bei aller Mühe fürs Schäbige zu routiniert und am Ende zu glatt.

Szene im ersten Stock Ersan Mondtags Memorialarchitektur im Deutschen Pavillon, Tresholds, am ersten Previewtag der 60. Venedig Biennale, Foto: Max Glauner

Die Gefahr kennt der Deutsche Pavillon, ist doch einer der Teilnehmenden, Ersan Mondtag, ein professioneller Theatermann, Regisseur, Kostüm- und Bühnenbildner. Er pflanzt unter der ebenso türkischstämmigen Kuratorin und Theaterfrau Çağla neben den Video- und Objekt-Installationen der in Berlin lebenden Israelin Yael Bartana eine monumentale Memorialarchitektur vor und hinter den Haupteingang des Gebäudes aus der NS-Zeit und zwingt wie schon Anne Imhofs Faust, 2017, das Publikum zum Einlass durch die Hintertür. Die eigentliche Schwelle, was Threshold, der Titel des deutschen Biennale-Beitrags heisst, ist also wieder einmal symbolträchtig verbaut. Drinnen ein mehrstöckiges lehmbeworfenes Monument, das dergestalt nach aussen zu rutschen scheint. Eine erdschwere Erinnerungsbühne, einerseits Katafalk, der den Grossvater, Arbeitsmigrant der ersten Generation aus der Türkei erinnert und Monument, Kenotaph, für all jene, die als «Gastarbeiter» mit lausigen Versprechen in die Bundesrepublik gelockt wurden. Auch bei Mondtag sind wir nicht bloß Zuschauende, sondern sind als Zeuginnen und Zeugen eines Martyriums aufgerufen. Teilhabe heißt bei ihm – wie Magdalena in der Christlichen Passion – Anteilnahme, Empathie. Mondtags Grossvater arbeitete bei Eternit in Berlin. Originale Urkunden im Erdgeschoss belegen das. Er starb an einer Asbestvergiftung. Darum überzieht die zugänglichen Geschosse, in der er eine ärmliche Wohnung rekonstruiert mit reichlich Staub, den wir an Händen und Kleidung mit nach draussen tragen und erst recht die Darstellerinnen und Darsteller, die zumindest in den Eröffnungstagen die Mondtag-Familie, Sterben und Trauer um den Großvater stumm nachspielte. Es hätte dieser theatralischen Einlage nicht bedurft, um die Botschaft aus dem Bühnen-Set zu lesen. Wenn auch ironisch gebrochen passt Yael Bartanas durch Bühnenmodell und Videowand vorgetragene Fantasie vom extraterrestrischen Überleben des Jüdischen Volkes in einem gigantischen Raumschiff ästhetisch und vom Pathos her recht gut dazu.

Büchel – Illusionsmachine der Superlative

Die immersiven Anstrengungen der Länderpavillons wird nur noch im Ca‘ Corner della Regina überboten. Ohne Biennale-Siegel des „Collateral Event“ segelt hier der Schweizer Künstler Christoph Büchel als Gast der Fondazione Prada mit einer Materialschlacht sondergleichen, Monte di Pietà. Das überrascht. Büchel hatte nach dem Barca Nostra-Debakel 2019 seinen Rückzug aus dem Kunstbetrieb angekündigt. In Sankt Gallen hatte er 2002 mit House of Fiction (Pumpwerk Heimat) einer seiner ersten und der einzigen heute noch zugänglichen Installationen eingerichtet. Das Publikum ist in einer labyrinthischen chaotisch-verkommenen Raumabfolge sportlich und intellektuell gefordert und baut sich seine Narrative auf. Nicht linear und chaotisch. Monte di Pietà kann als eine inhaltlich kalibrierte Erweiterung gelesen werden. Der barocke Prada Palazzo war lange Zeit eine Pfandleihanstalt. Das veranlasste Büchel dazu über Wert, Waren- und Geldflüsse nachzudenken. Er verwandelte den gesamten Palast in virtuelle Verkaufs- und Office-Räume für Gebrauchtes, vollgestopft, mit Klamotten, echten Bomben, echten Kunstwerken von Tizian bis Beuys, dazu Vorderladern, Blumenvasen, echtem Schmuck, echtem Tinnef, Fahrrädern und Nerzmänteln, während das Mezzaningeschoss Einsicht in die eben erst verlassenen Überwachungs-, Feier- und Partyräume derer gab, die den Laden unterhielten. Ausladend opulente Kapitalismuskritik. Dazu gehört Kapital und Chuzpe.

Der Ca‘ Corner della Regina im Besitz der Fondazione Prada von Christoph BÜchel zum Räumungsverkauf ausstaffiert. Foto: Max Glauner

Enrico Scrovegnis Vater wird in Dantes Göttlicher Komödie erwähnt. Er schmort in der Hölle. Weil, er hatte sein riesiges Vermögen durch Zinswucher erwirtschaftet. Seine Schuldner landeten in Armut. Giottos Kapelle sollte den guten Ruf der Familie wiederherstellen. Der Ablass gilt bis zum jüngsten Gericht. Bei Scrovegni lernen wir, Kunst wäscht das schlechte Gewissen rein und trägt den Namen ihres Besitzers weiter. Mit Büchels Ruhm wächst auch der der Geschwister Prada.

Der Text erschien in redaktionell überarbeiteter Form in KUNSTFORUM International Bd. 296

Aquarellierter Druck aus dem Jahr 1801. Pittoreske Verfallsarchitektur steht mit der Scrovegni-Kapelle im Fokus der Darstellung. Der Palast ist noch intakt, anonym, Quelle: Exhibook
  1. Zum umstrittenen Begriff Kunst: Ich gehe von einem engeren und weiten Begriff der Kunst aus. Der weite betrifft alles Wissen um und die durch handwerkliche Technik hervorgebrachten Gegenstände. Die Antike unterscheid hier nicht zwischen einem Stuhl oder einem Standbild des Praxiteles. Der enge Begriff, dem ich hier folge, hat sich mit der Renaissance in Europa herausgebildet. Mit ihm lässt sich Handwerk und Kustschaffen differenzieren. Der Begriff europäischer Kunst hat damit ein Repräsentations- und Diskursfeld hervorgebracht, das sich von allen vorausgehenden und damals wie heute bestehenden kulturellen Formationen unterscheidet und das schöpferisch-autonome Individuum, Künstler und Wissenschaftler, mit seiner Autorität durch Autorschaft, wie es der Theoriepraktiker Bazon Brock wiederholt treffend charakterissiert hat, ins Zentrum stellt. Das heisst nicht, dass Höhlenmalerei, indigene Beschwörungsrituale, oder schamanische Holzmasken nicht zu den kulturellen Errungenschaften gehören und als schön und selten und kostbar betrachtet werden können und solchermassen auch zunehmend in einen kapitalistischen Waren- und Verwertungskreislauf Aufnahme finden. Doch sie sind zuerst als rituell-religiöse Performanzen, Inzenierungsobjekte und -räume zu begreifen (Antike, aussereuropäische Kulturen) oder als Objekte der Anschauung wie sie asiatische Kulturen hervorgebracht haben. ↩︎
  2. Diese These ist nicht neu. So sieht der dem NS nahestehende Kunsthistoriker Theodor Hetzer in einer ersten Publikation 1942 in Giotto die Grundlegung der abendländischen Kunst, siehe ders., Giotto. Seine Stellung in der europäischen Kunst, Darmstadt 1960, 19421 ↩︎
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Computer Klick und Griffel Gottes. Yves Netzhammers Ausstellung „Die Welt ist schön und so verschieden“ im Kunstmuseum Solothurn

Jede Linie ist ein Strich. Nicht jeder Strich eine Linie. Mit diesen Gleichungen ist das Werk des Schweizer Künstlers Yves Netzhammer zwar nicht in Gänze ausgelotet. Dennoch sind damit sein Ausgangspunkt und Wesenskern benannt.

Die meisten zwischen Bellinzona und Schaffhausen geborenen Künstlerinnen sind den Destillierern zuzurechnen, das heißt jenen beharrlichen, zeitlebens mit einer Sache, mit einem Thema Befassten. Bei Netzhammer, Jahrgang 1970, ist es die Zeichnung als digital am Computer generierte Form. Schon mit dieser Setzung ist der Strich, dem eine individuelle Geste, ein Stilistisches innewohnt, eliminiert. Zudem kennen Netzhammers Figurationen keine Schraffur. Alles Malerische ist getilgt. Das mag spröde und hermetisch anmuten. Netzhammer hat jedoch nach seinem Abschluss an der Zürcher Hochschule für Gestaltung 1995 sein eigensinniges Bild- und Erzählrepertoire ohne falsche Versprechen beeindruckend entfaltet. So vertrat er die Schweiz 2007 auf der Venedig Biennale, hatte Ausstellungen in Zürich, Bern, München und Frankfurt, in Kiew, in Shanghai auch in China, auf Tasmanien und im März im renommierten Utsunomiya Museum of Art nördlich von Tokyo. Das erlaubt ihm den kommerziellen Kunstmarkt zu ignorieren.

Wie in Netzhammers animierten Filmen, in denen sich aus einer Form die nächste ergibt, transformierte sich das Form- und Ausdrucksrepertoire über die Jahre so vielfältig und stark, dass nun mit selbstverständlicher Leichtigkeit die Aufgabe gemeistert werden konnte, die sieben Erdgeschosssäle des Solothurner Kunstmuseums mit gänzlich neuen Arbeiten in einem durchgängigen Narrativ zu füllen, das private Obsessionen, existenzielle und politische Fragestellungen mit ortspezifischen Gegebenheiten klug verknüpft. Netzhammer nimmt Bezug auf den repräsentativen neoklassizistischen Bau des Kunstmuseums auf dem ehemaligen Glacis der katholischen Frontstadt der alten Eidgenossenschaft, ebenso wie auf ihre kriegerische Vergangenheit, die schräg gegenüber mit Panzern, Spießen und Hellebarden im historischen Zeughaus fröhliche Urständ feiert.

Auch bei Yves Netzhammer finden wir die langen Spieße, die Schweizer Reisläufer ab dem 15. Jahrhundert zum militärischen Exportschlager machten. Sie begegnen den Besucherinnen und Besuchern gleich am Anfang und im letzten Raum, einmal als reale Stangen an die Wand gelehnt und zum Schluss zeichenhaft in einem apokalyptischen Panorama.

Für Netzhammer ist es jedoch bezeichnend, dass er sein Publikum zu Beginn der Reise ins Ungefähre, Diffuse schickt. Die ersten zwei Räume sind als Folge der linken Enfilade im Erdgeschoss als Black Boxes konzipiert, während die spiegelbildliche rechte Achse über das Foyer hell und bunt mit einem roten Luftballon an der Wand einen klaren Orientierungspunkt, Halt für das Auge und Abschluss bietet. Wir müssen uns auf der anderen Seite erst einfinden, zurechtfinden in die Zeichenwelt des Künstlers, die uns neben den Stäben, fünf an der Zahl, mit merkwürdigen schwarzen Aufsätzen, Spitzen, Lanzetten, Früchten, in einer großformatigen schwarz-weißen Projektion vom Boden bis zur Decke unterlegt von einem unheimlichen Klangteppich vorgeführt wird. Hier entwickeln sich Linien, gerade, gekrümmt. Sie grenzen ab, definieren ein hier und dort und formen Ornamente, Figuren, Arabesken. Sind es die Lanzen an der Wand, Zeichenstäbe, Griffel Gottes, die hier den Takt angeben? Oder Thyrsosstäbe, die im antiken Griechenland von berauschten Mänaden und Dionysosjüngern geschwungen wurden? Sie kehren in der Neuzeit militärmusikalisch reguliert als Taktstock des Tambourmajors wieder, der dem nachfolgenden Trommlerzug die angemessene Marschbewegung in die Luft malt.

„Blätter sind Fragen der Luft“, lautet das paradoxe Motto dieses Raums. Er leuchtet diskret unter der Decke aus einer abgeklebten Neonröhre. Doch das präsentierte Arrangement aus Stangen und Videoprojektion findet im Titel keine Erklärung. Es reibt sich daran. Es findet Erweiterung. Vom Takt des Tambourmajors zum Veitstanz der Mänaden. Pentheus wird im bacchantischen Furor zerrissen. Bei Netzhammer finden sich Körper selten intakt, häufig fragmentiert, zerstückelt mit blutenden Wunden.

Eine durcherzählte Geschichte ist daher in Netzhammers Parcours nicht zu erwarten, vielmehr ein vielstimmiger Bocksgesang auf die Abgründe menschlicher Existenz. Aber auch auf naive Freuden und kindliche Lust, die er mit spielerischem Eigensinn in Szene zu setzen weiß. Gleich der zweite Saal entfaltet ein Zaubergarten, „Die Luft ist das Grab der Wurzel“, in dessen Kasten-Beete weiße Ventilatoren schmucke am 3-D-Printer gefräste Räder antreiben, über Ausschnitte in den Wänden mit dem eindringenden Tageslicht analog geheimnisvoll kosmische Sphären gezaubert werden. Wir staunen über die Ballwurfmaschine im vierten Raum mit seinen grotesken Umrissportraits. Man wundert sich über Parade aus Kisten und Paketrollen aus Holz statt aus Pappe im sechsten, die mit kleinen aufgeklebten Zeichnungen wundersame Adressaten aus einer anderen Welt suggerieren und den Betrachter dergestalt ein- und ausschließen wollen.

Coda und Reprise im siebten und letzten Saal mit „Ein Baum ist ein Tier mit Blättern“. Das erste Wort, „Blätter“ ist auch das letzte. Wie die Geste, das Ziehen einer Linie. Sie teilt, sie scheidet und ruft im letzten Saal über alle vier Wände als „Martillo neto Guernica“ überwältigend und verstörend eine apokalyptische Vision auf, die wir wohl kaum ertragen könnten, wenn uns die Welt nicht gleichzeitig durch die Kunst so schön und verschieden vermittelt wäre.

-> www.kunstmuseum-so.ch

Der Artikel erschien zuerst in KUNSTFORUM International Band 295






































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Jede Linie ist ein Strich. Nicht
jeder Strich eine Linie. Mit diesen Gleichungen ist das Werk des Schweizer
Künstlers Yves Netzhammer zwar nicht in Gänze ausgelotet. Dennoch sind damit
sein Ausgangspunkt und Wesenskern benannt.

Die meisten zwischen Bellinzona
und Schaffhausen geborenen Künstlerinnen sind den Destillierern zuzurechnen,
das heißt jenen beharrlichen, zeitlebens mit einer Sache, mit einem Thema
Befassten. Bei Netzhammer, Jahrgang 1970, ist es die Zeichnung als digital am
Computer generierte Form. Schon mit dieser Setzung ist der Strich, dem eine
individuelle Geste, ein Stilistisches innewohnt, eliminiert. Zudem kennen Netzhammers
Figurationen keine Schraffur. Alles Malerische ist getilgt. Das mag spröde und
hermetisch anmuten. Netzhammer hat jedoch nach seinem Abschluss an der Zürcher
Hochschule für Gestaltung 1995 sein eigensinniges Bild- und Erzählrepertoire
ohne falsche Versprechen beeindruckend entfaltet. So vertrat er die Schweiz
2007 auf der Venedig Biennale, hatte Ausstellungen in Zürich, Bern, München und
Frankfurt, in Kiew, in Shanghai auch in China, auf Tasmanien und im März im renommierten
Utsunomiya Museum of Art nördlich von Tokyo. Das erlaubt ihm den kommerziellen
Kunstmarkt zu ignorieren.

Wie in Netzhammers
animierten Filmen, in denen sich aus einer Form die nächste ergibt,
transformierte sich das Form- und Ausdrucksrepertoire über die Jahre so
vielfältig und stark, dass nun mit selbstverständlicher Leichtigkeit die
Aufgabe gemeistert werden konnte, die sieben Erdgeschosssäle des Solothurner Kunstmuseums
mit gänzlich neuen Arbeiten in einem durchgängigen Narrativ zu füllen, das
private Obsessionen, existenzielle und politische Fragestellungen mit
ortspezifischen Gegebenheiten klug verknüpft. Netzhammer nimmt Bezug auf den repräsentativen
neoklassizistischen Bau des Kunstmuseums auf dem ehemaligen Glacis der
katholischen Frontstadt der alten Eidgenossenschaft, ebenso wie auf ihre
kriegerische Vergangenheit, die schräg gegenüber mit Panzern, Spießen und
Hellebarden im historischen Zeughaus fröhliche Urständ feiert.

Auch bei Yves Netzhammer
finden wir die langen Spieße, die Schweizer Reisläufer ab dem 15. Jahrhundert zum
militärischen Exportschlager machten. Sie begegnen den Besucherinnen und
Besuchern gleich am Anfang und im letzten Raum, einmal als reale Stangen an die
Wand gelehnt und zum Schluss zeichenhaft in einem apokalyptischen Panorama.

Für Netzhammer ist es jedoch
bezeichnend, dass er sein Publikum zu Beginn der Reise ins Ungefähre, Diffuse
schickt. Die ersten zwei Räume sind als Folge der linken Enfilade im
Erdgeschoss als Black Boxes konzipiert, während die spiegelbildliche rechte Achse
über das Foyer hell und bunt mit einem roten Luftballon an der Wand einen
klaren Orientierungspunkt, Halt für das Auge und Abschluss bietet. Wir müssen
uns auf der anderen Seite erst einfinden, zurechtfinden in die Zeichenwelt des
Künstlers, die uns neben den Stäben, fünf an der Zahl, mit merkwürdigen
schwarzen Aufsätzen, Spitzen, Lanzetten, Früchten, in einer großformatigen schwarz-weißen
Projektion vom Boden bis zur Decke unterlegt von einem unheimlichen
Klangteppich vorgeführt wird. Hier entwickeln sich Linien, gerade, gekrümmt.
Sie grenzen ab, definieren ein hier und dort und formen Ornamente, Figuren,
Arabesken. Sind es die Lanzen an der Wand, Zeichenstäbe, Griffel Gottes, die
hier den Takt angeben? Oder Thyrsosstäbe, die im antiken Griechenland von
berauschten Mänaden und Dionysosjüngern geschwungen wurden? Sie kehren in der
Neuzeit militärmusikalisch reguliert als Taktstock des Tambourmajors wieder,
der dem nachfolgenden Trommlerzug die angemessene Marschbewegung in die Luft
malt.

„Blätter sind Fragen der
Luft“, lautet das paradoxe Motto dieses Raums. Er leuchtet diskret unter der
Decke aus einer abgeklebten Neonröhre. Doch das präsentierte Arrangement aus
Stangen und Videoprojektion findet im Titel keine Erklärung. Es reibt sich
daran. Es findet Erweiterung. Vom Takt des Tambourmajors zum Veitstanz der
Mänaden. Pentheus wird im bacchantischen Furor zerrissen. Bei Netzhammer finden
sich Körper selten intakt, häufig fragmentiert, zerstückelt mit blutenden
Wunden.

Eine durcherzählte
Geschichte ist daher in Netzhammers Parcours nicht zu erwarten, vielmehr ein
vielstimmiger Bocksgesang auf die Abgründe menschlicher Existenz. Aber auch auf
naive Freuden und kindliche Lust, die er mit spielerischem Eigensinn in Szene
zu setzen weiß. Gleich der zweite Saal entfaltet ein Zaubergarten, „Die Luft
ist das Grab der Wurzel“, in dessen Kasten-Beete weiße Ventilatoren schmucke am
3-D-Printer gefräste Räder antreiben, über Ausschnitte in den Wänden mit dem
eindringenden Tageslicht analog geheimnisvoll kosmische Sphären gezaubert
werden. Wir staunen über die Ballwurfmaschine im vierten Raum mit seinen
grotesken Umrissportraits. Man wundert sich über Parade aus Kisten und
Paketrollen aus Holz statt aus Pappe im sechsten, die mit kleinen aufgeklebten
Zeichnungen wundersame Adressaten aus einer anderen Welt suggerieren und den
Betrachter dergestalt ein- und ausschließen wollen.

Coda und Reprise im siebten
und letzten Saal mit „Ein Baum ist ein Tier mit Blättern“. Das erste Wort,
„Blätter“ ist auch das letzte. Wie die Geste, das Ziehen einer Linie. Sie
teilt, sie scheidet und ruft im letzten Saal über alle vier Wände als „Martillo
neto Guernica“ überwältigend und verstörend eine apokalyptische Vision auf, die
wir wohl kaum ertragen könnten, wenn uns die Welt nicht gleichzeitig durch die
Kunst so schön und verschieden vermittelt wäre.

 

eigentlich müssten wir sie alle lieben. Kunstmuseum Solothurn

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Fetische überall

Vom fragmentierten Blick, nacktem Fleisch und parzellierten Körpern. Der Fetisch in der Kunst. Eine Ausstellung in der Grafischen Sammlung der ETH Zürich

Tiepolo Vater und Sohn, Das Märtyrium der Heiligen Agata. Foto: Wiki commons

Es gibt Worte, von denen geht ein Leuchten aus, das dasjenige von Bezeichnungen wie „Baum“, „Tasse“, „Auto“ bei weitem überstrahlt. Scheinbar unergründlich bergen sie ein Geheimnis, ein Versprechen. Eines ist das Wort „Fetisch“. Ist es selbst ein Fetisch?

Googeln wir den Begriff, bekommen wir allerdings zuerst Seiten zu sexuell Deviantem, viel nackte Haut in Lack und Leder geboten. Die Faszination des Begriffs weicht schnell stereotypen Bildern der Triebregulierung. War da nicht mehr? Wo bleibt die Magie des Worts?

Wenn Sie über den faszinierenden Begriff „Fetisch“ etwas erfahren und zugleich eine der wenig bekannten Schatzkammern der Stadt Zürich kennen lernen wollen, sei Ihnen bis Anfang Juli 2024 ein Besuch in der Graphischen Sammlung der ETH-Zürich empfohlen. Dort wird bis zum 7. Juli die Ausstellung „Im Rausch(en) der Dinge. Fetisch in der Kunst“ gezeigt, kuratiert von der stellvertretenden Leiterin des Hauses, Alexandra Barcel und der Zürcher Autorin, Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen. Das verspricht Augenfreude und Aufklärung.

Seit ihrer Gründung der Sammlung im 19ten Jahrhundert sind in der ETH dank umfangreicher Ankäufe und grosszügiger Schenkungen über 160‘000 Arbeiten überwiegend auf Papier aus dem 15. Jahrhundert bis heute zusammengekommen. Sie ist damit die grösste Sammlung ihrer Art in der Schweiz. Und jederzeit für jedermann und -frau zugänglich. Die Besucherinnen können sich dergestalt an unbezahlbaren Originalen von Albrecht Dürer bis Angelika Kauffmann, von Francisco Goya bis Louise Bourgeois oder Zeitgenossinnen wie Zilla Leutenegger und Miriam Cahn erfreuen und unterrichten.

So ist auch jetzt eine faszinierende Auswahl hochkarätiger Arbeiten zu sehen, die an Exquisität ihres Gleichen sucht. Ein tolles Ding des vergleichenden Sehens quer durch die Jahrhunderte. Die Kuratorinnen erlauben sich Werkgruppen zusammenzubringen. Da hängen zum Beispiel unter dem Motto «Die Waffen einer Frau» zwei aggressiv-monströse Future-Pistolen von Sylvie Fleury als Siebdrucke auf schrillem gelbem und rotem Spiegelpapier, 2004, über detailversessenen Kupferstichen des Renaissancekünstlers Hans Sebald Beham, eine Göttin der «Gerechtigkeit» und eine «Venus» aus dem Jahr 1539. Von deren Schwert und Speer schweifen wir hinüber zum Dolch einer drallen Schönen, eine «Lucrezia», die sich wie die Sage geht, durch Selbstmord der Schande entzog. Und so weiter entlang formaler und thematischer Linien, die die Besucherin und der Besucher selbst von Blatt zu Blatt ziehen darf.

Von der Lehre zur Kunstbildung

Anfänglich als akademische Kollektion von Anschauungs- und Studienobjekten für Dozenten und Studierende gedacht, wandelte sich die Funktion der Sammlung mit den Jahren. Blätter des Gebrauchs, die, wenn überhaupt, ihren Kunstwert aus dem dargestellten, reproduzierten Kunstwerk bezogen, wurde selbst der Status von Kunstwerken zugeschrieben. Sie hatten nicht mehr nur eine weitentfernte Architektur, ein Ölgemälde, eine Skulptur naturgetreu wiederzugeben oder in einer Skizze des Künstlers deren Idee, sondern überstiegen an Wertschätzung diese oft bei weitem. Aus der Frühzeit der serienmässigen Reproduktion wie dem Kupferstich sind Beispiele bekannt, die diesen Wettstreit bereits aufnehmen wollten, Dürers Meisterstiche 1514, oder Rembrandts Die drei Kreuze 1653. Damit rücken sie mit zunehmender Aufmerksamkeit und gleichzeitiger Statusvermehrung des Besitzers klandestin an das heran, was die grossartige Ausstellung von Barcal und Bronfen thematisiert, den Fetisch in der Kunst. Und damit den Fetisch Kunst, der im Idealfall durch das Kunstwerk selbst zum Gegenstand wird.

Albrecht Dürer, Nemesis, 1501/1502, Foto: Wiki-Arts-Project Gemeinfrei

Zum Beispiel in Albrecht Dürers Druckgrafik Nemesis, 1501 bis 1502. Der Titel, für die Epoche ungewöhnlich, ist durch den Künstler selbst dank einer Tagebuchnotiz überliefert. Der Kupferstich steht programmatisch für den Künstler und gleichermassen programmatisch zum Auftakt der Ausstellung. Wagen wir eine erste Annäherung an das vertrackte Thema und schauen das Blatt genauer an. Eine nackte geflügelte Frau, die griechische Göttin des gerechten Zorns, der Bestrafung und der austeilenden Gerechtigkeit, schwebt als Weltbeherrscherin weit über einem Alpenstädtchen auf einer Kugel. Sie steht würdevoll im rechten Profil und hält ein Zaumzeug in der Linken zur Zügelung unkontrollierter Regungen, einen kostbaren Pokal in der Rechten zur Auszeichnung der Würdigen. Ein Tuch flattert über ihre linke Schulter gelegt mit beiden Enden nervös im Wind und kontrastiert die ruhig-gemessene Gestalt der Frau ebenso wie der weisse Hintergrund der oberen Bildhälfte in scharfem Gegensatz zu der detailreich geschilderten Landschaft darunter steht, in die der Wolkensaum der Himmelsphäre durch den Druck der Kugel zu sacken scheint.

Was ist nun Fetisch, beziehungsweise taugt dazu? Das Blatt selbst? Die Frau? Die Zügel, der Pokal? Der Kupferstich ist von einer stupenden Ausführung, kleinteilig, Detailgenau bis in winzige Landsknechtsfiguren im Alpental oder gekräuseltem Haar in der ansonsten so streng gebundenen Frisur der Frau. Ihr Körper entspricht in Gestalt und Proportion den Idealmassen einer weiblichen Figur, die Dürer in den Vorstudien zu seiner posthum veröffentlichten Proportionslehre mathematisch genau ersonnen hatte. Der weibliche Körper als vermessenes, objektiviertes und damit beherrschbares und verfügbares Wesen – ein Fetisch par excellence. Das Muster kehrt heute in den ewiggleichen Porn-Film-Dramaturgien und KI-generierten Social-Media-Live-Style-Schönheiten wieder.

Barcel/Bronfen erklären und kommentieren nichts. Sie lassen die Bilder sprechen. Der Fetisch Frauenkörper, der männliche Blick auf Weiblichkeit unterläuft Dürer ohne weitere Reflexion. Anders seine Inszenierung der Kunst. Der Fetisch Kunst wird direkt und bewusst thematisiert. Die Bewegung der Göttin nach rechts lässt offen, wohin die sich bewegt und wem sie den Pokal übergeben wird. Wir können annehmen, dass der Künstler selbst gemeint ist. Die junge Kunst des Kupferstichs, in der es Dürer von den Zeitgenossen anerkannt zu höchster Meisterschaft gebracht hatte, hatte sich erst wenige Jahrzehnte zuvor aus der Gold- und Silberschmiedekunst entwickelt. Dürers Vater war Goldschmied, also mit der Herstellung solcher Pokale befasst. Dürer hätte in seine Fusstapfen treten sollen. Er hat sich erfolgreich gegen diese Suksession gewehrt. Nun übertrumpft er seinen Vater und dessen Handwerk. Der Kupferstecher kann die Schicksalsgöttin selbst in höchster Perfektion durch Ritzen und Sticheln in die Kupferplatte zur Erscheinung bringen, wodurch ihm selbst die Trophäe der Nemesis zuteil wird.

Ist der Birnenpokal aber tatsächlich eine Trophäe, die Trophäe ein Fetisch? Das liegt im Standpunkt des Betrachters. Indem die Betrachterin bei Dürers „Nemesis“ den Empfänger, die Empfängerin des Pokals jederzeit imaginieren kann, wird ihm auch die Kraft der Einbildung bewusst. Er kann sich an die Stelle des Künstlers ausserhalb des Bildes setzten und sich der Macht des Schicksals bemächtigen. Wir partizipieren dergestalt an der Schöpferkraft des Künstlers. Wir sind Teil des Kraftfeldes Kunst.

Fetisch Begriffe – Fetisch begreifen

Der elaborierte Rezeptionsvorgang von Dürers Kupferstich weist zurück auf die einfachste Konnotation des Fetisch-Begriffs. Er entsteht im 16ten Jahrhundert mit den ersten direkten Kontakten spanischer und portugiesischer Konquistadoren mit indigenen Völkern, in deren religiösen Gebräuchen Kultfiguren im Mittelpunkt standen. Durch Wortverschiebungen aus dem Lateinischen „facere“, machen, ins Portugiesische „feitiço“, Zauberspruch, mutierte das Wort „Fetisch“ als pagane Kultfigur, der als belebtes Wesen magische Kräfte zuerkannt wurde. Das aus der christlichen Gottesverehrung verbannte Götzenbild kehrte wieder. Durch Anbetung oder besänftigende Praxis, Weihegaben, Gesänge, Tanz übertrug sich die Energie eines Ahnen oder einer Gottheit auf den einzelnen oder die Gemeinschaft. Aus Sicht des aufgeklärten Europäers konnte das nur des Teufels sein.

Seinen negativen Charakter hat das Wort „Fetisch“ bis heute behalten. Ethnografen und Anthropologen sprechen auch nicht mehr von Fetisch sondern „Kraftfiguren“. So verstehen wir heute den Fetisch, als ein Gegenstand, der über seine Funktion, seinen Gebrauchswert hinaus Bedeutung erfährt, bzw. als Energiequelle magische Kräfte besitzt, wie der Tennisball, der uns einmal zum Sieg führte, oder die Autogrammkarte eines Stars, mit der wir uns zum inner circle einer Fangemeinschaft zählen dürfen. In Ball und Karte kondensieren sich Leistungen performativer Vorgänge der Vergangenheit und befähigen den Besitzer, die Besitzerin in jeder Situation, die Kraft wieder aufzurufen. Dennoch bleibt Fetisch und Fetischismus der Begriff für eine korrupte Objektbeziehung. Dafür steht Fetisch, bzw. „Warenfetisch“ bei Karl Marx, nach dem in der Kapitalgesellschaft die Werthaftigkeit einer Ware undurchsichtig bleibt.

Der Soziologe Hartmut Böhme knüpft 2006 mit seinem Buch „Fetischismus und Kultur“ mit Fug an. Der Fetisch ist demnach nicht abgeschafft oder in Darkrooms der Subkulturen abgetaucht. Vielmehr sind Fetische unter uns und überall. Weiterhin knüpfen wir, Individuen und Kollektive, Bedeutungen und Kräfte, die diesem Ding nicht zukommen. Denken wir an Markentaschen, Sonnenbrillen, schnelle Autos. Das Verhältnis zum Fetisch ist ein zwanghaftes, die Beziehung zu ihm ein bewusst gehandhabter Mechanismus, der in seiner inneren Struktur allerding unbewusst bleibt und nicht durchschaut wird. Fetischisierung wird im 19. Jahrhundert zu einem Sammeltitel, unter welchem alles subsumiert wird, was als irrationale, abergläubische oder perverse Objektbeziehung gilt. Und das setzt sich vom 20ten ins 21te Jahrhundert fort. Siegmund Freud hat einen Erklärungsansatz dafür angeboten: In der Psychoanalyse Fetischismus als Objektbeziehung beschrieben, die durch eine Verleugnung der Kastration gekennzeichnet ist. Der Fetisch fungiert als phallisches Ersatzobjekt, das eine mit frühkindlichen Allmachtsphantasien verbundene Dingbeziehung aufrechterhält. Fetischismus heisst hier eine übersteigerte Bindung an ein (beliebiges) Objekt aus permanenter Kastrationsangst. 

Bei den von Barcel/Bronfen vorgelegten Blätter ist diese These nicht von der Hand zu weissen. Die Kunstgeschichte liefert haufenweise abgetrennte Köpfe von Goliath – der her bezeichnender Weise nicht vertreten ist – über Samson bis Holofernes und Johannes.

Die Moderne überwindet, verabschiedet vormoderne Formen und Institutionen des Ritus, der Magie, der Feste nicht. Sie vermag deren Energien nicht aufzuheben und zu binden. Sie werden vielmehr auch in Fetischen freigesetzt und flottieren durch alle Systemebenen der modernen Gesellschaft. Sie sind dort ausser Kontrolle, ausser Rand und Band.

Daher die grandiosen wie skurrilen Über-Inszenierungen von banalen Dingen, der Hang zum drall-barocken in der Ausstattung.

Bilder sprechen – der Mnemosyneatlas

Mit Barcel/Bronfen sehen wir nun Fetische überall. Seit 1924 ist die Grafische Sammlung auf der Südostseite des Semperbaus untergebracht. Dort hat sie im Erdgeschoss einen quadratischen, hohen, mit Holztäfelungen ausgestatteten Ausstellungssaal. Sind die vier filigranen schiefergrauen Stahlstützen desselben, nicht als solche zu bezeichnen? Sie fallen hier aus dem Rahmen. Wider die stilistische Gesetzlichkeit von steinerner Last und Stütze führen sie eine gänzlich andere Materialität als Zeichen der Moderne um 1860 vor. Obwohl offensichtlicher Zeigegestus und Fetisch des Architekten fallen sie im Ausstellungsdispaly nicht auf. Acht in Paaren im Quadrat gegeneinander gestellte, leicht nach hinten geneigte Tafeln gestatten es, die ausgestellten Grafiken in acht thematischen Gruppen zu präsentieren. Bei Barcel/Bronfen sind dies unter anderem „Der parzellierte Körper“, „Faszination Tot“ oder „Im Dickicht der Städte“. Dürers „Nemesis“ ist wie gesagt gleich am Anfang in der Rubrik „Der erotische Blick“ präsent.

Eine Schule des Sehens. Barcel/Bronfen geben einen kurzen Einführungstext ihres Unternehmens an die Hand, verzichten aber auf Katalog und erläuternde Texte. Was geschieht bei einem unverstellten Blick auf die Arbeiten? Die Tafelwände erlauben es den Kuratorinnen ein Netzwerk der Blicke herzustellen. Der legendäre Mnemosyne-Atlas des Kunsthistorikers und Kulturhistorikers Aby Warburg (1866-1926) gab Takt und Methode vor. Warburg, dessen Arbeiten und Mäzenatentum am Anfang der einflussreichen Kunsthistorischen Schule der Ikonologie standen, hatte sich den formalen und inhaltlichen Übertragungen antiker Stoffe und, wie er es nannte „Pathosformeln“, das heisst analogen Haltungen und Bewegungen überwiegend mythologischer Figuren bis in die Gegenwart verschrieben. Seine aussergewöhnliche Sammlung meist fotografischer Reproduktionen von Bildwerken der Antike, über die Renaissance bis in die Moderne, wurde auf Tafeln montiert und wieder neu arrangiert. Erst vor kurzem gelang eine Aufwändige Rekonstruktion des legendären Projektes in Buchform (Aby Warburg, Mnemosyne Bilderatlas. Kommentar, Hrsg. Roberto Orth, Axel Heil, Haus der Kulturen 2024). Diese Neuedition liegt in der Ausstellung aus.

Also wieder der Blick auf die Tafel mit Dürers Schicksalsfürstin ganz nach links. Da tanzt eine «Salomé», 1913, eines Pablo Picasso. Turnerisch balancierend reisst die Prinzessin ihr Bein mehr bemüht als graziös in die Höhe. Oder Louise Bourgeois «The View from the Bottom of the Well” ,1996. Grosse Güte, welche Kostbarkeiten kommen allein hier zusammen. Können wir uns satt sehen? Wie schön die Torsion, wie zart die Brüste einer «Dame auf Diwan, aus dem Fenster blickend», ein Blatt aus der Serie „Specimen of Polyautography“, 1803, von Heinrich Füssli. Wir könnten weiter schwären, halten uns hier jedoch besser zurück, um unsererseits nicht in den Verdacht des Fetischisten zu geraten. Das mehrt den Ruf bis heute nicht.

Der Text erschien redaktionell überarbeitet am 8. April 2024 im Online-Magazin Republik.ch

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Biedermanns Theater am Zürcher Schauspielhaus

Zürich – Am Schauspielhaus Zürich hatte Max Frischs «Biedermann und die Brandstifter» am Ort der Uraufführung Premiere. Regisseur und Co-Intendant des Hauses Nicolas Stemann zeigte seine letzte Inszenierung. Gab es die erwartete Abrechnung mit der Schweiz, der Stadt, die ihm schon nach fünf Jahren den Laufpass gegeben hatte?

Von Max Glauner

Patrycia Ziólkowska als Gottlieb Biedermann (r.) und Niels Bormann als Dienstmädchen Anna (nicht ganz so r.) FOTO: PHILIP FROWEIN

Kein Zweifel, der Regisseur Nicolas Stemann macht tolles Theater. Er treibt seine Schauspieler:innen über sich hinaus. Da ist immer mehr als Handwerk. Ein Geist, ein Wahnsinn vielleicht, ohne den jede Bühne seelenlos bleibt. Trotzdem stellte sich bei dieser wie bei den meisten Stemanninszenierungen der letzten Jahre das Gefühl ein, da wäre eigentlich noch mehr drin. Woran das liegt? Vermutlich möchte er für das, was er tut, nicht nur anerkannt, sondern geliebt werden. Das ist tragisch, weil er dadurch nicht nur als Regisseur scheitert, sondern auch der Grund gelegt ist für das frühe Scheitern seiner Intendanz des Zürcher Schauspielhauses (zusammen mit Benjamin von Blomberg) nach nur fünf Jahren Amt.

Das war auch bei Stemanns Abschiedsvorstellung im Pfauen, dem Hauptstandort des Zürcher Schauspielhauses, nicht anders. Er tat alles, um als guter Kerl in Erinnerung zu bleiben. Schon die Stückwahl spricht Bände. Max Frischs Biedermann und die Brandstifter wurde just auf dieser Bühne am 29. März 1958 uraufgeführt. Stemann stellte sich in bildungsbürgerliche Traditionslinien wie er es vorher bereits mit Sophokles’ Ödipus und Brechts Galilei getan hatte. Mit diesen Inszenierungen biederte er sich keineswegs an die Abonnentinnen von der Goldküste – jener Seite des Zürichsees, an der das ganz große Geld wohnt – an. Doch nachdem ihm von der konservativen Presse früh das Etikett des Stückzertrümmerers aufgeklebt worden war, signalisierten Aufführungen aus dem klassischen Repertoire: Seht her, das kann ich auch!

Stemann bürstete auch an seinem letzten Premierenabend die Figuren in Besetzung und Kostüm gegen den Strich, blieb dann aber nah an Text und Verlauf des Stücks. Er verteilt alle Protagonisten des „Lehrstücks ohne Lehre“, wie es bei Frisch im Untertitel lautet, auf drei Schauspieler:innen, allen voran energiegeladen, treffend und präzise Patrycia Ziólkowska als Gottlieb Biedermann. Sie bekommt in Niels Bormann als Dienstmädchen Anna und Brandstifter Josef Schmitz einen ebenbürtigen Antagonisten, ebenso wie in dem wandlungsfähigen Kay Kysela, der als Biedermann-Gattin Babette und als Brandstifter Willi Eisenring agiert. 

Patrycia Ziólkowska als Gottlieb Biedermann (r.) und Niels Bormann als Dienstmädchen Anna (nicht ganz so l.) FOTO: PHILIP FROWEIN

Zwar gibt es Streichungen. Frischs Chortexte und einige Nebenfiguren werden auf das Protagonistentrio verteilt. Zwei Feuerwehrmänner tragen als stumme Vorboten der herannahenden Katastrophe Benzinkanister über die Bühne. Das Stück wird auch jenen verständlich, die es nicht als Schullektüre genießen durften.

Stemann erzählt im Einheitsbühnenbild von Katrin Nottrodt, die den Zuschauerraum auf der Bühne mit Tapete und Lüster fortsetzt und um eine Showtreppe und ein zweites Bühnenportal ergänzt. Das behauptet Einheit von Bühne und Publikum, die schon beim Einlass durch die Gegenwart der Darsteller:innen in Foyer und Parkett zelebriert wurde und soll sagen: Wir alle sind irgendwie der Biedermann und seine Brandstifter. Wir erraten eine symbolische Umarmung von Theater und Stadt, die ihr apokalyptisch warnendes Finale in einer immersiven Videoprojektion erfährt. Großartig die musikalisch-akustische Unterstützung durch Thomas Kürstner und Sebastian Vogel in der Loge auf der Treppe. Sie legen einen sensiblen Soundteppich aus, der die Agierenden an der Rampe ununterbrochen trägt und weitertreibt und das Publikum mit ins Boot holt. 

Für gute Unterhaltung ist gesorgt. Und worum geht’s? Die Fabel ist einfach. Ein Ringer taucht bei einem Haarwasserfabrikanten mit bourgeoisem Habitus auf und nistet sich aufdringlich und bedrohlich im Haus ein, um es zum Schluss mit Unterstützung seines Gastgebers anzuzünden. Und mit ihm die ganze Stadt. Zur Uraufführung hatte man das wider Frischs Intention als Warnung vor dem Kommunismus gedeutet. Später als Parabel auf den NS und seine Fortsetzung in den Nachkriegsdemokratien. Und heute?

Stemann erlaubte zwei kleine kabarettistische Einlagen. Sie nahmen die Zürcher Pfahlbürger mit ihren Größenfantasien aufs Korn. Dem fehlte Biss und es setzte auf Konsens mit dem Premierenpublikum. Besser traf eine Nebengeschichte. Sie erzählt von der fehlenden Empathie Gottlieb Biedermanns, seiner Verdrängung des Suizids des entlassenen Angestellten Knechtling. Stemann lässt drei singende Witwen, bei Frisch eine stumme Figur, erinnyengleich durch den Abend schleichen. Das trifft den Kern des Stücks und Stemanns subkutane Botschaft. Frisch gab einmal auf die Frage, wer mit den Brandstiftern gemeint sei, zur Antwort: „Ich meine, die beiden gehören in die Familie der Dämonen. Sie sind geboren aus Gottlieb Biedermann selbst: aus seiner Angst, die sich ergibt aus seiner Unwahrhaftigkeit.“

Wir gehen nicht zu weit, wenn wir Patrycia Ziólkowskas Biedermann zuerst als Geschöpf und Alter Ego ihres Regisseurs lesen. Aber wir können Stemanns Biedermann, ob er will oder nicht, auch als große Allegorie auf seine Zürcher Intendanz lesen. Die Biedermänner, Stemann und Co-Intendant von Blomberg eingerechnet, saßen demnach im Intendantenzimmer. Mangelnde Empathie und Konfliktfähigkeit waren der Konfliktherd für eine von Anfang an überforderte Truppe, die meinte, mit acht Hausregisseuren kooperativ reüssieren zu können. Das Experiment ging daneben. Stemann bringt nun zum Good-bye die Dämonen des gescheiterten Kollektivs auf die Bretter. Das ist gelungen. Frenetischer Applaus nach zwei Stunden beeindruckendem Spiel.

Schlussszene Biedermann, Foto Philip Frowein

Die Rezension erschien in redaktionell überarbeiteter Fassung. in Der Freitag Nr. 13 am 27.03.2024

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Pappkkameraden und Papierfigurinen bei Agnes Scherer „Ein seltsames Spiel“ in der Kunsthalle Sankt Gallen

Installationsansicht, Agnes Scherer; „Ein seltsames Spiel“, Kunsthalle Sankt Gallen 2023, Foto: Max Glauner

Dioramen üben eine ungebrochene Faszination aus. Kalvarienberge, Krippen und lebensgroße Kreuztragungsgruppen aus Wachs, Gips, Stoff und Pappmaschee sorgten für Augenfreude und volksfromme Anteilnahme am Heilsgeschehen. In Naturkundemuseen, Wachsfigurenkabinetten, auf Volksfesten und im Märchengarten schaudern wir im Verein mit unseren Kindern vor dreidimensionaler Lebensnähe, die digital nicht zu überbieten ist.

Distinktions- und Legitimationsdruck der modernen und postmodernen Kunstproduktion hat das Genre weitgehend zum Verschwinden gebracht beziehungsweise der Zerstreuungsindustrie überlassen, statt sich mit dreidimensionalen Erfahrungsräumen zu beschäftigen. Marcel Duchamps «Etant donnés», 1946-1966, Louise Bourgeois «Destruction of the Father”, 1974, Environments von George Segal, Ed Kienholz, Anna Oppermann oder Ilya Kabakow blieben Ausnahmen wie die Miniaturfigurenmassakerkunst der Gebrüder Chapman oder die gebastelten Pappmodelllandschaften eines Thomas Hirschhorn.

Es gibt Indikatoren, dass sich das nun ändert. Im Schatten des Digitalen meldet sich das Präsenzversprechen der Kunst. Begehbare Erlebnisräume erklären das Publikum zu Darstellern inszenierter Lebenswelten wie in Mike Nelsons «I, Imposter», einer verlassenen Karawanserei im britischen Pavillon auf der Venedig Biennale 2011 oder Kaary Upsons «There is no Such Thing as Outside», 2017/2019, ein multimedialer Tumultraum des Verdrängten. Wir erinnern uns an das Buzzword «Immersion», das distanzlose Aufgehen des Publikums im Kunsterleben.

Die Ausstellung «Ein seltsames Spiel» der deutschen Agnes Scherer, Jahrgang 1985, in der Kunsthalle Sankt Gallen spielt damit und liefert eine intelligente Umdeutung. Die Professorin für Malerei am Salzburger Mozarteum triggert Sehnsuchtsbilder und verweigert die vorbehaltlose Hingabe. Theater trifft auf Kunst, Kunst auf Theater.

Installationsansicht, Agnes Scherer; „Ein seltsames Spiel“, Kunsthalle Sankt Gallen 2023, Foto: Max Glauner

Agnes Scherer stellt lebensgrosse Szenografien grotesker Figurengruppen aus bemaltem Pappmaschee her, die popkulturelle Standards zum Thema Liebe und Beziehung aufrufen. Scherer serviert in Sankt Gallen drei, ein Ritterturnier, «Savoir Vivre», 2023, eine Hochzeit, «A thousand times yes», 2022, und einen Vampirbiss vor dem Halbrund einer Niagarafälle-Kulisse bei Nacht mit angeleinten heulenden Wölfen, «A thousand times goodnight», 2022.

Die drei Szenen, hat die Künstlerin als begehbare Bilder monumental und durch das Material Papier widersprüchlich filigran ohne Bühne oder distanzierende Plattform in die drei hohen Räume der Kunsthalle gebaut. Das scheint bei allem Aufwand auf den ersten Blick trivial. Wir staunen über die lebensgrossen Pferde, Ritter, Lanzen, die Burgfräuleins auf der Tribüne bei «Savoire Vivre» im ersten Saal. Wir reiben uns im zweiten Raum ungläubig und gerührt vor einem Hochzeitspaar die Augen, dessen Braut mit langer Schleppe ausgestattet ist, die von sechs artig knienden Kindern getragen wird. Wir staunen gleichermassen vor einem Himmelbett aus bunt bemaltem Papier «Trousseau dérangé N. 1» 2022», das im dritten Saal der Vampirszene zugeordnet ist.

Installationsansicht, Agnes Scherer; „Ein seltsames Spiel“, Kunsthalle Sankt Gallen 2023, Foto: Max Glauner

Dennoch stutzen wir. Vampirszene, Hochzeit, Ritterspiel werden nicht täuschend echt vorgeführt. Das Ritterturnier kommt nicht solide und historisch verbürgt wie in der Dresdner Rüstkammer daher. In Scherers Arrangements sind Finten und Fallen eingebaut. Stereotype Rollenmodelle, kollektive Archetypen bürgerlicher Geschlechterverhältnisse, platonische Liebe, ehelicher Bund, Sexualität und Amour Fou stehen zur Disposition.

Die Ritterszene wird von einem friesartigen Landschaftspanorama und einer begehbaren Tribüne mit jubelnden Pappmascheehoffräuleins gerahmt. Das Panorama zeigt Frauen in einer Schwarzwaldlandschaft Gänse mästen, während ihre Männer Bäume fällen, um jene Turnier-Lanzen zu produzieren, die von den Papprittern in der Figurengruppe zerbrochen werden. Damit kontextualisiert die Malerei die Ritterszene neu, bestätigt und verschiebt die Hierarchie der Geschlechter, die im Tournier als Archetyp vorformuliert wird, in eine gespenstisch-naive Gegenwart. Bei näherem Besehen ist diese auch beim Tjost, dem Ritterturnier, gegenwärtig. Die jubelnden Hofdamen halten Handys in den Händen. Im Helm eines Ritters steckt ein Flugzeug und wir sind mittendrin.

Installationsansicht, Agnes Scherer; „Ein seltsames Spiel“, Kunsthalle Sankt Gallen 2023, Foto: Max Glauner

Scherer geht es um die theatralische Inszenierung, die Querbezüge der Figuren, weniger um ihren ästhetischen Eigenwert. Sie strahlen den Reiz des kontrollierten Dilettantismus aus, den wir an Henri Rousseau oder Pierre Klossowski schätzen.

Agnes Scherer setzt dem formal noch eins obendrauf. Arbeiten auf Papier, damit verbinden wir bis heute Druckgrafik, Zeichnungen und Gouachen. Bei Scherer geht das gemalte, bezeichnete Papier in den Raum, bildet illusionistisch Objekte ab. Die beeindruckenden Figuren müssen durch transparente Fäden an Wänden und Decken gehalten werden. Hielten sie diese nicht, würden die Figuren heillos in sich zusammenfallen. Kunst muss hängen, hat Andreas Kippenberger einmal zu bedenken gegeben. Agnes Scherer schliesst an dieses Statement an, um es verblüffend und intelligent zu konterkarieren.

Installationsansicht, Agnes Scherer; „Ein seltsames Spiel“, Kunsthalle Sankt Gallen 2023, Foto: Max Glauner

Zuerst veröffentlicht in KUNSTFORUM International Bd. 293, Dezember 2023

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Andrea Büttner. Der Kern der Verhältnisse – Kunstmuseum Basel

Erinnern Sie sich an die dOCUMENTA (13)? Damals hatte man auch die Neue Galerie über der Fulda als Ausstellungshaus genutzt. Im Erdgeschoß, ganz hinten rechts waren Arbeiten von Andrea Büttner zu sehen. Ein Videofilm über Ordensschwestern auf einem Jahrmarkt in einem Kabinett (Little Sisters: Lunapark Ostia, 2012, 42 min.) und Holzschnitte im anderen. Können Sie sich erinnern? Wahrscheinlich nicht. Zu karg, zurückhaltend und leise schienen die Installationen im Documenta-Rummel. Wie aus der Zeit gefallen. Die 1972 in Stuttgart geborene Künstlerin, Autorin, Dokumentaristin lebte damals in Frankfurt/M und London, wo sie auch studierte. Heute ist sie in Berlin zu Haus und gehört zu den gefragtesten Gegenwartskünstlerinnen.

Inzwischen wurde sie 2017 für den Turnerpreis nominiert. Nun stellt sie nach renommierten Häusern weltweit diesen Sommer im Baseler Kunstmuseum aus, ein Karriere-Peak. Eine besondere Auszeichnung: Sie kann ihre Arbeit in einem Grossteil des Hauses für Gegenwart im St.-Alban-Graben zeigen.

Und wir staunen, denn den Kern des «Kern[s] der Verhältnisse», wie die Überblicksschau in Basel betitelt ist, glaubt man im nucleus bereits in Kassel 2012 gesehen zu haben, die farbigen Wandflächen als Folie zu den spröden, grossformatigen Holzschnitten mit ihren zeichenhaften, «armen» Motiven wie Einhausungen, Ähren, Händen, gebückten Gestalten (u.a. Erntender, 2021), die Videodokumentationen zu Ordensgemeinschaften und ihrer «care»-Arbeit (u.a. What is so terrible about craft? / Die Produkte der menschlichen Hand, 2019). Die Saat ist aufgegangen, Büttners Kunstpflänzchen sind herangewachsen, stark und gross, ohne ein lautes «Hier-bin-ich!» in das Kunstfeld hinauszuschreien.

Büttner gehört nicht zu den expressiven Chaotikern des Kunstbetriebs, sondern zu den stillen Reduktionisten, die im Bildentzug den mitdenkenden Zuschauer verlangen. Darin ist sie durch und durch Protestantin, was ihr in Basel zum Erfolg verholfen haben mochte. Text und Reflexion stehen bei ihr vor überwältigendem Bild und Immersion.

Das weht die Besucher*innen bereits in den zwei Anfängen der Ausstellung entgegen – einerseits im weiten, nahezu leeren Foyer des Hauses der Gegenwart, und andererseits im Altbau, wo die Künstlerin sechs Arbeiten der Serie Bread Painting, 2011-2023 unter Altmeistergemälde schmuggeln kann. Bread Paintings sind bei Büttner «BadPaintings», Hinterglasmalerei monochromer Hintergründe für ausgeschnittene und aufgeklebte Fotos von Broten aus Magazinen, die nun auf die gemalten Brote in religiösen Gemälden verweisen, die ihrerseits die Eucharistie und das Wunder der Transsubstantiation vergegenwärtigen.

Im Foyer des Hauses der Gegenwart scheinen sich eine Zeichnung, Untitled, 2020, zwei Holzschnitte, Untitled, 2017, und eine Dia-Show zur Kunstgeschichte des Bückens, 2021, im weiten Raum zu verlieren. Sie tun es nicht. Denn die Künstlerin hat die Wände mit einer braunfarbigen Brüstung versehen, die mit einer unregelmässigen Kante dort abschliesst, wohin der Pinsel der Künstlerin in ihrer Arbeit mit ausgestreckter Hand reichte (Brown Wall Painting, 2006). Die Malerei zeigt in einer minimalen Geste transformatorische Kraft. Sie schafft, obwohl monochrome Fläche, Raum. Er bringt die verstreuten Arbeiten optisch zusammen und setzt sie in Beziehung.

Das gelingt der Künstlerin auch im verwinkelten Hauptsaal, einem von gesamt 6 Räumen, die ihr zur Verfügung stehen. Hier fasst ein regelmässiges schwarzes Raster auf den Wänden (Grid, 2021) ein gutes duzend Arbeiten in Eins: einen Tisch mit Glasvasen, zwei mit holzgeschnitzten Spargeln und Ackerfurchen aus Ton, zwei Videoinstallationen, wieder grossformatige Holzschnitte und Fotografien und schliesslich ein mehrteiliges Deckenpaneel, das hier jedoch an die Wand lehnt, Untitled (Painted Ceiling), 2020. Wären da nicht zwei Kübel frischer Gladiolen, die farblich dem Paneel zugeordnet sind, es würde gründlich aufgeräumt wirken. Wir müssen genau und oft lange hinsehen, damit die Arbeiten in ihrer Lakonie zugänglich und lebendig werden. Kaum eine Arbeit erschliesst sich für sich allein. Sie werden, wenn kein Titel den Hinweis gibt, erst beredt durch den Bezug zu anderen.

Die drei Fotografien am Eingang zum Beispiel. Sie zeigen – wie meist bei der Kamera Büttners, nahsichtig – ruinöse Einfassungen von Beeten, die von saftigem Grün überwuchert werden. Der Titel klärt auf und öffnet Abgründe, Former plant beds from the plantation and “herbal garden,” used by the SS for biodynamic agricultural research, at the Dachau Concentration Camp, 2019 – 2020. Auf einen Schlag wird gegenwärtig, dass das linke Projekt der Ökologiebewegung auch rechts-nationale beziehungsweise faschistische Wurzeln hat. In der Videoinstallation Karmel Dachau, 2019/ 2022-23, führt uns Büttner ein weiteres Mal in die Gegenwart der Nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie, indem sie einfühlsam und unvermittelt Ordensschwestern des Karmeliterinnenklosters neben dem KZ Dachau portraitiert. Im Video sehen wir immer wieder Gladiolen ihrem Klostergarten. So erklären sich die realen Gladiolen im Saal nicht nur ästhetisch, sondern auch in ihrem durch die Künstlerin gestifteten Bedeutungszusammenhang. Wer sich bei Andrea Büttner Zeit lässt, wird reich belohnt.

Am 28.10.2023 eröffnet im K21, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf Andrea Büttner. No Fear, No Shame, No Confusion mit einem gemeinsam mit dem Kunstmuseum Basel herausgegebenen Katalogbuch. Die Ausstellung läuft bis 18.02.2024

https://kunstmuseumbasel.ch/

https://www.kunstsammlung.de/de/exhibitions/andrea-buettner

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