Postpandemisches Theater

Düstere Farcen aus Sumiswald und Theben: «Die schwarze Spinne» und «Ödipus der Tyrann» könnten auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein. Doch es gibt Gemeinsamkeiten, zu entdecken derzeit in Zürich und Bern.

Meine Hausspinne, Foto: Max Glauner

Den Ortsnamen muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – S-u-m-i-s-wald. Lange bevor ich wusste, dass mit Sumiswald ein Flecken im Emmental gemeint ist, berührte er den infantilen Teil meiner Seele: Ich wählte, als ich in die Schweiz zog, die Kranken­kasse selbigen Namens. Ich war mir gewiss: Hier musste ich wohl aufgehoben sein.

Doch wir wissen, im Heimeligen waltet das Unheimliche. Das mag den Erfolg der Novelle «Die schwarze Spinne» des Emmentaler Pfarrers Albert Bitzius aka Jeremias Gotthelf von 1842 erklären, der bis heute anhält. Immer wieder taucht sie dramatisiert auf Schweizer Bühnen auf, zuletzt in Basel 2017 veristisch ambitioniert auf rotierender Scheibe, im Zürcher «Pfauen» 2011 in einer kabarett­reifen 4-Stunden-Version des Stücke­zerpflückers Frank Castorf, damals noch Berliner Volksbühne-Intendant, munter-unbekömmlich mit Texthappen von Bulgakow und Artaud angarniert. Wer es mainstream­mässiger haben wollte, konnte sich im Frühjahr «Die schwarze Spinne» mit der Castorf-Schauspielerin Lilith Stangenberg als mutige Christine im schmutzigen Mittelalter-Splattermovie-Format im Kino reinziehen.

Das othering der Emmentaler

Gleichsam die ästhetische Mitte suchte jetzt der wie Castorf in der DDR sozialisierte Regisseur Armin Petras. Seine Dramatisierung der «schwarzen Spinne» feierte am vergangenen Samstag im grossen Haus der Bühnen Bern Premiere.

Petras gelingt schaurig-schöne Unterhaltung, befördert durch ein glänzend aufgelegtes Ensemble, das sich nach der fidel-solistischen Eingangs­szene der Rahmen­erzählung zu einem geschlossenen Chor formiert, aus dem sich die Protagonisten, voraus Yohanna Schwertfeger als Christine, Claudius Körber als Spinne und Linus Schütz als der Grüne, entwickeln können. Dabei helfen Anleihen beim epischen Theater, eine offene Dramaturgie, eine Drehbühne mit hoher Bretter­wand im Halbkreis und gekippter Spielfläche, als hätte sie Brechts Bühnen­bildner Caspar Neher entworfen (tatsächlich ist die Bühne von Natascha von Steiger).

Zwar spart man es sich in der Inszenierung von Petras, die Sumiswalder als castorfsche Knall­chargen darzustellen, doch was man von den Hinter­wäldlern so hält in Bern, wird unmissverständlich klar: Bünzli der schlimmsten Sorte. Zur Feier des neugeborenen Kindes steht «Uises Sunneschiin» auf einem Transparent hinter den an der Rampe aufgereihten Protagonisten. Uns wird kein Klischee erspart. Von othering hat man an der Aare offenbar noch nichts gehört. So darf über die Grossmutter­travestie ebenso gelacht werden wie darüber, dass der Pfarrer ein Deutscher ist. Dann aber ist Schluss mit lustig.

Bis auf wenige postdramatische Humor­einlagen, wir könnten auch epische Brechungen sagen, bemüht sich Petras, ernste Sache zu machen. Die Bretter­wandseite mit dem sonnigen Transparent wird nach hinten gedreht, und es entfaltet sich ein finsteres Mittelalter aus Leid und Pein.

Wir kennen die Geschichte: Die Sumiswalder stehen unter fremder Herrschaft. Der böse Ritter Hans von Stoffeln (in eherner Rüstung mit Fahne, Jan Maak) knechtet seine Bauern bis aufs Blut und verlangt, dass sie 100 Buchen vor sein Schloss schaffen. Das gelingt ihnen auch. Jedoch nur mithilfe des Teufels, der als Gegen­leistung ein ungetauftes Kind vom Dorf verlangt. Damit dieser Pakt zustande kommt, muss die vom Bodensee eingewanderte Christine vermitteln, die, nachdem das erste Kind geboren und doch getauft worden ist, bitter dafür bezahlen sollte, dass das Versprechen nichts galt – wie später die ganze Gemeinschaft, die meinte, den Teufel durch Nichtstun austricksen zu können. Eine schwarze Spinne bemächtigt sich ihrer wie des Viehs und eines jeden, der sie berührt. Erst der selbstlose Einsatz von Priester (Kilian Land) und Kindsmutter (Jeanne Devos) vermag dem ansteckenden Spuk ein Ende zu setzen. Die Spinne wird in das Bystal – den Fenster­pfosten – eingepflockt.

So weit, so gut. Was bringt das Berner «Spinnen»-Update? Sicherlich einige unvergessliche Theater­momente. Gelungene Tableaus und viel Theater­zauber mit einfachsten Mitteln. Etwa wenn eingangs das Ensemble die Rampe hochkriecht und später in einen Veitstanz ausbricht, wenn sich die Spinne von Claudius Körber an Hans von Stoffeln vergreift oder kurz darauf auf sächsisch eine irrwitzig improvisierte Ansprache hält auf der Brüstung im ersten Rang.

Inhaltlich? Erfahren wir etwas Neues zum ewigen Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft? Das passive Abwarten und das Nichts-verlieren-Wollen werden dem aktiven, selbstlosen Einsatz in treffenden Bildern gegenüber­gestellt. Petras erspart seinen Zuschauerinnen zwar die naheliegende Corona-Parallele, aber er rückt damit die Parabel auch weit von uns weg. Zum bekömmlichen Ende überlässt Petras schliesslich Friedrich Dürrenmatts schaurigem Weihnachts­märchen das letzte Wort. Damit entschwindet der Abend endgültig ins Ungefähre einer dunkel getriebenen und gottverlassenen Welt. Ausbruch aus Zwangs­zusammenhängen? Fehlanzeige!

Seuchen überall

Von Sumiswald nach Theben. Das hiess am vergangenen Wochenende von Bern nach Zürich, ins Schauspiel­haus am Pfauen. Dort inszenierte Nicolas Stemann, Co-Leiter des Hauses, den «Ödipus». Wie in Gotthelfs Novelle waltet in Sophokles’ Tragödie ein finsteres Geschehen im Hinter­grund. Wütet in Sumiswald die Spinne, ist es hier die Pest. «Die Tiere sterben herdenweise in den Ställen», heisst es bei Gotthelf und Sophokles unisono. Auf allen Bühnen sanitarischer Notstand. Ist uns die Corona-Pandemie zu nah, oder ist sie schon wieder zu weit von uns entfernt, wird hier implizit angespielt gegen das Vergessen und Verdrängen? Auch die Zürcher Inszenierung verzichtet jedenfalls auf explizite Bezug­nahme und feiert sich als grosses Tragödinnen-Regietheater.

Dabei geht Stemann formal genau den umgekehrten Weg wie Petras. Entwickelt Petras die Figur aus dem Chorischen, reduziert Stemann den antiken Tragödien­chor, die Protagonisten und ihre Gegen­spieler auf zwei Darstellerinnen, Alicia Aumüller und Patrycia Ziólkowska, zwei der brillantesten Schau­spielerinnen am Haus.

Dieser Reduktionismus besitzt Charme, doch hat er seinen Preis. Die Tragödie schrumpft zum Kammer­spiel. Für die grosse Bühne ist die Duo-Besetzung zu klein. Sie muss an die Zuschauer herangeholt werden. Dazu baut Stemann ein paar Zuschauer­reihen vorne raus und drei metall­glänzende Bühnen­stufen vor den eisernen Vorhang. Die Damen in schwarzen Samt­kleidern, eins kurz, eins lang, Varianten an Arm und Ausschnitt, betreten ihre Wirkungs­stätte von der Seite aus dem Parkett. Trügen sie die weissen Turnschuhe nicht, dächte man, ein Lieder­abend stünde an.

Schuld und Spiel

Gleich zum Auftakt erfolgt eine erste Korrektur. Ein Prolog gibt den bei Sophokles stummen Ödipus-Töchtern Ismene und Antigone eine Stimme, eine erste verhaltene, schöne Wechsel­rede der Protagonistinnen Aumüller/Ziólkowska, die das Kommende vage Revue passieren lässt und den Teppich legt, auf dem sich fortan im fordernden Hin und Her die Rollen, Gesten, Haltungen und Stimmungen der beiden bewegen sollen. Das machen sie grossartig mit kontrollierter Wucht, überzeugend, engagiert und hingebungsvoll.

Ödipus betritt bei Stemann wider die Vorlage erst mit der dritten Szene die Bühne, doch mit Aumüller/Ziólkowska ist er auch immer schon da. Die Klage des Chors, die Rechtfertigungen Kreons, Ismenes Beschwichtigungen, die Deutung der Orakel­sprüche und schliesslich die Offenbarungen des Sehers Tiresias über Herkunft und Schicksal des Ödipus verdichten sich, als bildeten sie den inneren Monolog einer tief gespaltenen Persönlichkeit, die nicht mit sich ins Reine kommt. Es ist ein grosser Schau­spielerinnen­abend.

Dass dann aber kein wirklich grosser Theater­abend gelingt, liegt an dem Umstand, dass sich Nicolas Stemann zu viel zugetraut hat. Er zeichnet nicht nur für Textfassung und Regie verantwortlich, sondern auch für Bühne und Musik beziehungs­weise den Elektro­sound, der weiten Passagen unterlegt wird. Das zum einen. Zum anderen, und das wiegt schwerer, macht er das tragische Verhältnis von Schicksal­haftigkeit und Unterwerfung, von Macht und Ohnmacht, das ganze den Figuren widerfahrende Geschick zu einer diffusen, fast ideologisch wirkenden Frage von Schuld und Verantwortung.

In einer gängigen Sophokles-Übersetzung fällt das Wort «Schuld» zwei Mal. Bei Stemann zählen wir 69 Erwähnungen. Da ist die Zivilrechts­ordnung heute weiter. Sie hat den Begriff getilgt. Selbst im Strafrecht spielt er kaum mehr eine Rolle. Was also soll dann das Stakkato «Ihr seid schuld» zur Mitte des Stücks als Vorwurf ans Publikum? Ein Missverständnis, ebenso wie der Schlussplot. Da werden sämtliche Scheinwerfer auf Augenhöhe des Publikums justiert. Partizipative Blendung, ja, wir sind alle Ödipus, ja, wir alle haben es nicht besser verdient. Zur Erleuchtung trägt das nichts bei.

Petras beendet seine «schwarze Spinne» mit einem lauten Punk-Knaller der Beastie Boys: «Fight for Your Right to Party». Stemann setzt einen melancholischen Folk-Heuler von Laura Marling an den Schluss: «What He Wrote». Und wir werden den Verdacht nicht los, die beiden Exponenten der Post­dramatik wären insgeheim lieber Frontmänner einer Pop-Band geworden. Der Zauber der Kunst scheint für sie mehr in der Musik als im Theater zu liegen. Macht aber nichts. Auch so sind ihnen sehr sehenswerte Abende gelungen.

Der Text erschien zuerst online in Republik.ch am 16.09.2022

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The Mechanic. Jordan Wolfson at the Kunsthaus Bregenz

The art of the US-American Jordan Wolfson is provocative. His disturbing virtual reality installations, videos and image collages regularly trigger controversy. Currently, his work is at Lake Constance.

Jordan Wolfson, „Female Figure“ 2014, Installetion view, Foto Max Glauner

Great art, said the star artist Bruce Nauman in an interview with „Art in America“ in 1988, must strike the viewer to the core. Not through the head, but through the stomach, literally: „Like getting hit in the face with a baseball bat. Or better, like getting hit in the back of the neck. You never see it coming; it just knocks you down.“

Curiously, Bruce Nauman’s violent fantasy of reception is tied to jazz music, to the playing of the blind pianist Lennie Tristano, which knocks you down. In visual art, on the other hand, which picks up the viewer more directly, but not immediately physically, the neck-snapping remains a difficult undertaking.

It is true that artists are now legion who take to the stage with a drum roll and wow effect, because this generates attention, an audience – and box office. However, there is a thin dividing line between fair and honest effort, between mere attention-seeking and artistic concern, between brutal provocation and transparent strategy.

Jordan Wolfson, born in New York in 1980, has made a name for himself in recent years as a great master of art as a neck-snap. The hype surrounding his disturbing work is considerable. But is it about art – or more about cash.

Wolfson opened an extensive solo exhibition at the Bregenz Kunsthaus last Friday. To say it in advance: He is one of those clever, ironically witty artists who know how to use shock and distance, seductive proximity and distance responsibly and skilfully. The encounter with his works is violent, brutal and disturbing. But it is worth it.

A day before the exhibition opening, we’re sitting in the café of the Kunsthaus Bregenz (KUB), he, short dark hair, white T-shirt, jeans. We order apple spritzer and pretzels with mustard. Wolfson seems serene and cool, but calculation and coolness are not his thing. It’s more about getting to the bottom of the dislocations and entanglements of his own existence. Growing up as a secular Jew in New York, Wolfson says, he often had to deal with exclusion and rejection. „Not easy.“

Kunsthaus Bregenz, Foto. Max Glauner

Let’s start with the stage for Wolfson’s performance, the KUB. Architect Peter Zumthor’s building has been standing on Lake Constance for 25 years now – minimalistically bold, a finger pointing beyond our uninspired present. For artists, this stage is a challenge, because the KUB programme requires them to fill four floors, four halls without columns, totalling almost 2000 square metres. Wolfson succeeds without any problems.

The exhibition begins without a bang on the ground floor. Wolfson leaves the centre of the room empty. Only the red grimacing face of „House with Face“, 2017, a display-like collage „Untitled“, 2017, alongside three more inconspicuous works (we’ll come back to this) provide visual attraction on the walls of the high hall. From there, it’s into the black box of the white-carpeted first floor. Here Wolfson presents the monumental video work „Raspberry Poser“, 2012.

Then we go to the second floor, which is dominated by a wall of rotating holographs, „Artists Friends Racists“, 2020, surrounded on the walls by large-format collages. This chorus of images orchestrates the prelude to the final show on the third floor, which either draws us in or repels us: the lifelike go-go girl robot „Female Figure“, 2014, which made Wolfson famous.

I want to know if the success of his go-go machine hasn’t made him too committed to an image and blocked him artistically. Jordan smiles and replies that no, it was lucky, because success also enabled a lot. „I’m not a puppet master. I’m only interested in the technology insofar as it implements my idea as well as possible. I have to leave the mechanics and programming to others anyway.“

Raw and abrupt like naked violence

Let’s return to the beginning, to the ground floor. We come across the visually inconspicuous media display „Real Violence“, 2017, virtual reality glasses and headphones, which are offered for sale on a pedestal. What we do not suspect for the time being: Bruce Nauman’s motto that art should be like a punch in the neck is literally put into practice here.

Once we have put on our glasses and headset, we stand alone on the pavement of a busy New York street. In front of us we see the artist in jeans and a T-shirt with a baseball bat in his hand. He is posing behind a man kneeling on the curb. The artist raises the baseball bat and beats the kneeling man, first on the head, then on the torso, the defenceless victim falls forward, collapses, twitches, bleeds, continues to be maltreated with bat and feet until he dies on the pavement.

Before the end, many will have taken off their VR glasses and the headphones from which sweet Hanukkah music flows. Even those who watched the violent scene to the end will ask themselves what it means. Why we expose ourselves to it, why we and what it concerns us.

The imposition is hardly diminished by the fact that at some point we recognise an animated dummy in the victim. The act of violence remains without context, the motivation of the perpetrator as well as his relationship to the victim are unknown.

Although mediated by the media – albeit in one of the most direct ways, through virtual reality glasses – we are witnesses, accomplices, co-perpetrators of the blatant violent scene.

Why does the artist strike at the neck of his audience, why does he go to the pain threshold of the viewer? Challenge, challenge of the avant-gardist to cross another border? Or challenge, challenge the sensitivities of the recipients, who are given an experience they would have found difficult to have otherwise?

Wolfson is smart enough to give us the violent scene in the VR glasses hyper-reality in which we are isolated and thrown back on ourselves. Do we become fascinated by the violence? Do we identify with the perpetrator, the victim, both?

The question of the artist’s integrity, his moral-political stance or his good intentions – for example in the sense of an Aristotelian catharsis or, say, as a critique of the viral presence of depictions of violence in social media – distances us from the immediate physical experience of the viewer. But it plays a subordinate role in Wolfson’s setting. The only thing under discussion is the work as such, which does not legitimise itself with the artist’s intention. It is raw and abrupt, like naked violence. A blow to the neck.

Jordan Wolfson, Installation view Kunsthaus Bregenz, Foto: Max Glauner

No moral message

I ask Wolfson about his attitude, his political stance. „Yes, of course my position as an outsider is left-wing, critical.“ But for him, art has nothing to do with unambiguity, with moral messages or even political propaganda. He takes a stand, yes, but in the sense of shifting references, contexts and levels of meaning. This happens anarchically. Wolfson bites into his pretzel.

His works make things visible without giving answers. They are uncomfortable because they trigger deep layers of our lives that lie dormant, repressed, denied. The myth of childhood happiness is just as much a part of it as the abysses of bourgeois gender relations or the false promises of consumer society.

Asked about his self-image as an artist, Wolfson characterises himself as a „mechanic who repairs a machine that has never existed before“. He does not see himself as a sculptor, painter or draughtsman. His medium, the expression in videos, collages, spatial stagings with automated puppets, the formal language of comics, images found on the internet and filmed scenes in which he often appears himself or lends his voice to the figures, result from the often lengthy working process and vary greatly. Even though his signature remains recognisable for the most part.

This is convincing in Wolfson’s work, because although he uses the latest technology and software, he never formally plays it up and makes it the real thing – even if we can marvel at it at first.

This is also the case with „Artists Friends Racists“, 2020. A wall on which 20 rotating hologram displays are mounted in two rows one above the other, their quiet whirring filling the hall on the second floor. The artist uses the latest cry of imaging processes, which already caused open mouths at the „Unlimited“ of Art Basel in mid-June. Each display moves a cross of four axes a good 20 centimetres long, equipped with tiny LED lights that produce razor-sharp images with a maddeningly fast rotation.

The artist thus sets us into a breathtaking storm of images that simply overwhelms our powers of comprehension. In rapid succession, happy blue emojis pop up next to cheeky comic rabbits, faces, photos of police cars, stunts by robots, firemen – and again and again the words Artists, Friends, Racists rain down and shatter like glass.

A critique of unambiguous attributions? The whole work an allegory of the image-obsessed social media present? Possibly. But Wolfson’s standard question of what the artist is trying to tell us only works if we look for the answer within ourselves.

Distance and horror

This also applies to his installation „Female Figure“, 2014. Even eight years after its first presentation, among other things at the special exhibition „14 Rooms“ during Art Basel, it has lost none of its fascination. Back then, she was the insider tip of the fair, access strictly limited. The public was only allowed into a narrow, white room in groups of up to four, at the front of which a lightly dressed, large-breasted, blonde dancer in high white patent boots danced to disco music in front of a mirror.

In fact, you could briefly think you were meeting a real dancer who was fixing you via the mirror. Eerie, because via motion detectors and facial recognition software, she tracked her viewers at every turn. Also uncanny: the woman wore a dark green mask with a long witch-like hooked nose. And her lifelike movements were made possible by a chrome rod that penetrated her stomach through the mirror.

Bregenz is showing „Female Figure“ for the first time in a wide auditorium, not in a cubbyhole, which would make the figure obtrusive, even threatening. However, she deserves the big performance in Bregenz. We can appreciate her here – withdrawn from their gaze and claustrophobic intimacy – from a safe distance. From there, too, she hooks herself vampirically into our memory. For even lascivious beauty needs grace or terror in order to create real binding forces.

And terror also creates and requires a critical measure of distance. After our conversation, Wolfson has a TV interview scheduled. Then he finally wants to take a swim. It’s hot. Lake Constance is calling.

First in an editorially revised German version on Republik.ch, https://www.republik.ch/2022/07/20/der-mechaniker

Jordan Wolfson, „House with Face“ 2017, Foto. Max Glauner

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Der Dramaturg. Eine Erzählung aus dem Jahr 1982 | Paralipomenon XXIV

Ausschnitt von Gotthold Ephraim Lessing, Gemälde von Anna Rosina de Gasc (Lisiewska), 1767/1768, Gleimhaus Halberstadt Foto: Comun Licence

Nickelbrille, das angegraute Haar à la Strindberg, Benjamin, Hamacher gerauft. Darunter ein schmales Gesicht, das in ein Kinn auslief, vorgeschoben, wie ein Kiel, in dem der wulstig-kleine Mund zu verschwinden drohte. Der Dramaturg. „Setzen Sie sich!“ Aufrecht lehnte er in der Intendanz, nach der Pforte, rechts, dritter Stock, links unter dem Dach, an seinem Schreibtisch mir gegenüber. Vor sich Zeitungen ausgebreitet. „Sie sind also Herr Strecker.“

Der Wiener hatte einige Zeit vor seinem neuen Engagement in der Ruhrmetropole im Schwäbischen gearbeitet. Kannte sich also aus mit dem Theater, mit den Komikern in der Neckarmetropole, aus der er vor kurzem mit seinem berserkernden Prinzipal vertrieben worden war. Jahre vor ihnen feierte Max Strecker getragen vom jungen Fernsehen neben Häberle und Pfleiderer, die Bedeutenderen, als Mundart-Buffo Triumphe. Was also lag näher, dass mich, Max mit Vornahmen, der, wie man sagte, weitdenkende und schon damals legendäre Dramaturg Hermann Axt in aller Anerkennung und Ignoranz mit dem Namen meines schwäbischen Theater-Landsmanns belegte.

Es sei vorweggenommen: Wir sind uns nie nähergekommen. Auch wenn wir uns über die Jahre und Jahrzehnte immer wieder begegneten; aus dem Ruhrgebiet ging es für Axt und seinen Prinzipal an die Donau. Ich reiste ihnen nach. Sie feierten Triumphe. Ich blieb in Berlin und für Axt der Strecker. Dann ging es für sie an die Spree. Und obwohl ich auch dort lebte, verloren sich unsere Wege, als sie ihr Theaterschiff in den Hauptstadtmorast versenkten. Irgendwann in Wien tönte er mir gegenüber, er werde sich dort nie hinbegeben, würde man so weitermachen, wie bisher. Alles ging so weiter und Axt blieb an der Seite seines Herrn. Bis zum bitteren Rentenende.

Meine Mutter hatte damals alle Minen springen lassen. Immerhin war sie früher im Opernkinderchor, der Pelikan in einer gefeierten Zauberflöte, in der der Wundertenor Fritz Wunderlich den Tamino gab. Ihre beste Freundin, stets auf hochhackiges Schuhwerk bedacht und Gattin eines Kammersängers, Bariton, fädelte meinen Besuch bei Axt schliesslich ein. Auf meinem Weg nach Berlin, wo ich, sollte das Gespräch mit Axt missraten, studieren wollte, ging es in den Pot.

«Sie wollen studieren, Strecker? Was denn?» Axt schaute prüfend über die Brille. Mich durchfuhr es. Erster Fehler. Aber hätte ich gleich sagen sollen, dass ich das Schultheater bei Manfred Raimund Richter und dem Musiklehrer Stegmeier ganz toll fand, Kleist und den Zirkus? Und dass ich schon mal Clown war. In einer Manege, die ich mit Daniela und Philipp im Nachbargrundstück abgezirkelt hatte, und noch früher sogar Zirkusdirektor werden wollte und dass ich, jetzt bescheidener geworden, bloss noch Burgtheaterdirektor. Ich traute mich nicht ihn zu korrigieren, um mein eigentliches Anliegen anzubringen und schoss heraus, «Germanistik, aber nicht so richtig.» Es gebe da in Berlin ein Institut, das versuche alles irgendwie zusammenzubringen, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Ohne Kästchen ging es da zu.

«Das ist gut.» replizierte Axt, der sich nun davon entlastet fühlte, mir auszureden bei ihm zu assistieren oder irgendwas am Theater an der Wupper anzufangen. Er kam in Plauderlaune. «Brecht hat auch studiert, bevor er ans Theater ging.» Das leuchtete mir ein. Dummer Weise, denn ich liess mich hinreisen, zu behaupten, ein akademisches Studium wäre zumindest in den Augen meiner Familie etwas Seriöses, etwas Solides. Schwaben halt. Axt zuckte mit den Achseln und fragte, wohin es mich am Theater so triebe. Mit dem akademischen Studium im Rücken schon Dramaturg, replizierte ich artig. Brecht habe auch nicht mehr als zwei Semester Philosophie studiert. Dann könne ich ja weitersehen. Erstaunlicher Weise zeigte sich Axt geschmeichelt. Doch sicher weniger, dass er sich von mir geschmeichelt fühlte, sondern durch den Umstand, dass er jetzt die Zeit für gekommen hielt vom Wesenskern seiner Profession zu erzählen.

Also schwadronierte er los, ein König auf dem Scheitelpunkt der wortgetragenen Bühnendramatik, deren letzten Gralshüter man ihn mit Fug nennen kann, bevor der Sturm des Postdramatischen in die deutschen Theater-Häuser wehte. «Was der Dramaturg tut, weiss eigentlich keiner so recht. Er liest viel, naturgemäss.» Axt schaute auf seine Zeitung. «Es ist eben auch ein sehr alter Beruf. Ein griechischer Philosoph ist der erste Dramaturg gewesen. Was natürlich nicht heißt, dass ein Dramaturg auch ein Philosoph sein muss. Aber er ist als Denkmaschine ans Theater engagiert. Denn das Theater denkt nicht. Es spielt. Aber es muss auch denken. Nicht denkende Schauspieler zum Beispiel langweilen mich. Nehmen Sie, Strecker, einmal Ise Ritter. Sie denkt. Jeder Satz, den sie auf der Bühne sagt, denkt sie und wenn sie spricht, denken wir, sie sagt den Satz zum ersten Mal. Als hätte sie ihn gerade erst gedacht. Wir denken, wir hören ihr beim Entstehen der Sätze zu, obwohl sie das alles auswendig gelernt hat. Aber der Ise Ritter musst du nicht sagen so und so musst Du das sagen. Die Ritter kriegt das auch so hin. Sie ist einfach eine der ganz Grossen, der man das eigentlich Nichts sagen muss. So pendelt der Dramaturg täglich zwischen ‘Denkfabrik’ und ‘Mädchen für alles und nichts’ hin und her und sagt nichts.» beendete Axt seinen Bogen und wischte meine Frage, wie dieser Philosoph denn hiesse, mit einer nuschelnden Handbewegung, vom Tisch. Gab es diesen ersten Dramaturgen? Oder war ihm die Geschichte Axt honi soit qui mal y pense ein Anker, um seinen Bogen von der Antike zur Ritter schlagen zu können?

Offensichtlich durch mein schweigendes Staunen über dieses rhetorische Geschick angeregt, fuhr er fort: «Um es etwas nüchterner zu erklären. Ein Lexikon, will den Dramaturgen als einen Angestellten definieren. Er wirke, heisst es irgendwo, bei der Auswahl und Einrichtung der Stücke mit, und muss das Schauspielern erklären. Ja, wenn das so einfach wär’» schloss Axt mit einer Pause ab, nachdem er den Umlaut von «wär» wienerisch-näselnd deutlich genossen hatte. «Ja, Strecker, stellen Sie sich das mal vor!» Und Axt legte zu einer längeren Ausführung los. «Es gab Zeiten, Strecker in denen die Dichter,» Axt betonte Dichter, «die Formgesetze des Dramas definierten. Alle konnten sich daran halten. Und mussten sich daran halten. Wer sich nicht daran hielt, der wurde missverstanden, ignoriert, ausgelacht. Das erging auch dem größten Dramaturgen der Theatergeschichte so, nämlich William Shakespeare.» Ach, schon wieder etwas Schummeln, dachte ich kurz, den Gedanken ob der Kompetenz meines Gegenübers nicht zulassend und kam auf Kleist. Axt meint Kleist – der wie er, Axt, Klarinette spielte, bevor er ans Theater ging. Axt setzte seine Ausführungen unbeeindruckt fort. «Strecker, im Grunde ist jeder Theaterdichter sein eigener Dramaturg, indem er seine eigene Gesetzmäßigkeit schafft. Auf der anderen Seite ist ein Dramaturg wiederum kein Dichter, aber einen Sinn für Dichtung in allen Spielarten sollte er als eine unbedingte Voraussetzung für seinen Beruf schon haben. Der Dramaturg heute ist gewiss kein Wachmann für eine ästhetischen Norm, kein Theatertugendwächter, auch wenn er einige Theatertugenden selbst immer beherzigen sollte.» Ich fühlte mich verpflichtet ihm hier mit einem kurzen «hm, ja, verstehe» beizupflichten, denn ich fühlte, ich hätte schon zu lange geschwiegen. Doch kaum, dass er meinen Einwurf registriert hatte, wechselt er Ton und Farbe seines Vortrags: «Im Grunde ist seine Aufgabe die eines Fragenstellers, also die eines Menschen, der Fragen an ein Stück, an Schauspieler, an Autoren, an Regisseure stellt, Fragen auch an das Publikum. Möglichst richtige Fragen, also Fragen, die weiterführen. Dabei kann eine unscheinbare, eher kuriose Frage von entscheidender Wirkung sein.» Ihm schien der Gedanke zu gefallen, denn er fragte mich mit einem spitzbübischen Schmunzeln, ob ich eine Frage hätte. «Haben Sie noch eine Frage, Strecker?»

Obwohl ich dachte unser Gespräch sei nun zu Ende, schien Axt nun erst richtig in Fahrt zu kommen. «Strecker, auch wenn Sie jetzt richtig belesen ans Theater kommen, ein Dramaturg darf nie ein Besserwisser sein. Er soll es nur genau wissen wollen. Eine richtige Frage führt zur richtigen Antwort, möglich. Kein Fragen jedoch führt in die Irre, Strecker. Die richtigen Fragen aber kommen nur aus der genauen Lektüre. Unverzichtbar für die Arbeit eines jeden Dramaturgen – natürlich auch eines jeden Regisseurs – ist die genaue Durchdringung eines Stücks durch eine neugierige, den ganzen Text erfassende Frage, der eine penible Lektüre folgt. Ein Dramaturg entwickelt die Fragen und Vorschläge zuallererst aus dem Stück.»

Kunstpause. Aha! Was würde jetzt kommen? Axt schaute zu Seite und begann leise und drehte den Kopf langsam zu mir. Ich erschrak. «Ein gewissenhafter Dramaturg misst alle so genannten Regieideen an der Wahrheit…,» erneute Pause, die das folgende Wort wie ein Hase aus dem Zylinder zauberte, «…des Stücks.» Und weiter: «Ein redlicher Dramaturg tritt für den Autor ein. Er ist nie Helfershelfer gegen den Autor.» Merkwürdige Wendung. Wie sollte er das je sein? Und gibt es nicht Autoren, die aus einem anderen Zusammenhang Theater machen? Wie wir Schüler in der Theater-AG von Richter zum Beispiel? Axt donnerte weiter: «Das Theater der schnellen Einfälle braucht keinen Dramaturgen. Eine Klassikeraufführung, die den Pokal fürs Schnellsprechen holen möchte, braucht keinen Dramaturgen.» Dann wurde er milder, sich auf das Historische besinnend. «Der Dramaturg als ein regelrechter Theaterberuf trat in der Theatergeschichte erst spät auf, müssen Sie wissen, Strecker. Dramaturgen im heutigen Sinn tauchen auf, als der moderne Regisseur in Erscheinung trat, etwa Max Reinhardt. Sie kennen Reinhardt?» Die Frage zu meiner Theaterbildung! Ja, den Namen schon gehört. Was konnte ich mit ihm verbinden? Ich suchte in meinen Hirnwindungen. Berlin, Salzburg, Sommernachtstraum, 20er-Jahre, Exil. Viel war da nicht und ich nickte. «Natürlich ist der Blick des Dramaturgen immer ein anderer als der des Regisseurs,» entlastete er mich durch die entfallende Nachfrage, «weil es ein abwägender, reflektierter Blick ist, nicht die geniale Vision. Und beharrlich müssen Sie sein, Strecker!» Ich nickte abermals.

«Es geht ja nicht um Rechthaberei, alles was zählt, ist die Bühne, das heißt, ob das, was man will, auf der Bühne überzeugend sichtbar wird. Jetzt, da, bei der Abendvorstellung, schlägt die Stunde der Wahrheit. Die Stunde der Wahrheit für den Dramaturgen schlägt vorher, immer wieder bei neuen Stücken, bei Stückentdeckungen oder bei Wiederentdeckungen. Wir sind Fährtensucher ins Ungewisse, Ungesicherte, Unentdeckte hinauswagt: Neuland betretend oder lange verschlossene Türen öffnend. Er muss fähig sein, mit Schauspielern zu sprechen, mit dem Regisseur, den Bühnenbildnern und wehe, er kommt ihnen mit nachgebetetem Dramaturgengerede, akademischem Neusprech. Er muss etwas von einem Praktikus haben. Goethe hat das Wort einmal gebraucht. Er meint, einen praktischen Sinn muss er haben, das praktische Wissen kann sich der Dramaturg aneignen. Nicht auf der Universität, nicht im Schnellkurs.» Erwartete er jetzt eine Reaktion? Eine Frage. Ich nickte abermals.

«Ein Dramaturg hat eine große Verantwortung. Wie der Schauspieler. Vom Schauspieler hängt das Gelingen des Theaterabends ab. Vom Dramaturgen hängt das Gelingen aller Theaterabende ab. Die Hauptsache ist, zwischen der großen Idee und der kleinsten Geste, der Betonung des entscheidenden Worts auf der Bühne einen Zusammenhang herzustellen, einen Zusammenhang, der für alle spürbar wird. Je länger ich am Theater bin, desto deutlicher weiß ich auch, dass die Verbindung von Bühne zu den Zuschauern elementarist. Für diese Verbindung trägt gerade der Dramaturg eine große Verantwortung. Wer sich davor drückt, ist als Dramaturg fehl am Platz, der soll Privatlehrer werden. Ein Dramaturg darf keine Angst haben. Auf dem Theater ist alles möglich, insofern ist auch für einen Dramaturgen alles möglich. Er kann sogar Stücke erfinden, wenn er ein Stück zu einem bestimmten Ereignis oder wichtigem Thema haben will. Er mag es unverzagt versuchen.»

Wenn da das Postdramatische nicht lauerte. Also los zur Feedbackschleife:  «Das Publikum verzeiht Schwächen oder Fehler, nicht aber Hochstapelei und Betrug. Das Publikum ernst zu nehmen, konnte ich deswegen leicht lernen, weil ich mich immer als Zuschauer gesehen habe, auch heute noch. Habe ich in meiner Theaterjugendzeit noch begierig Kritiken studiert, so erlebe ich heute die eklatante Diskrepanz zwischen der Theaterkritik und der Theaterrealität. Ärgerlich finde ich es obendrein, wenn dies geschichtslos passiert, das heißt ohne Wissen um ein Stück und dessen Aufführungsgeschichte. Gewiss, eine Theateraufführung wirkt nur im Augenblick und doch wirkt sie auch nach. Jede Theateraufführung steht in einem Kontext, lebt aus einem Kontext und schafft diesen Kontext immer wieder neu. Zumindest in genuinen Theaterstädten wie Wien oder München, sogar Berlin, denn dort herrscht eine andere Zeitrechnung, dort entstehen geradezu Sagenwelten des Theaters durch Schauspieler und legendäre Aufführungen. An Orten, wo das Theater noch solch eine Wirkung zu erreichen vermag, tritt es, Strecker, wundersamerweise an die Stelle von Religion: Es verwandelt den Menschen. Im Grunde ist Dramaturgie und die Arbeit des Dramaturgen tatsächlich eine verwandelnde Tätigkeit. Nämlich die Verwandlung des Wortes in die emotional erlebbare Fleischwerdung auf der Bühne. Von der Klugheit der Schauspieler, den Verkörperungen des Wortes, kann ein Dramaturg unendlich viel lernen. Sie denken nicht nach, sie spielen und denken im Spiel. Wenn das Theater als eine künstlerische Institution zur Seele einer Stadt oder gar als Nationaltheater zur Identität eines Landes gehört, dann ist es die Aufgabe des Dramaturgen, diese Zusammenhänge zu ergründen und für die Gegenwart neu zu definieren. Der Dramaturg ist Hüter und ständiger Neugründer seines Theaters. ‘Wenn das Haus durchsichtig wird, gehören die Sterne mit zum Fest’, so definierte einmal Hugo von Hofmannsthal das Theater. Etwas vom Sterngucker mag der Dramaturg haben. Aber der verschrobene Hinterstubenhocker und in seinen Büchern ertrinkende mausgraue Dramaturgen-Existenz, die nichts zu sagen hat, ist längst Vergangenheit. Er wurde vom Produktionsdramaturgen ersetzt, ein Spezial-Experte fürs Spezielle im Inszenierungsteam. Fehl am Platz, wenn er nur als Rechtfertigungsgehilfe fungiert, inspirierend und wichtig, wenn er kritische Impulse zu geben vermag. Im rechten Augenblick die Notbremse ziehen können, ohne den Zug zum Entgleisen zu bringen. Auch um diese Funktion darf sich ein Dramaturg nicht drücken.» Aha. Und: «Was aber ist nun tatsächlich der Antrieb, dies alles tagtäglich auszuhalten? Selbst die vollendetste Aufführung wird zur Chimäre, denn nach der letzten Vorstellung ist sie verschwunden. Vielleicht ist es die kindliche Hoffnung, dass doch etwas bleibt, dass doch etwas weiterwirkt und den Menschen verändert, verwandelt. Stellen wir uns vor, wie es Max Frisch bei seiner Frankfurter Rede zur Eröffnung der Dramaturgentagung als erhellendes Gedankenspiel getan hat, stellen wir uns einmal vor, Strecker, alle Theater blieben nach der Sommerpause geschlossen. Sehr bald würden wir uns sagen: in unseren Städten kein Ort der Wahrheit, kein Ort der Selbstvergewisserung, kein Ort der Zukunftsvision, kein Ort des allgemeinen öffentlichen Gelächters über jene, die die Macht haben, kein Ort, um in die Herzen der Menschen zu sehen, kein Ort der Erschütterung, kein Ort des geistigen Aufruhrs, kein Ort, um Humanität im Spiel durch Spiel zu erfahren. Kein Ort, wo niemand Angst haben muss, weil alles Spiel ist. Eine theaterlose, eine schreckliche Welt. Eine trostlose Zeit. All das droht uns ohne Theater. Gegen eine solche Trostlosigkeit kämpft zusammen mit Schauspielern und all seinen Künstlerkollegen auch der Dramaturg. Als Theateridealist wird er das tun, als Theaterzyniker wäre es ihm absolut gleichgültig. Theaterzyniker sind Theaterzerstörer. Allein meine ersten Begegnungen am Theater lehrten mich, wie grandios verschieden Theater sein kann und wie sehr eine doktrinäre ästhetische Ausrichtung der Vitalität des Theaters schadet. Nicht von einem Stil, sondern von der Vielfalt der Formen und Fantasien lebt das Theater.» Schön hat er das gesagt und er guckt so ins Weite als hätte er an seinem eigenen Stuhl gesägt.

Axt griff wieder zu seiner Zeitung. «Sehen Sie Strecker, hier der Artikel. Ich muss sie ja leider alle lesen.» Er zieht die Oberlippe hoch. «Ich brauche sie aber nicht auszuschneiden. Jede Zeitung, jedes Papier hat eine Reissrichtung. So muss ich nur der Reisrichtung folgen,» er nahm die Zeitung mit der Linken und machte einmal ‘Ratsch’, «und schon habe ich den Artikel sauber ausgetrennt.» Das war seine letzte Lektion. «Melden Sie sich gerne wieder, Strecker.» Ich grüsste zurück und ging raus aus der Intendanz dann links und hinunter.

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Alle mal mitmachen! Die documenta 15, das Lumbung und die Kollaborativen

Das documenta fifteen-lumbung-Prinzip genauer betrachtet. Annahmen und Beobachtungen zu kollaborativen Kunstproduktionen.

Von Max Glauner

d15 – Foto: Max Glauner

I. Einleitung. Lumbung und das documenta-Woodstock-Potential

So hatte sich Kassel das vorgestellt: 100 Tage Festival der zeitgenössischen Kunst. Der globale Süden zu Gast an der Fulda fern von Markt- und Messehype: Documenta-Woodstock in Hessen. Das Zauberwort dafür, Lumbung. Das indonesische Wort für Reisscheune. Es steht für die Grundsätze der neunköpfigen Kurator*innengemeinschaft der documenta fifteen ruangrupa, eine gerechte Ökologie der Kollektivität und nachhaltigen Ressourcenwirtschaft unter dem Stern einer vernetzten ästhetisch-politischen, mithin künstlerischen Praxis. Doch der Start missriet. Das nach dem Abzug des Pressetross am Eröffnungstag gehisste Banner der indonesischen Gruppe Taring Padi [S. 106] bediente nach antizionistischen Misstönen im Vorfeld antisemitische Stereotype. Sein Abriss war vorprogrammiert, der folgende Ärger absehbar. Die documenta fifteen hatte ihren Skandal, doch ein Minus-Image sondergleichen, von dem sie sich nicht mehr so leicht erholen wird, dem guten Willen neue kunstgetriebene Ökologien aufzuzeigen zum Trotz. Der Künstler*innenzusammenschluss Fondation Festival sur le Niger aus Mali zum Beispiel kennt keine Gattungsgrenzen. Collagen, Skulpturen, Workshops für ihre Gäste gehören zu ihrer human verankerten Praxis ebenso wie ausdrucksstarke Marionetten oder Musik und Tanz. Da machen wir gerne mit. [S. 262]

Doch was heißt Beteiligung, Partizipation, Teilhabe am produktiven und nicht zuletzt gesellschaftlichen Prozess? Intern war ein gewisses Mass an Begegnung und Austausch garantiert. Ruangrupa engagierte 14 Lumbung Member-Gruppen, die ihrerseits Gruppen und Künstlerinnen einluden und diese wieder andere. Inzwischen sollen es 1’500 Teilnehmer*innen sein. Doch wie stand es um die Teilhabe der Besucher*innen?

Wer die Einführungstexte der Handouts genauer las, vermisste Begriffe wie «Teilnehmende» oder «Publikum», erstrecht «Zuschauer*in» oder «Betrachter*in». War jede, jeder mit dem Kauf eines Tickets Teil der Lumbung-Gemeinschaft? War frau/man damit jeder Übersetzungsleistung, Anschlussfrage, Kontextualisierung enthoben, sprich, in der kollektiven Kunstblase, beziehungsweise in der transglobalen Kuschelaue angekommen?

Ich möchte ein Angebot machen. Sehen wir uns an, was Teilhabe, Partizipation im Kunstkontext bedeuten kann. Für die Künstler*innen und jene, die an ihrer Arbeit teilhaben möchten.

Installationsansicht, Nino Bulling – d15, Foto: Max Glauner

II. Nino Bulling, der Kunst-Welt-No-Name oder von Gemeinschaft, Gesellschaft, Zusammenschluss und Kollektiv

Licht flutet weich, freundlich von oben aus den Sheddachfenstern. Darunter hängen an roten Gestängen rechtwinklig weisse Seidentücher, auf denen der Berliner Künstler Nino Bulling mit betörend sicherem Pinselstrich eine schnell gezeichnete Serie von Szenen der Zweisamkeit zwischen intimer Nähe und Distanz, Selbstfindung und Verlorenheit geschaffen hat. Traumwandelnd gelingt ihm ein Raum zwischen Ruhe und vibrierender Spannung, die uns in unserem Selbstverständnis verunsichert, definitiv der oder jene zu sein. Nino Bulling 1987 in Berlin als Mädchen geboren, in Halle ausgebildet, Comiczeichner und Autor kennt diese Verunsicherung aus eigener Erfahrung und bringt sie hier in Bilder, die wir von Stoffbahn zu Stoffbahn in Narrative übersetzen.

Am ersten Pressetag sitzt Nino Bulling in seiner Installation in der Industriehalle Hafenstrasse 76 im Ostteil Kassels und beobachtet sein Publikum. «Sie fotografieren fast alle aus dem gleichen Winkel», stellt der Knabenhafte mit Kurzhaarschnitt und Flaum auf der Oberlippe verschmitzt fest. Der mit der documenta fifteen angesagte Paradigmenwechsel weg von der oder dem angesagten Ausnahme-Artisten, hin zum Kollektiv, das mit künstlerischen Mitteln in einer Gemeinschaft mit und für sie in die Gesellschaft hineinwirkt, ist bei Bullings Arbeit nicht abzulesen.

War es seine Biografie, die ihm zur Einladung nach Kassel verhalf? Der Indi-Comiczeichner, Kunst-Welt-No-Name ein willkommener Störfaktor im documenta-Kanon? Mag sein. Die Antwort liegt mehr in Bullings sozialer Haltung. Gemeinschaft zählt für ihn mehr als Künstler-Ego. Damit war er nach dem Documenta-Fifteen-Lumbung-Reisscheunen-Kooperations-Prinzip, das für gemeinsames Haushalten und füreinander Einstehen steht, als Teilnehmer prädestiniert. Den Verkaufserlös seines documenta-Comic-Book «abfackeln», in der englischen Version «firebugs», (2022) wird er mit seiner Berliner Ateliergemeinschaft in einer Finanz-Kooperative teilen. Zur documenta hat er die libanesische Gruppe Samandal eingeladen, um mit der queeren Truppe eine Anthologie zu produzieren. Und er möchte das Forum dazu nutzen eine Comiczeichner*innen-Gewerkschaft zu gründen.

Nino Bulling gehört damit zum Dirty Dozen Künstler*innen, die im Katalog der documenta fifteen unter ihrem Namen und nicht als Teil eines Kollektivs firmieren. Bekannte Teilnehmer*innen wie Hito Steyerl, mit zwei grossen Installationen vertreten, und Tania Bruguera als Kopf der kubanischen Gruppe Instituto de Artivismo Hannah Arendt sind nicht dabei. Sie fügen sich prima inter pares in ihre Künstler*innengemeinschaften.

Mulmig wird es Bulling, als wir feststellen, dass auf seinem Saalzettel zwar sein Name, aber weder die Materialangaben seiner Arbeit noch, wie mit den Kurator*innen verabredet, die Namen seiner Mitstreiter*innen genannt werden. Ein Versäumnis, das nicht nur dem Berliner Künstler widerfahren ist. Im Gegensatz zum Hollywood-Kino, das nach langen Kämpfen durchgesetzt hat, dass jede*r an der Produktion Beteiligte im Abspann genannt werden muss, ist das Bewusstsein dafür im Kunstbetrieb nur mässig entwickelt. Für eine documenta, die Gemeinschaftlichkeit als Produktionsprinzip der Kunst auf die Fahnen schreibt, ist dieser Umstand schwer verzeihlich. Mit Bulling kann man nur sagen: Face it, change it!

d15 – Foto: Max Glauner

III. Lumbung oder von Partizipation, Kooperation und Kollaboration

Der Ruf, die Kunst möge die gefallene Menschheit weiser machen, beglücken und erlösen, ist so alt wie ihr Begriff, der sich mit der Aufklärung im 18.-Jahrhundert formierte. Josef Beuys’ Schlagwort von der «Sozialen Plastik» ist ein schöner Nachhall darauf. So nimmt es nicht für Wunder, dass sich das indonesische Künstler-Aktivist*innen Kollektiv Taring Padi für das Tableau «People’s Justice» (2002) die Ikonologie eines christlichen Weltgerichts zu eigen macht. Antisemitische Stereotypen inklusive. In einem Haufen Schädel, beschriftet mit Stätten des Kriegs und Leids, fehlten Auschwitz, Sobibor, Treblinka. Der Banner aus der Post-Suharto-Diktatur wurde wie in den Feuilletons sattsam diskutiert, wenige Tage nach seiner Kassler Veröffentlichung am prominenten Friedrichsplatz verhüllt, dann abgebaut. Die hunderten karnevalesken Pappfiguren mit Tragestäben darum herum in den Boden gerammt, abgeräumt. Solche Figuren wurden in Demonstrationszügen in Yogyakarta 1998 als Ausdruck des Protests getragen. Taring Padi dachte an ein Reenactment: Die Kassler Bevölkerung sollte mit ihnen als bunte Masse social media-tauglich durch die Innenstadt marschieren. Daraus wird nun nichts.

Die Eindrücke der vier d15-Priview-Tage von Bulling bis Taring Padi sind disparat, für das Publikum schwer einzuordnen. Die documenta fifteen steht zunächst für Kunst, die sich nicht mehr um schöne, anregende mithin fetischisierte Objekte kümmert, sondern primär um einen Prozess als Vorgang der gemeinsamen Ermächtigung aus und mit einer Gemeinschaft in die Gesellschaft hinein. Der mediale Hype um den Antisemitismus-Verdacht des d15-Kuratorenteams erklärt sich neben der organisatorisch-kuratorischen Präpotenz auch durch den Umstand, dass den Feuilletons die Zeit und die Kriterien und Qualitätsmassstäbe für prozesshafte, performative Kunst, dazu noch aus dem globalen Süden fehlen. Diese drehen sich um die Begriffe künstlerische (Produktions-)Gemeinschaft, Partizipation und Verantwortung.

Wir schlugen in Band 240 von Kunstforum International vor, den Begriff der Teilhabe an Kunst, von zeitbezogenen Live-Akts bis hin zur Produktion von Kunstwerken in drei Modi zu differenzieren: Partizipation als Interaktion, Partizipation als Kooperation und als Kollaboration. Begriffshuberei? Wir sehen darin ein sinnvolles Angebot. Der von der Kurator:innen Ruangrupa eingebrachte Term «Lumbung, Reisscheune» für eine geteilte, gemeinschaftliche Kunstproduktion, deckt sich in weiten Teilen mit den vorgeschlagenen Begriffen. Sie lenken unterschiedliche Perspektiven, Schlaglichter auf Vorgänge, Performanzen, die die strikte Trennung von Betrachter-und Macher:in, Publikum und Künstler:in wenn nicht aufheben, so doch in Frage stellen. Ein Grundprinzip der documenta15. Die Fülle, dessen, was in Kassel zu erfahren ist, wäre damit leichter zu differenzieren und nicht zuletzt intensiver zu erleben.

d15 – Foto: Max Glauner

IV. Lumbung oder von Partizipation als Interaktion

Noch einmal zurück zum indonesischen Kollektiv Taring Padi. Durch seinen aktivistischen Hintergrund der Anti-Suharto-Bewegung und sicher auch durch die persönlichen Beziehungen zu den Kurator:innen, auch wenn es nicht zum Inner Circle der Ruangrupa nachgestellten 14 Lumbung Member-Gruppen gehört, ist es an mehreren Standorten der documenta fifteen prominent vertreten. Es steht damit phänotypisch für das Konzept der documenta fifteen. Im und vor dem umgewidmeten modernistischen Hallenbad Ost kann es sich ausbreiten, zeigt grossformatige Banner in einer propagandistisch-expressiven, figurativen Bildsprache und groteske Pappfiguren aus Protestzügen. Die formale Ausführung erstaunt in ihrer stilistischen Einheitlichkeit. Es mögen viele Hände kooperativ daran mitgewirkt haben. Der Kunstwille aber ist klar gerichtet, individuelle Form kein Thema. Eine künstlerische Kollaboration, ein Kollaborativ, in dem Individuen hervortreten, ist nicht sichtbar.

Anders als beim haitianischen Kollektiv Atis Rezistans in der weiten Halle der St. Kunigundiskirche etwas weiter südlich im Kassler Vorort Bettenhausen, sie zeigen überwiegend Skulpturen, die durch Umrunden zu erschliessen sind, stehen wir bei Taring Padi einer musealen Inszenierung gegenüber, die die ausgestellten Malereinen zu opaken Ikonostasen aufmauern. Wir sind im besten Fall einfühlende Betrachter. Entgegen der Intention von Partizipation keine Spur. Diese sollte mit der Kassler Bevölkerung seiner Inhalte entleert als Reenactment durch den Pappfigurenumzug in der Stadt hergestellt werden. Der interaktive Programmpunkt ist nun gestrichen.

d15 – Foto: Max Glauner

V. Lumbung oder von der Partizipation als Kooperation

Die Kasseler Angebote an interaktiver Teilhabe sind gross. Sie reichen vom Ausziehen des Schuhwerks um über Landkarten zu Laufen (Instituto de Artivismo), Abgreifen von Druckerzeugnissen (lumbung Press) einer Half Pipe zum Skaten (Baan Noorg Collaborative) über das Passieren von Transiträumen (Wajakuu Art Project), alle in der documenta-Halle) bis hin zum Teetrinken im Beduinenzelt mit Livemusik und direkten Kontaktmöglichkeiten zu den Künstler*innenn (Fondation Festival sur Niger, Hübner Areal)).

Partizipation auf der kooperativen Ebene wird dem Publikum demonstrativ im Mutterbau der documenta, dem Fridericianum, angeboten, Werkstätten, Ateliers für die kleinen documenta-Besucher im Erdgeschoss. Mitmachkunst für die Älteren findet auf pädagogischer Distanz statt. In den oberen Geschossen signalisieren im Kreis aufgestellte Hocker, Tische, Stühle, Schaubilder und Wandtexte Werkstattatmosphäre, Begegnungs- und Gesprächsoptionen mit den ausstellenden Künstler*innen. Kurz gesagt: Für das erwachsene Publikum findet die partizipative Kooperation weitgehend auf der edukativen Ebene statt.

Kooperation gelingt allerdings auf Produzentenseite nicht immer lumbung-paritätisch. Aus der Kooperative behauptet sich nicht selten ein solitärer Kunstwille, der der Truppe den Stempel aufdrückt, wie bei dem transafrikanischen Netzwerk Another Roadmap Africa Cluster (ARAC, 1. OG Fridericianum). Das Konzept und die Umsetzung stammen hinter einem schön designten Vorhang visualisiert, von dem Künstler und Autor Christian Nyampeta, der sich eine reeducation aus afrikanischer Sicht auf die Fahnen geschrieben hat.

Oder Wakaliga Uganda. Im hinteren Ende der documenta-Halle untergebracht, führt das Filmkollektiv einen Indi-Splatter-Reisser aus den Squatters Kampalas auf. Die fröhliche Appropriation von Hollywood- und Hong-Kong-Kino ist vergnüglich, sorgt aber früh für Ennui, da die regulativen Bezugsgrössen wie die auch hier praktizierte Ausbeutung von Darstellern und Resoucen allzu durchsichtig sind.

Was weist darüber hinaus? Singen. Es ist Ausdruck von Selbstermächtigung, Stimme als Leben und im Verein, von Gemeinsamkeit. Es gab wohl keine documenta, in der in Video und Audios so viel gesungen wurde (schöne Beispiele, die Installation der südafrikanischen Gruppe MADEYOULOOK im Hotel Hessenland und die Videoarbeiten Asit (2022) von Pınar Öğrenci im Hessischen Landesmuseum und Lonely Trees (2018) des syrisch-kurdischen Kollektivs Komîna Fîlm a Rojava im 2. Obergeschoss des Fridericianums). Kollaborativ: Wir summen mit.

d15 – Foto: Max Glauner

VI. Lumbung oder von der Partizipation als Kollaboration

Kooperation und Kollaboration werden von den Veranstaltern synomym behandelt. Wenn es sich um gemeinsame künstlerische Tätigkeit handelt, lohnt es sich diese Begriffe zu trennen. Kooperationen finden sich überall, wo zum Zustandekommen eines Werks oder einer Aufführung mehr als eine Person nötig ist und zielorientiert ausgemacht werden muss, wer was tut. In der Kollaboration geht das beteiligte Subjekt jedoch nicht auf, geschweige denn unter. Es bleibt als Individuum mit seiner Spur sichtbar, das Werk trägt zu seiner Indviduation, seiner Sichtbarkeit bei. In der künstlerischen Zusammenarbeit sind daher nicht Kollaborationen, sondern Kollaborative am Werk, in denen die Beteiligten als Subjekte, als Ermächtigte und Unterworfene erscheinen. Hier liegt das Geheimnis der Kunst.

Beispiele dafür gibt es in Kassel allerdings wenige. Herausragend, die verstörend-schöne Licht-Klang-Installation der 1973 in Hanoi geborenen Künstlerin Thi Trinh Nguyen im historischen Rondell an der Fulda. Sie kollaboriert mit den Klimaverhältnissen ihrer Heimat. Via Internet überträgt sie die Winde im entfernten Vietnam aus einem ehemaligen Internierungslager des Vietkong. In der dunklen Kuppelhalle des historischen Mauerwerks bringen sie Bambusrohre zum Klingen und werfen ein zauberhaftes Schattenspiel der unter der kreisrunden Besucherplattform befestigten Chili-Sträucher an die schrundigen Wände. Ihr Kollaborativ gilt den Winden und ihren Tönen, dem Ort und seinen Geschichten. Allein der Gang dorthin lohnt einen Besuch in Kassel.

Der Text erschien zuerst in Kunstforum International 2022

d15 – Foto: Max Glauner

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Jose Dávila – Spanngurtenkunst im Haus Konstruktiv Zürich

Künstlerische Materialbeherrschung ist schon lange nicht mehr allein an die ausgewogene Form gebunden. Sie gleicht eher einem Experimentierfeld, in welchem die Belastbarkeit des Materials ausgelotet wird. Ein Meister dieser Disziplin ist im Haus Konstruktiv zu entdecken, der Mexikaner Jose Dávila.

Jose Dávila, Installationsansich Haus Konstruktiv, 2022, Foto: Max Glauner

Zürich — Das verblüfft: Wie Stämme eines abgestorbenen Wäldchens ragen dunkle Doppel-T-Träger aufrecht in die Höhe des lichten Saals im Erdgeschoss des Haus Konstruktiv. Zählten wir nach, kämen wir auf einundzwanzig. Sie sind unterschiedlich hoch, die höchsten an die vier Meter. Damit die Stelen so stehen können, wir ahnen, dass sie nicht am Boden fixiert sind, hat sich ihr Schöpfer Jose Dávila einen Trick einfallen lassen. Jeder Stahlstumpf ist am Ende durch eine Trosse über die Decke mit einem wackeren Granitbrocken verbunden. Dieser hält seinen Widerpart in der Vertikalen. ‹The Act of Being Together› heisst die eigens für diesen Ort geschaffene Arbeit.

Jose Dávila (*1974) ist kein ausgebildeter Künstler, sondern Architekt. Zur Kunst kam er durch Neugier. Wohl darum scheren sich seine Arbeiten kaum um klassische Parameter der Skulptur. Seine Arbeiten gleichen Versuchsanordnungen. Sie loten die Grenzen der Gravitation aus. Statik interessiert den Künstler nur, insofern er das Material dynamisieren kann. So erinnern viele seiner Arbeiten an Richard Serra, die Arte Povera oder auch Arbeiten einer Virginia Overton. Ein Mittel des Künstlers, um die Skulptur «schneller» zu machen: der Spanngurt.

Jose Dávila in seiner Installation im Haus Konstruktiv, 2022, Foto: Max Glauner

Damit werden Scheiben zu Licht-Bildflächen in der Diagonale gehalten (‹Shadows I und II›, 2022), Benzintonnen im Winkel an die Wand gespannt (‹The Rope Some­times Bursts›, 2022) oder ein Stahlreifen an den Sockel geknebelt, und das lange Knebelende darf noch eine Arabeske auf dem Boden vollführen (‹The Act of Perseverance›, 2022). Überzeugender ist da die Arbeit ‹Will has moved mountains›, 2020. Das ist skulpturale Spanngurtequilibristik zum Staunen und im Zwischengeschoss gelungen mit der fünfteiligen Farbfeldmalerei ‹Memory of a Telluric Movement›, 2020, an der Stirnwand kombiniert. Auf einem Podest hält ein sicher fünfzig Meter langes schwarzes Band hintereinander vier leicht gekippte Spiegelwände. Band und Spiegel wiederum werden durch schwere Gegenstände, Steine, Kuben, Holzquader gerade so gehalten, dass sie uns nicht entgegenkippen können. Hier beginnt ein faszinierendes Spiel im Auge der Betrachtenden: Die Spiegel erweitern den Raum und entziehen ihn zugleich. Wir sehen uns, aber nichts ist dahinter, und wir halten uns an den Gurten, den Gegenständen, die sich nun magisch zu heben, senken und zu stürzen scheinen. Das ist an Dramatik kaum zu überbieten. Nichts wie hin! 

Zuerst veröffentlicht in Kunst Bulletin 7-8/2022

Jose Dávila, Installationsansich Haus Konstruktiv, 2022, Foto: Max Glauner

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Kuschelkissenkunst. Performative Formate auf der 59. Venedig Biennale 2022

Gegen die konservativen Tendenzen der Hauptausstellung The Milk of Dreams der diesjährigen Venedig Biennale setzten sich in den Länderpavillons zunehmend Aufführungsformate durch – vor allem solche, in denen das Publikum aktiv gefordert ist. Ein Augenschein.

Frau auf Podest. Die 59. Venedig Biennale-Kuratorin Cecilia Alemani beim Fotoshooting, Foto: Max Glauner

Der Knaller der diesjährigen Venedig Biennale liegt weit außerhalb. Nicht in der Hauptausstellung, nicht in den Arsenale, nicht in den Giardini, sondern im abseitigen Stadtquartier Cannaregio, in der profanierten Kirche Chiesa Maria della Misericordia. Die Niederländer haben sie angemietet, ihren Pavillon in den Giardini Estland überlassen, um der Künstlerin und LGBTQ+-Aktivistin Melanie Bonajo mit ihrer Installation „When the body says Yes“ einen angemessenen Raum zu bieten.

Doch sehen wir uns zunächst an anderer Stelle um. Denn die Konkurrenz ist groß. Der Besuch auf der Venedig Biennale mehr denn je wert. Das liegt an einem Widerspruch. Dieser erwächst aus dem immer noch virulenten Gegensatz zwischen den, wenn man so will, klassischen Bildenden und den Perfomativen Künsten, also Aufführungsformaten, Live-Acts und begehbare Bühnenräume, in denen das Publikum als beobachtende Darsteller:in aufgerufen wird. Seit 2015 gehören diese Formate zum festen Bestandteil der Venedig Biennale. Ihr damaliger Kurator Okwui Enwezor richtete in der Hauptausstellung eine große Bühne für Darbietungen aller Art ein. Die Grande Dame der Performancekunst Joan Jonas erhielt für ihren Auftritt im amerikanischen Pavillon eine Auszeichnung ebenso wie die Künstlerin und Aktivistin Adrien Piper für die partizipative Performance The Probable Trust Registry. Die Biennale 2017 feierte Anne Imhofs Dauerperformance Faust,und das theatralische Tableau vivant The Sun and the Sea des litauischen Pavillons erhielt zwei Jahre später einen Goldenen Löwen. Das post-performative Zeitalter war angebrochen.

Doch so sehr sich die raum- und zeitbezogenen Künste, Bild und Bewegung, Atelier, Bühne, Galerie und Theater in den letzten Jahrzehnten aufeinander zubewegt haben, so sehr sind ihre Gegensätze und im besten Fall produktive Spannungen weiter zu spüren – in Venedig 2022 allemal.

In der Hauptausstellung der Giardini und den Arsenale The Milk of Dreams reibt man sich jedoch zunächst die Augen. Wo bleibt die Performance? Deren Kuratorin Cecilia Alemani streicht zwar in ihrem offiziellen Statement heraus, dass «die Darstellung von Körpern und deren Metamorphosen», Core Business der Performativen Künste, von zentraler Bedeutung sei. Die Tänzerinnen Mary Wigman (1886-1973) und Josephine Baker (1906-1975) werden in Filmdokumenten auf mit exotischen Tänzen präsentiert. In den Arsenalen sind die wunderbar grotesken Figurinen der Choreografin Lavinia Schulz (1896-1924) und ihres Kollegen Walter Holdt (1899-1924) zu sehen. Schulz beging in Hamburg Selbstmord, nachdem sie ihren Lebensgefährten Holdt erschossen hatte. Ihre Kostüme wurden durch Zufall wiedergefunden und hier zum ersten Mal einer internationalen Öffentlichkeit gezeigt. Atemberaubend und verlockend die Idee, sie in einer Aufführung zu sehen. Nun nehmen sich wie Feigenblätter aus. Aktuelle Aufführungsformate? Dazu muss man im Zentralen Pavillon ganz nach hinten gehen.

In dem grosszügigen Oberlichtsaal ist die 1947 geborene U.S.-amerikanische Meisterin der Appropation Art Louise Lawler mit ihrer grossformatigen Fotoserie No Exit, 2022,zu sehen. Sie bereitet die Bühne für die Aufführung Encyclopedia of Relations, 2022, der rumänischen Choreografin und Performance-Künstlerin Alexandra Pirici, Jahrgang 1982. Ihre Performer fallen den Besucher:innen zunächst kaum auf. Man sieht sie müßig schlendernd oder interessiert vor den Bildern der amerikanischen Künstlerin stehen, angenehme junge Zeitgenossen unter vielen. Nach einigen Minuten lösen sich die vier Performerinnen und die zwei Performer aus dem Besucherstrom und formieren sich vor der weißen Eingangswand. Wer weder Katalog noch Saalzettel konsultiert hatte, wird jetzt irritiert sein. Die sechs gruppieren sich zu einer triumphalen Pyramide. Die beiden Männer schultern eine junge Frau, eine zweite kniet daneben, die dritte robbt am Boden, die vierte vollführt ihr Artistenkompliment, während die ganze Truppe, Skulptur in Bewegung, langsam und anmutig nach vorne schreitet. Darauf verteilen sie sich im Raum und nehmen den Ruf und den verhaltenen Tanz einer Mitspielerin aus dem Chor heraus in kurzen, abstrusen Bewegungen und Lauten im Echo auf. Als Abschusstableau vor ihrem Abtritt verharren sie in der Mitte des Saals. Wer hier an Rodins Figurengruppe Die Bürger von Calais (1885) denkt, liegt nicht falsch.

Louise Lawler und Alexandra Pirici, eine geglückte, ja beglückende Begegnung. Denn Lawler bereitet der Jüngeren nicht nur eine Bühne, sondern liefert auch eine konzeptuelle Vorlage. Seit ihren Anfängen setzt sich Lawler fotografisch auch hier in Venedig mit dunklen Fotos aus einer Donald Judd-Retrospektive des MoMa mit dem Status des Kunstwerks als kontextgebundenen mithin fetischisierten Objekts auseinander. Alexandra Pirici führt mit ihrer Aufführungdie Institutionskritik und Anfragen an künstlerische Machsetzungen im Performativen fort. Bereits 2013 vertrat sie mit ihrem Kollegen Manuel Pelmuș ihr Heimatlandauf der 55. Venedig Biennale. Die Arbeit An Immaterial Retrospective stellte im ansonsten leeren Pavillon berühmte Skulpturen der Venedig-Vergangenheit mit großem Unterhaltungswert performativ nach, Joseph Beuys Straßenbahnhaltestelle (1976)zum Beispiel. Nach Auftritten bei der 6. Berlin Biennale 2016 und Skulptur Projekte Münster 2017 lud Pirici das Art Basel-Publikum 2019 zum gemeinschaftlichen Entspannungstraining in einen aufblasbaren Pavillon auf dem Messeplatz. Formierung einer kritischen Masse oder soziale Skulptur? Die Antwort darauf bleibt unausgemacht. Sie dürfen als unaufgeregt diskrete Gesten gelten, Einladungen, Beziehungsmuster zu erleben und neu zu gestalten, mehr durch Körper, Bewegung und Begegnung als kopfgesteuert. Damals wie heute ging es darum, groß gedachte Kunst vom Sockel zu holen, gestanzte Körper-Bilder neu zu formatieren. Oder gleich die als atavistisch und post-koloniale Überbleibsel kritisierten Länderpavillons.

Kroatien macht es vor. Es verzichtet auf einen Pavillon und setzt radikal einen KI-gesteuerten auf situationistischen Akionismus. Der in den Niederlanden lebende kroatische Künstler Tomo Savić-Gecan hat für Untitled (Croatian Pavilion) eine kleine Truppe Performer:innen zusammengestellt, die täglich, gesteuert durch ein Computerprogram in vier bis fünf Länderpavillons auftauchen, in denen sie diskret eine Aufführung geben. Ein Algorithmus, bestimmt durch 250-Online-Newsticker, gibt Zeit, Ort und Choreographie vor. Top News become top moves. Das ist klug inszeniert. Denn nicht nur, dass die nationale Präsenz unterlaufen wird. Zugleich stellt sich die Frage nach Autonomie, Selbst- und Fremdbestimmtheit nicht nur in der Kunst.

Warum hatte es in Venedig nicht mehr solcher Veranstaltungen gegeben? Sicher war das auch Corona geschuldet. Es muss vorab geprobt werden und die Entwicklung der Pandemie ist schwer vorherzusagen. Zum anderen ist es eine Geldfrage. Darsteller:innen müssen bezahlt werden. Ein Objekt dagegen rechnet sich für die Aussteller. Die oft horrenden Herstellungskosten werden von den Galerist:innen getragen. Will ein Kurator Performatives, ist Partizipation angezeigt. In der aktiven Teilhabe am Kunstwerk werden einfach Besucher:innen zu Akteur:innen. Immersive Bühnenräume haben daher Konjunktur.

Die formale Spannweite ist groß. Sie reicht in der Hauptausstellung von Barbara Krugers Untitled (Beginning/Middle/End), 2022, ein gewaltiger konzeptueller Appell-Raum, in dem ein schwarz-weißes, von Signalrot unterbrochenes All-over von zivilisatorischen Botschaften und post-feministischen Statements auf den Betrachtenden hereinbrich, bis hin zu Marianna Simnetts verstörende Drei-Kanal-Videoinstallation The Severed Tail, 2022. Die 1986 in London geborene und in Berlin beheimatete Video-Installationskünstlerin konfrontiert mit einem Sado-Maso-Club, in dem es den Agierenden in Tierkostümen vor allem um die Exposition und Extraktion von Tierschwänzen geht. Das geht für Viele so lange gut, bis realisiert wird, dass es sich bei der durch die Blackbox gewundene flauschige Sitzgelegenheit um einen abgeschnittenen Monsterrattenschwanz handelt. Auch wenn uns jetzt Ekel ergreift, wir sind nicht mehr teilnahmslos, draußen, sondern selbst wenn wir die Flucht ergreifen, drin und Teil vom Ganzen.

Damit etabliert sich in Venedig neben White Cube und Black Box so etwas wie eine Participating Audience Stage. Das Publikum soll als bewegter, mitfühlender, mitdenkender Akteur herangeholt werden. Damit sind wir wieder in der Chiesa Maria della Misericordia.Jenseits der lauten Aufmerksamkeitsökonomien gelingt dort der 1978 geborenen queeren Künstlerin Melanie Bonajo eine berührende und überzeugende Plattform, monumental und diskret zugleich.

Der Länderbeitrag ist dort mit Bedacht ausgewählt. Hier hatte 2015 Christoph Büchel für Island mit The Mosque für wenige Wochen bis zur behördlichen Schließung eine Moschee für die venezianische Islamgemeinschaft etabliert. Bonajos Installation konnte so auch als zaubergleiche über Bande gespielte Kampfansage gelten: Statt Gebetsteppichen nun Kuschelkissen, statt Lüster Schummerdunkel, lange Spinnwebfäden hängen aus der Decke und die Mihrab, die Nische, nach der sich die Gemeinde zum Gebet ausrichtet, ist einer gewaltigen Bildleinwand gewichen, auf der nackte Akteurinnen der LGBTQ+-Community um die Mitte Dreißig sich gegenseitig ihre geölten Körper reiben. Das hatte nichts Aufdringliches, nichts Pornografisches. Dafür sorgten schon die trockenen Erfahrungsberichte zu Körperlichkeit und Sexualität der Teilnehmer:innen unterschiedlicher Kulturkreise aus dem Off. Sie sprechen von Aufmerksamkeit, Geschlechtlichkeit, Begegnung und Berührung jenseits trainierter Sexualität. Die Künstlerin ist so klug, Distanz als Kraft der Kunst zu wahren. Warf man sich bei Büchel zum Gebet gen Mekka, erspart uns Mel Bonajo den letzten partizipativen Schritt zur Mitmachaktion und entlässt uns als potentielle Evangelisten ihrer frohen Botschaft: „Feeling is a form of intelligence, thinking through touch.“ Das ist Kunst, die berührt.

Dieser Text erschien in redaktionell überarbeitet in Freitag, 12. Mai 2022, S.26

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Lange Schatten. Tag- und Nachtseiten eines Kinderspiels

In der Sammlung der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte zu Winterthur wird ein Schattentheater aus Karton mit der Inventarnummer 21891 geführt. Es wurde um die Jahrhundertwende 1900 für Kinder in Serie hergestellt – ein frühes Zeugnis medialer Faszination und sozialer Teilhabe. Was erzählt es uns heute?

Schattentheater um 1900, Aufstellbühne, Silhouettenfiguren, Kulissenteile, Kartin, Papier, Metall; Stiftung für Kultur und Geschichte SKKG Winterthur

Unter der Inventarnummer 218921 befindet sich in der Winterthurer Sammlung für Kultur und Geschichte ein «Schattentheater mit beweglichen Figuren» wie es auf dem Schachteldeckel in Rot geschweifter Schrift geschrieben steht. Die dazugehörige Spiele-Schachtel der Berliner Firma Sala ist mit den Jahrzehnten verloren gegangen. Nicht die Verheissung, die von seinem Inhalt ausging. Schon auf dem Schachteldeckel bekommen wir davon eine Ahnung: Versprochen wird grosses Theater im Kleinen, ein kostbares Bühnenportal, Kapelle mit Kapellmeister und eine lustige Begebenheit, in der riesengrosse Schattenrissfiguren auf der Bühne eine Verfolgungsszene mimen. Da ist ein Hund hinter einem mageren Spitzbuben her, der eine Wurst geklaut hat, verfolgt von einem dicken Ordnungshüter mit Tschako und gezücktem Säbel.

Nach Plinius dem Älteren liegt der Ursprung der Bildenden Kunst in der Umrisszeichnung, die das Mädchen Dibutade vom Schatten ihres Liebsten als mnemotechnischen Trick zum Abschied nahm. Damit war die Tür zu einer zweiten Welt geöffnet, die im Schein zwar, doch im Gaukelspiel real erfahrbar, in seinen Höhepunkten selbst noch das Reale zu übertrumpfen vermag, vom Gemälde bis zum Foto, Jahrhunderte Jahre in Spielen, Aufführungsgestellen, dann im Film und TV bis hin zu den Video- und Foto- Inszenierungen der Social-Media-Plattformen unserer Tage.

Was haben Schattentheater und YouTube, Instagram, TikTok über ihren mythischen Ursprung hinaus gemeinsam? Sicher das Leben ihrer Nutzer in einer zweiten Welt. Sicher aber auch die Möglichkeit performativer Teilhabe, des experimentellen Selbstentwurfs, der Selbstermächtigung in dieser. Das spielende Kind lässt die Puppen tanzen. Es macht etwas vor aber lässt sich darin nichts vormachen. Doch die Grenzen sind eng gesteckt. YouTube, Instagram, TikTok bieten wie das Schattentheater im Schein der Freiheit nur kleine Fluchten. Sind es heute Algorithmen, die bestimmen, was wir wollen müssen, bietet das Schattentheater einen kleinen Rahmen, gestanzte Zuschauerlogen rechts und links, in denen wohlgekleidete Infanten sich artig amüsieren. Noch bevor der Vorhang hoch geht und die Umrisse der beigefügten Pappfiguren mittels einer Funzel auf die Leinwand geworfen werden, ist jede Ausgelassenheit im pädagogischen Keim erstickt. Mit welchen Geschichten, Zoten, Spässen mochte dieser Schattenwelt echtes Leben eingehaucht worden sein?

Der Text erschien redaktionell überarbeitet zuerst in Kunst Bulletin Nr. 5/2022

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HASENKÖTTEL UND PEPERONI. Lars Eidinger und John Bock inszenieren Ibsens Peer Gynt an der Schaubühne Berlin. Kollaborationen Teil 9 in der Gesprächsreihe des Kunstforum International von Max Glauner

Unterhosenprogrammheft zur Inszenierung Peer Gynt, Schaubühne Berlin © Schaubühne/Maria Hartmann

Das Theater gilt als Ort künstlerischer Zusammenarbeit par excellence. Es liegt nahe, dass sich die Kunstforum-Reihe Kollaborationen ein weiteres Mal dorthin begibt. Doch kollektive Arbeitsprozesse sind nicht per se künstlerisch produktive Arbeit in dem Sinn, dass jede oder jeder Beteiligte zu Wort, zum eigenmächtigen künstlerischen Ausdruck kommt.

In der Regel walten im Schauspiel, Oper, Konzertsaal oder Jazz-Club hierarchische Produktionsformen unter Leitung einer Regisseurin oder Dirigenten. Die Ausnahme produktiver künstlerischer Zusammenarbeit haben wir, um den unglücklichen Begriff der „Kollaboration“ zu vermeiden, Kollaborativ genannt. Das Kollaborativ erfordert mehr als Materialbeherrschung, Text- und Ausdruckssicherheit, sondern, kurz gesagt, Vertrauen, Offenheit und die Fähigkeit zum Hinhören, Responsivität, Hingabe an den anderen.

Um den Kollaborativen weiter auf die Spur zu kommen, wandten wir uns erneut an die Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin, den Künstler John Bock und den Schauspieler-Künstler Lars Eidinger. Ihnen gelang mit Peer Gynt. Ein Taten-Drang-Drama im Februar 2020 eine Ausnahmeinszenierung, die einen Einblick in kollaboratives Arbeiten ermöglicht.

Henrik Ibsens 1867 im Druck erschienenes Werk Peer Gynt. Ein dramatisches Gedicht bot Eidinger / Bock das denkbar geeignete wie vermessene Sprungbrett. Die Verbindung von Sprechtheater und Orchestermusik galt dem 19. Jahrhundert als die ausgezeichnete gemeinschaftsstiftende, kollaborative Kunstform schlechthin. Beethovens 9. Symphonie mit Schillers Ode an die Freude machte 1824 den Anfang, Schumanns Manfred nach Byron folgte 1852, Wagner finalisierte mit dem Ring in Bayreuth 1886. So hatte auch Ibsen für die Uraufführung des bearbeiteten Lese-Stücks Peer Gynt 1876 bei dem Komponisten Eduard Grieg eine Musik bestellt, eine Kooperation, die keine Seite recht befriedigte, doch immerhin die Musik in zwei Suiten und das Schauspiel ungezählte Mal bis heute populär auf den Bühnen hält.

Die Schaubühneninszenierung Peer Gynt bekam 1971 auf dem Scheitelpunkt eines kollektiv-demokratisch geführten Theaters Manifestcharakter: Während die aberdutzend Figuren Ibsens den Darstellerinnen und Darstellern zu tun gaben und dem Publikum Identifikationsangebote, gaben sieben Schauspieler darunter Bruno Ganz, Dieter Laser und Werner Rehm den Gynt, Mitbestimmungstheater unter dem wachenden Auge des Regiepatriarchen Peter Stein, unterstützt von dem Bühnenbildner Karl Ernst Herrmann und den Dramaturgen Dieter Sturm und Botho Strauss.

Eidinger / Bocks Peer Gynt. Ein Taten-Drang-Drama lässt sich unter diesem Horizont als eine verspielte Kampfansage einer jüngeren Generation an eine pseudoegalitäre Machtsetzung der Väter lesen. Das Kollektiv ist unter dieser Lesart zwar auf zwei Akteure geschrumpft, Eidinger der einzige Live-Performer des Abends. Doch deren Energie und Ernsthaftigkeit können es mit den Alten aufnehmen. Die Schaubühnenproduktion ist nicht ihre erste Zusammenarbeit. Eidinger war bereits Darsteller in Bocks Videoarbeiten Hell’s Bells, 2016 und Unheil, 2018, und Bock ist kein Fremder am Theater. Er gestaltete die Spielzeitkampagne der Schaubühne 2019/20.

Wie ist dieser Abend als Kollaborativ zustande gekommen? Das fragten wir nach Weihnachten Ende des letzten Jahres in einem Zoom-Gespräch.

Unterhosenprogrammheft zur Inszenierung Peer Gynt, Schaubühne Berlin © Schaubühne/Maria Hartmann

Max Glauner: KUNSTFORUM International spricht mit John ein zweites Mal über das Kollaborativ. Im Band 273 ging es um die Image-Kampagne der Schaubühne für die Spielzeit 2019–20. Hier geht es um die Zusammenarbeit mit Lars an Ibsens Peer Gynt. Könnt ihr kurz beschreiben, wie ihr zu der Produktion kamt?

John Bock: Lars hatte mich gefragt, ob wir beide das Stück inszenieren wollen. Ich sagte zu. Lars ist ja in dem Schauspielhaus zuhause und kennt sehr gut die Theatermaschine, die strukturiert leckt. Es sollte ein 1-Mann-Stück in einer Objekte-Interdependenz werden. Das Theater funktioniert wie eine Familie im Arbeitsteilungsprozess. Die Werkstätten in der Schaubühne sind sehr professionell. Das Team half mir, die Bühne technisch umzusetzen. So zum Beispiel mussten die Auf- und Abbauzeit der Bühne und Objekte berücksichtigt werden. Ich konzipierte dann einen Fischgrätenmelkstand mit Milchmaschinenkreislauf um einen molligen Kuheuter.

Das war das Zentrum deiner Installation auf einer Drehbühne. Mich hat sie an das Gemälde Max Ernsts, Elephant Celebes, 1921, erinnert. Ein beschützendes und nährendes, aber auch gefährliches Monstrum.

JB: Zuerst hatte ich einen Glaskasten konzipiert. Das stellte zu viel Distanz her. Die Darstellung von Lars wurde zu stark gefiltert. Zu wenig Körperkontakt zum Publikum. Die Wesenspräsenz um Lars als Peer Gynt sollte lichterlohroh flattern. Die Situation sollte eine Gelee-Royal-Gleichung sein. Ich habe dann den Glaskasten verworfen. Am Ende wurde das Euter aus dem Fischgrätenmelkstand entkoppelt, wie im Science-Fiction-Film, und nach oben gezogen. Ganz zum Schluss flutschte Lars kopfüberhängend aus dem Euter und versank im Bühnenboden. Ein Minnesänger kopfüberdenkend, wird hinab in die Ackerfurche gelassen, ein Trostlied für den Hasenköttel auf den Lippen.

Da sind wir beim Hasenköttel-Theorem. Wir kommen darauf zurück. Ich möchte vorher Lars zwei profane Fragen stellen: Wie lange dauerte die Probenzeit? Und wie habt ihr zusammengefunden?

Lars Eidinger: Bei uns war das der übliche Zeitraum, sechs bis acht Wochen. Interessant war, wie wir, John und ich uns begegnet sind. Ich kannte ihn schon lange aus der Ferne und war Bewunderer und Fan. Die Schaubühne hatte mit dem Schauspielhaus Zürich mit Nora eine Kooperation und im gleichen Zeitraum zeigte das Migros-Museum für Gegenwartskunst eine Ausstellung mit einer Arbeit von John, ein riesiges Fass mit Tisch. Das hat mich sehr beeindruckt.Persönlich sind wir uns zum ersten Mal auf einer Kunst-Messe in Berlin begegnet. John hat dort aus einer kleinen Bude mit Vorhang, aus dem ein wildes Ungetüm hervorlugte, Hawaii-Toast auf bemalten Papptellern ausgegeben. Die Leute waren scharf auf den Toast und erst recht auf die John-Bock-Zeichnung. Ich habe mich auch angestellt und bekam, da er mich offensichtlich in Hamlet gesehen hatte, neben einer Zeichnung von einem weinenden John Lennon mit Widmung, auch seine Telefonnummer. Ich habe mich gefreut, Sympathie auf den ersten Blick. Dann kam rasch eine erste Anfrage zur Zusammenarbeit.

JB: Das war 2016 im Rahmen der TV-Show Aspekte. Danach Ende 2016 kam der Western Hell’s Bells, in dem Lars neben Bibiana Beglau die Hauptrolle spielt, und kurz darauf drehten wir zusammen den Mittelalterfilm Unheil, 2018. Ebenfalls 2018 standen wir beide gemeinsam mit der Schauspielerin Sonja Viegener vor Publikum in meiner Ausstellung in der Fondazione Prada.

LE: John ist zwar kein Regisseur, aber er ist sehr theaterverbunden. Er geht oft hin und hat ein Augenmerk auf die Schauspieler*innen. Ausser Hamlet hat er auch Richard III. gesehen.

Du spielst an der Schaubühne beide Titelfiguren.

LE: Genau. Und ich wollte immer Peer Gynt machen. Meine Vision war, ihn als Monolog zu inszenieren, weil das Stück wie ein Traum funktioniert, in dem die Figuren als die inneren Dämonen Peers auftreten. Das hat es auch so sinnfällig gemacht, alle Figuren neben Peer selbst zu spielen. Wenn ich im Traum meinem Vater begegne, begegne ich ihm nicht in Persona, sondern meiner Sicht auf ihn. Als ich John fragte, ob er das Projekt mit mir machen will, hat er sofort „Ja“ gesagt.

Die Initiative zu Peer Gynt ging von Dir aus?

LE: Ja, ich wundere mich manchmal, wie es dazu kommt, bestimmte Rollen auszusuchen. Ich suche nicht nach ihnen. Sie drängen sich mir auf. Dann habe ich eine Ahnung, dass mir das Stück etwas erzählt, das sich mir noch nicht erschlossen hat. Bei Ibsen eine Welterfahrung und Selbsterkenntnis, die man in der Auseinandersetzung gewinnen kann.

Unterhosenprogrammheft zur Inszenierung Peer Gynt, Schaubühne Berlin © Schaubühne/Maria Hartmann

Kollaborative funktionieren nur über ein Drittes. Hier das Drama Peer Gynt. Inwieweit hat die Schaubühnen-Inszenierung von 1971 bei Euch eine Rolle gespielt?

JB: Wir haben uns die Dokumentationen dazu angeschaut. Ästhetisch war sie jedoch nicht unser Ding.

LE: Peer Gynt war eine Inszenierung der Schaubühne im Rahmen des Mitbestimmungsmodells. Wir sind 1999 mit dem gleichen Ideal angetreten und rasch gescheitert. Bis heute traumatisiert mich, dass es sich als Utopie erwiesen hat. Besetzungsgerechtigkeit, Mitbestimmung in der Spielplangestaltung, transparente Gagen – das war nicht umsetzbar.

Eine Idee von Theater ist ja eine Gesellschaft in der Gesellschaft. Es kann auch als gesellschaftlicher Gegenentwurf verstanden werden. Im Grunde sind wir an uns selbst gescheitert. Mein Eindruck war, dass es wider unsere Sozialisierung ist, eigenverantwortlich zu handeln oder zu gestalten. Das Amt des Ensemblesprechers rotierte regelmäßig. Ich erinnere mich, als ich die Aufgabe innehatte und von einem älteren Kollegen vor einer wöchentlichen Vollversammlung angesprochen wurde: „Worüber reden wir denn heute?“ Ich dachte nur, sag Du es mir! Wir sind nicht gewöhnt, in einer Versammlung zu sagen, wir wollen über das oder jenes reden. Wir sind immer darauf angewiesen, dass uns eine Autorität sagt, was als nächstes geschieht.

Das war dann auch der Grund, warum ich auf John zugegangen bin. Ich bin geprägt, dadurch, wie an der Schaubühne inszeniert wird. Ich hatte aber eine Sehnsucht nach etwas, was keiner vordergründigen Logik folgt oder zu akademisch ist, vielleicht „künstlerischer“. Als Überschrift habe ich damals ein Zitat von Ibsen gewählt: „Die Vernunft ist tot, es lebe Peer Gynt!“ Das war der Moment, in dem John ins Spiel kam. Es war instinktiv – rückblickend ist das aufgegangen. Ich erinnere mich so gerne an die Probenzeit zurück.Das war sehr eigen und befreiend. Es hatte etwas Anarchisches. John hat einen sehr eigenen Zugang gefunden. Er hat nicht versucht einen Regisseur nachzuspielen, oder dem gerecht zu werden, was ich vermeintlich von ihm erwartete. Er hat das wohl gemacht, wie er zeichnet, oder malt oder seine Installationen macht. Er hat nicht wie ein Regisseur im Zuschauerraum gesessen und auf Distanz beobachtet, sondern ist im Raum herumgelaufen, stand beim Spiel ganz oft direkt neben mir, hat mich betrachtet wie eine Skulptur, die er formen und gestalten kann.

Ich verstehe deine Skepsis, was den Begriff „Kollaboration“ angeht; aber hier war es ein schöner, verschmelzender Moment.

Wie hat sich für dich der Probenprozess dargestellt, John?

JB: Es gibt eine Arbeitsteilung, wenn man zusammenarbeitet – aber es muss immer auch etwas Waberndes dazwischen kriechen können. Man stellt sich reziprok auf den Kopf und lässt das ganze Gedankengesäuere aus dem Schädel wieder rausfließen. Die Gedankenmatsche rinnt aus den Augen, verklebt den Blick zum Gedanken. Dann füllt man das Molke-MeMind mit den Gedanken von anderen. Zum Schluss den Modder durchquirlen. Das ist so eine Art Ping Pong, Gehirnwäsche mit Porentief-Rein-Effekt. Dazu gehörte, dass wir, Lars und ich, eine junge Truppe hatten, die die Theater-Rituale auch nicht so gut kannten. Wir waren wie Parasiten an dem Milcheuter dran. Lars inhaliert Material, wie zum Beispiel Heu, Knete und so weiter und seiert den Klumpatsch als Skulptur in den Zuschauerraum. Seine Sprache fließt über die Objekte und das Material und knetet eine Skulpturenvariable, die er den Zuschauern injiziert.

Wir sollten hier auf die Hasen-Exkremente zurückkommen. Was hatte es damit auf sich?

LE: Stichwort „Hasenköttel“. John hat zu Beginn gesagt, er platziert hinter der Bühne ein paar Hasenköttel, die aber für den Zuschauer nicht sichtbar sein werden. Das habe ich von John gelernt, den Wert des Unsichtbaren zu schätzen. Gerade in einem Ort wie dem Theater, wo es doch vor allem um das Sichtbarmachen geht.

Es gab am Anfang zwei große Missverständnisse, die sich dann aber sehr produktiv aufgelöst haben. Zum einen dachte John zuerst, dass wenn ich etwas auf der Probe spiele, heißt das, dass es dann genauso auf der Bühne stattfinden soll. Es ist vielmehr ein Ausprobieren, ein Skizzieren. Im Theater nennt man das ein „Angebot“. Es ist aber nie als Ergebnis gemeint.

Eine Peperoni zu nehmen, sie aber als Zwiebel zu bespielen, ist im Grunde bezeichnend für unsere Herangehensweise und die Essenz des Theaters im Allgemeinen. Theater ist Behauptung und Peer Gynt „The Great Pretender“. — Lars Eidinger

Das zweite Missverständnis war, dass es den Melkstand gab, der durch Holzlatten markiert wurde und keine Kostüme. Ich habe mir dann irgendetwas zusammengesucht und mehr oder weniger mein eigenes Kostüm zusammengestellt. Damit konnte John überhaupt nichts anfangen, weil er dachte, das sei mein endgültiger Entwurf und er hat nichts mehr zu sagen. Am nächsten Tag lag ein Berg Kostüme auf der Bühne. Das war ein wunderbar beglückender Moment.

JB: Es gibt viele kreative Missverständnisse, denen man sich annähert. Aber das ist ja gerade der Nährboden für eine gute Ernte. Man muss allerdings auch bereit sein, aus seinem Koppel-Kopf herauszutreten und das, was man vorgedacht hatte, in den Gulli zu kippen.

LE: Ja, John ist jemand, der wirklich anders denkt, bei dem Diskussion und Reibung zu etwas Neuem führen. Dabei beharrt er nicht auf seinem Standpunkt, sondern ist als Künstler immer in Bewegung und geht auf den anderen ein. Dadurch hat er ein großes Spektrum. Für Schauspieler*innen gibt es nichts inspirierenderes als Regisseur*innen, die sich für sie begeistern können. John hat große Freude an der Betrachtung. Das ist der ideale Zuschauer.

JB: Der Schauspieler steht an erster Stelle. Er ist der Kern. Um ihn kreisen Objekte, Material und Raum, die Lars mutieren lässt. Er verfolgt das Ziel der Summenmutation. Die Leute versuchen das einzuordnen und fragen, wo bleibt denn da der Ibsen? Ist das jetzt Theater, Performance, Kunst? Wir versuchen durch eine verschmierte Summenmutation zwischen Sprache, Objekt und Schauspieler den Bedeutungshaushalt der Zuschauer zu verdrecken. Also, wir entziehen das dem Bedeutungs- und Verwertungskreislauf. Kollaboration heißt nicht Harmonisierung, sondern auch Entscheidungen tragen – wir haben auch bestimmte Entscheidungen gefällt, ausgehandelt, durchgesetzt und verantwortet. Missverständnis ist das Kreativste, zum Beispiel die Sache mit der Zwiebel.

Die zentrale Szene im letzten Akt. Da lamentiert der Protagonist: „Du bist kein Kaiser; du bist eine Zwiebel. / Jetzt will ich dich einmal schälen, mein Peer! / Es hilft dir nichts, stöhnst du auch noch so sehr. (Nimmt eine Zwiebel und pflückt Haut um Haut ab.)“

JB: Ja, wir hatten keine Zwiebel zur Hand. Also nahm Lars die Peperoni aus der kleinen Kopf-Bühne der vorangehenden Szene und sprach kauend mit Feuersprache den Zwiebel-Monolog. Also das ergab tränende Augäpfel in Feuersprache eingelegt.

LE: Eine Peperoni zu nehmen, sie aber als Zwiebel zu bespielen, ist im Grunde bezeichnend für unsere Herangehensweise und die Essenz des Theaters im Allgemeinen. Theater ist Behauptung und Peer Gynt „The Great Pretender“.

Lars Eidinger als Peer Gynt, Foto: Benjakron

Peer Gynt. Ein Taten-Drang-Drama von John Bock und Lars Eidinger wird an der Schaubühne am Lehniner Platz wieder gespielt am 10.–16. März 2022 http://www.schaubuehne.de

Lars Eidingers Arbeiten werden in der Paarung mit nieder ländischen Genreszenen und Malerei von Stefan Marx in der Ausstellung „Klasse Gesellschaft“ in der Hamburger Kunsthalle gezeigt, bis 27. März 2022 http://www.hamburgerkunsthalle.de / ausstellungen / klasse-gesellschaft

John Bock ist aktuell in folgenden Sammlungspräsentationen zu sehen: Boijmans Museum, Rotterdam; Museum Abteiberg, Mönchengladbach; im Kunstmuseum Bonn wird Unheil, (Installation mit Video) ab 8. Mai gezeigt; dazu ist er auf der KölnSkulptur #10 vertreten

Das Gespräch erschien zuerst in Kunstforum Inernational Band 280, Köln 2022, S.305-315

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Öffentliche Züchtigung | Paralipomenon XXIII – Eine Zürcher Brunnenfigur verweist auf Herrschaftsregieme der Gewalt in kleinbürgerlichen Idyllen

Enge Gassen, verwinkelte Häuser, lauschige Plätzchen, kein Mensch unterwegs. Nur hinter den Gardinen rauscht es verschwiegen. Biedermeieridyll noch im 21ten Jahrhundert, wohin man blickt. Wohl an keiner Stelle zeigt sich Zürich so verschlafen und geborgen wie in seiner Neustadt, die hinter dem Münster an Schlosser-, Franken-, Trittligasse gelegen, zur historischen Altstadt gehört.

Prügelnde Brunnenfigur in der Zürcher Neustadt, 16.Jahrhundert, Replik

Doch was da heimelig und traut hinter den Gardinen dieser Stadt auch und vor allem an Über- und Verkommenem vorkommen mag – man mag es eigentlich nicht wissen – wird der aufmerksamen Besucherin, dem aufmerksamen Besucher dieses Viertels, hier heisst es «Quartier», bei näherem Besehen aufdringlich vor Augen geführt. Freilich, ohne dass bisher irgendein bilderstürmerisches Auge davon Notiz genommen hätte.

Wir sprechen von einem einnehmenden Plätzchen, das mittendrin an der Neustadtgasse gelegen, mit einem Brunnen zum Verweilen einlädt. Aus dem plätschernden Geviert ragt eine Säule in den blauen Himmel, auf der eine undeutlich sich gegen das Himmelblau und seine Sonne sich abzeichnende Gestalt, eine Figurengruppe bei angestrengtem Fixieren sich abzeichnet: Eine gebeugte koboldhafte Figur mit Bart in wilder Fellbekleidung schwingt mit der rechten Hand einen herkulischen Knüppel auf das Hinterteil einer kleinen, nackten unter dem Peiniger bitter schreienden Gestalt, während die Linke des Peinigers einen Sack wie zur endgültigen Liquidierung seines Opfers in der Hand hält.

Wahrscheinlich ist, dass die Figurengruppe eine neuzeitliche Nachgestaltung einer verlorengegangenen älteren Skulptur, anzunehmen aus dem 16. Jahrhundert, darstellt, ein Umstand, der das Ganze nur umso schauriger macht, als der demonstrativ strafende Flagellantismus für Wert befunden wurde, in folgende Generationen mahnend verewigt zu werden.

Passt die drastische Szene zur umgebenden Kleinbürgerkulisse? Zur Zuhausewohligkeit des urbanen Gefüges, das uns Geborgenheit über Dezennien hinweg suggerieren will? Es kommt auf die Perspektive an.

Zum einen taugt er zum folkloristischen Dekor. Karnevalesker Exzess bricht sich in seiner Affirmation augenzwinkernd Bahn, wo sonst calvinistischer Regelvollzug den Alltag diktiert. So lauert hinter den tourismusgeputzten Fassaden seit ehedem verlogene Verschworenheit und Niedertracht im Zeichen des niederträchtigen, doch nach wie vor tolerierten Patrons auf der Brunnensäule

Er steht damit zum anderen, für eine irrationale, nicht begründbare väterliche Gewalt und daraus resultierende infantile Unterwerfung wie sie in den ritualmächtigen Figuren eines Wilden Mann, eines Schmutz oder Knecht Ruprechts als strafende Begleiter des gütigen St. Niklaus bis heute aufgerufen werden. Die unkalkulierbare paternatale Macht erscheint verbrämt ins Märchenhafte und Anekdotische verdrängt. Doch in ihnen wird ihre instantane, irrationale, illegitime Gewalt legitimiert und subkutan perpetuiert. Warum hat man die Brunnenfigur wohl stehen lassen?

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Grosse Begegnung. Die Künstlerin Jenny Holzer kuratiert grafische Arbeiten und Skulpturen der Künstlerin Louise Bourgeois im Kunstmuseum Basel.

Mona Lisa? Leonardo da Vinci. Zerfliessende Uhren? Salvador Dali. Rot flimmernde LED-Schriftbänder? Ja, Jenny Holzer. Und gigantische, mega-gruselige Spinnen in Bronze? Auch das haben Sie erraten; Louise Bourgeois. Vor ein paar Jahren konnten wir in Zürich so ein Monster am Bürkliplatz bestaunen. Es hiess «Maman» und zog die Massen an.

Die beiden Frauen, Holzer, Jahrgang 1950, und Bourgeois, 2010 98-jährig verstorben, gehören zu den ganz Grossen im nach wie vor männerdominierten Kunstbetrieb. Sie zählen zu den wenigen Künstlerinnen, denen es gelang, nicht nur globale Bekanntheit sondern auch absolute Unverwechselbarkeit zu erlangen.

Nun treten sie also gemeinsam im Basler Kunstmuseum an. Nach der POC-Künstlerin Kara Walker im vergangenen Jahr ist damit wieder von einem Coup des Direktors Josef Helfenstein und der Kuratorin Anita Haldemann zu berichten, die klug und mit strategischem Kalkül mit Werken, die häufig als die Resteecke des Kunstbetriebs betrachtet werden – Arbeiten auf Papier -, eine grosse und grossartige Show ausrichten.

Natürlich, Louise Bourgeois, erst im Alter anerkannt und geschätzt, ist inzwischen zu einer sicheren Bank geworden. Ihr Werk ist sehr bekannt und in unzähligen Ausstellungen präsent. Und Jenny Holzer? Ihre Botschaften, projiziert auf Leuchtbändern in Installationen, im Museum, vor allem aber im öffentlichen Raum, gehören als Vorboten einer digitalisierten Medienkultur längst zu den Klassikern der Kunstgeschichte.

Ein solches Gipfeltreffen generiert Aufmerksamkeit und dürfte – Win-Win-Situation für Museum, Galeristen und Nachlassverwerter – Fama und Marktwert der Künstlerinnen mehren. Doch was gewinnt das Publikum? Holzer und Bourgeois, das scheint ein gewaltiger Widerspruch!

Bei Holzer spult sich eine mechanisch unterkühlte Appell-Maschine ab, mindestens auf den ersten Blick. Bei Bourgeois werden mit Leidenschaft und Exzess seelische Abgründe ausgelotet. Alles ist bei ihr körperlich: Hände, Brüste, Schwänze, Figurinen bevölkern Grafiken, Gemälde, bestickte Textilien und Skulpturen oder scheinen von der Künstlerin aus schlimmsten Albträumen direkt in reale Gitterkäfige gehängt zu werden. Bourgeois und Holzer: Einer Chaotikerin steht die Destilliererin gegenüber, der Materialschlacht formale Reduktion.

Suchen wir nach Gemeinsamkeiten, so findet sich diese allenfalls in der Lust am Text, am verdichteten Spruch, an einer Meme, auf Papier gebracht oder an eine Hausfassade. «Truisms» hat Holzer ihre Sprüche einmal genannt. Als Textbildfindungen machen sie heute in den sozialen Medien Karriere. Eine Woche lang werden fünf Textbilder im Basler Stadtraum projiziert und auf einem LED-Fries am Kunstmuseum erscheinen. Die Texte werden jedoch nicht von Holzer sein, sondern aus dem reichen Spruchfindungs-Schatz von Bourgeois stammen. Holzer tritt in Basel demütig hinter die Grande Dame der Moderne zurück. Im Innern des Kunstmuseums sind ausschliesslich Werke von Bourgeois zu sehen.

Etikettenschwindel also? Mit Nichten. Holzer ist als Kuratorin mit einer Dirigentin zu vergleichen, die ein Werk zum Klingen bringt, ohne selbst ins Horn zu blasen. Was wir hier zu hören und sehen bekommen ist denn auch nicht nur anrührend. In seinen Gegensätzen und Übergängen von Zärtlichkeit und Obszönität, Zuwendung und Härte, Härte und Geborgenheit – und von dort zu Isolation und Einsamkeit ist es atemberaubend.

Dabei trifft Holzer nicht nur eine kluge Wahl aus allen Schaffensperioden von Bourgeois, sondern weiss diese in den hohen Sälen des Kunstmuseums auch klug zu orchestrieren. Mit unbändiger Zeigelust und viel Gefühl für die (arg hohen) Räume richtet Holzer – eben auch Szenografin – ihr Seh-Spiel ein. Mal wuchern die Bilder wider die Gepflogenheiten bis unter die Decke, mal ordnen sie sich in ordentlichen Symmetrien und thematischen Clustern. Sie folgen nach einem ersten Raum zum Frühwerk keiner strikten Chronologie oder thematischen Ordnung mehr. Nur die Musikalität des Blicks zählt. Das befreit und macht Lust zum Hinsehen, Selbersehen.

Zwar bildet der Ausgangspunkt der Ausstellung das grafische Werk. Aus dem Centre Pompidou ist zum Beispiel der beeindruckende Radier-Zyklus «Extreme Tension», 2007, nach Basel gekommen. Doch Holzer setzt auch gewitzte Kontrapunkte aus dem plastischen Werk, für das Bourgeois bekannt ist. So wird die unheimliche Vaterhölleninstallation «The Destruction of the Father», 1974, als optisch-intellektuelles Scharnier platziert. Für sie hat Holzer auch eine Augmented-Reality-Smartphonapp gestaltet, mit der Bourgeois Inszenierung im digitalen 21. Jahrhundert ankommt und vom Publikum überschrieben werden kann. Auch nicht zu übersehen und überhören: Die phallische Kolben-Maschine «Twosome», 1991, im Tunnel zwischen Alt- und Neubau im Keller. Für introvertierte Nabelschau war Bourgeois nie zu haben. Attacke! Lautete ihre die Devise.

Es hat in den letzten Jahren viele Ausstellungen zu Louise Bourgeois geben. In keiner sind wir ihr – und wohl auch ihrer Dirigentin und Szenografin Jenny Holzer – so nahegekommen.

Zuerst veröffentlicht in redaktionell überarbeiteter Fassung online auf Republik.ch am 18.02.2022

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Nachtgedanken. Max Beckmann/Friederike Feldmann in der Staatlichen Graphischen Sammlung der Pinakothek der Moderne

Gezeigt wird in der Ausstellung Max Beckmann/Friederike Feldmann. Nachtgedanken in den hohen Ausstellungsräumen der Staatlichen Graphischen Sammlung München nicht viel. Doch das Wenige, das zu sehen ist, verschlägt einem den Atem. Da sind drei Zeichnungen des Ausnahmekünstlers Max Beckmann in Bleistift, Tusche, Kreide und eine Auswahl Zeichnungen, Aquarelle und digital bearbeitete Fotografien Friederike Feldmanns, die in einem gefühlt unendlichen Korridor in 2 x 6 Vitrinen rechts und links präsentiert werden, gleichsam die Back-Stage-Auslage des Making-Off der Nachtgedanken.

Friederike Feldmann, Nachtgedanken, Installationsansicht Foto: Max Glauner

Am Ende des Korridors reisst der Raum auf und die Besucherin, der Besucher steht in einem hohen Saal mit sakraler Anmutung. Die Wände, strukturiert durch grosse, grau abgesetzte weisse Flächen beginnen mit einfachsten malerischen Mitteln zu tanzen. Dahinter schliesst sich ein weiterer, etwas kleinerer Saal an, an dessen Stirnwand eine monumentale scherenschnittartig-abstrakte, monochrome Figur sich türmt und spreizt, auseinanderzufallen droht und doch in einem labilen Gleichgewicht gehalten wird. Eine frühe Tuschzeichnung Beckmanns, ein Selbstportrait 1902, findet sich verloren im ersten Saal, im zweiten dominanter, eine Kreidezeichnung Spiegel auf einer Staffelei aus dem Jahr1926. Das war’s. Doch mit der Inventarliste ist wenig gesagt.

Die Münchner Pinakothek der Moderne besitzt eine einzigartige, neben dem Saint Louis Art Museum die umfangreichste Sammlung Max Beckmanns, einem der eigenwilligsten und bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Ein, wie es immer wieder tönt, Titan der Kunstgeschichte.

Nachdem der Unangepasste in den 1980er-Jahren mit zahlreichen Retrospektiven in Erinnerung gerufen wurde, ist es heute um ihn etwas still geworden. Stehen wir vor einem Revival? Der Leiter der Staatlichen Grafischen Sammlung München Michael Hering mag sich so etwas gedacht haben und rief eine Ausstellungstrilogie ins Leben, Einladungen an zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler, die sich mit dem Bestand an Beckmann-Grafiken der Staatlichen Sammlung auseinandersetzen sollen.

Max Beckmann, Spiegel auf einer Staffelei, 1926, Inv.-Nr. 1979:67 Z © Staatliche Graphische Sammlung München, München

Das ist eine Herausforderung. Denn man stellt seine Arbeit ins prüfende Licht eines kunsthistorisch abgesicherten Grossmeisters. Den Auftakt machte im vergangenen Winter der israelische Videokünstler Omer Fast.

Wird die Herausforderung zur Zumutung, wenn, wie im Fall Friederike Feldmann, eine zeitgenössische Malerin zur Begegnung mit Beckmanns Werk, wenn auch «nur» dem grafischen, aufgerufen wird? Tatsächlich begegnen sich Beckmann und Feldmann auf demselben Feld, den klassischen Bildenden Künsten, Malerei und Grafik. Ihre Waffen, ihre Mittel jedoch sind grundverschieden. Damit wird die Begegnung fruchtbar.

Im Gegensatz zu Beckmann kennt Feldmanns Malerei keine Staffelei, kein Tafelbild, auch aus Renitenz gegenüber einer männerdominierten Tradition und dem lähmenden Anspruch des zeitlosen Meisterwerks. In frühen Jahren hat sie sich ironisch als Teppichhändlerin bezeichnet. Ihre erste bekannte Werkserie aus der Mitte der 1990er-Jahre bestand aus illusionistischen Ölgemälden. Sie zauberte pastos im Massstab verkleinerte Orient-Teppiche, später miniaturisierte Barockaltäre oder den Schiefen Turm von Pisa an Wände ihrer Auftraggeber. Isfahan 1 + 2 (1995/96) überdauerten auf Holz gemalt. So sehr Wandmalerei für die Ewigkeit gedacht scheint, wir dürfen an Giotto oder Michelangelo denken, ist sie mit dem Eintritt in die Moderne doch ephemer und unterläuft den heteronormativen Anspruch von Kunst. Die Künstlerin blieb dabei auf die Wand zu malen, im Bewusstsein, ihre Arbeit würde nach Ablauf einer Ausstellung wieder verschwinden und nur in Dokumentationen und in der Erinnerung ihres Publikums fortdauern.

Max Beckmann, recto: Selbstbildnis 1902; Inv.-Nr. 1984:28 Z © Staatliche Graphische Sammlung München, München

Feldmann verlässt in ihrer malerischen Entwicklung die mimetische Abbildung und entwickelt eine eigene Bildsprache, die sich trefflich als illusionistischer Konzeptualismus bezeichnen lässt. Illusion erzeugt nun nicht die Mimesis, die illusionistische Teilmenge von Bild und Gegenstand, sondern die Inszenierung der Übergänge von Wand und Fläche zur Figur, von Malerei zur Zeichnung und von dort weiter zu Linie und zeichnerischen Gesten, die an Schrift erinnern, wie in brico, 2017, in der Hamburger Kunsthalle, oder Headlines 2019 im Berliner Ausstellungsraum Kindl.

Mit diesem Repertoire im Köcher hält Feldmann Beckmann souverän auf Distanz. Und schon der erste Saal, ein Tabula rasa sondergleichen, ist Verweigerung mit Kampfansage, ein Spiel mit Auge und Verstand. Die acht weissen Flächen sind in den Seiten verzogen und aus dem Lot gekippt und führen durch diesen malerischen Trick ein performatives Eigenleben. Doch sie sind nicht wie es scheint, auf einen grauen Hintergrund getüncht, sondern die nackte Wand selbst, ihre grauen Schatten-Ränder mit Dispersionsfarbe und Rollpinsel erzeugte Trompe d’Œiles, Kunststücke der Augentäuschung.

Beckmanns Geschichte ist auch eine Geschichte der ungemalten Bilder. Er verbietet seiner ersten Frau «Mink», das Malen, die daraufhin das Singen beginnt, und seiner zweiten Frau «Qappi», die nicht malt, aber professionell singt, auch das Singen. Bei Google sind zwar viele Portraits der beiden abrufbar. Nach Arbeiten von Mink, die nach der Scheidung von Beckmann die Stimme verliert, aber wieder zu malen beginnt, sucht man vergeblich.

Friederike Feldmann, Nachtgedanken, Installationsansicht Foto: Max Glauner

Wer will, kann Feldmanns Intervention auch als Platzhalter für die nicht gemalten Bilder der Kunstgeschichte verstehen, ihre Entscheidung, Beckmanns dämonisch-düsteres Tusch-Portrait ikonisch in diesem Raum zu platzieren, auch als Mahnung, Vorbilder zu Göttern zu hypostasieren. Oder als Ansporn es den Vorbildern gleichzutun. Dafür steht ihre monumentale Wandarbeit Nachtgedanken, die der gesamten Schau, den Namen gegeben hat. Nach der Tabula rasa des ersten Saals setzt Feldmann hier strategisch die Appropriation. Aus Grafiken und Gemälden Beckmanns wählt sie ein Ensemble von Requisiten, Schwert, Vase, Muschel, Champagnerglas, Vase und bläht sie auf und verschiebt die monströsen Negativ-Ausschnitte zu einer abstrakten Figur, die in der Illusion von ausgeschnittenem und an der Wand befestigtem Karton oder Papier ihr Spiel von Grund und Fläche spielt. Das Kerngeschäft des Malers ist Täuschung, Illusion. Das führt Feldmann mit Bravour vor und öffnet mit diskreten Gesten Augen und Verstand, einen Seh-Raum, einen Denk-Raum, der Richtungen angibt, doch abschliessende Antworten, ein Urteil verweigert. Das befreit.

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HOCHAMT AM RHEINKNIE. Die Art Basel post-pandemisch

English version below

Großes Aufatmen bei der Art Basel. Die Corona-Pandemie hat dem Kunstbetrieb nichts anhaben können. Das Online-Business half über wirtschaftlichen Untiefen. Vom Prekariat vieler Galerien und ihrer Künstler*innen war wenig zu spüren – dafür trat die subkutan religiöse Tauschlogik des Kunstbusiness deutlich an die Oberfläche.

Bedrohlich schwebt das Ding unter der Hallendecke der Art-Unlimited. Es trudelt, taumelt, stürzt. Eine Bombe? Eine „Little Boy“, die wenn nicht zur endgültigen Vernichtung der Menschheit, so doch der Unlimited-Besucherinnen und Besucher am exklusiven Eröffnungstag der Art Basel ansetzt? Bevor die Fantasie Raum greift, tanzt die rot-schwarze Stahlwanne mit Türmchen von Geisterhand nach oben und entpuppt sich als Boje, die irgendwo einen Schifffahrtsweg markierte und nun von Theaterstrippen gezogen, in der Messehalle 1 am Rheinknie stürmische See simuliert. Die Mimik der Tethys (2018/2019) ist eine Arbeit des Konzeptkünstlers Julius von Bismarck, Jahrgang 1983, die auch eine höhnische Grimasse zu Untiefen, Unsicherheit, Unberechenbarkeit, kurz, der Volatilität des Kunstbetriebs reißt.

Die Mimik der Tethys (2018/2019), Julius von Bismarck, Foto: Max Glauner

Die Art Basel, das sind in diesem Jahr 272 Aussteller in den Kojen der Messehallen 2.0 und 2.1, kaum weniger als bei der letzten vor zwei Jahren. Und es gibt seit 2000, als der Kunsthandel in grenzenlos manische Höhen stieg, die Unlimited in Halle 1, und in diesem Jahr unter demselben Dach den renommiertesten Kollateralevent mit 81 jungen Galerien, die Liste Art Fair Basel, die aus Termingründen ihren charmanten Sitz in der Warteck Brauerei nicht einnehmen konnte, nun aber einen Professionalisierungsschub hinlegte, der ihr das Genick brechen kann.

Die Unlimited blieb über die Jahre die museale Leistungsschau der Art Basel und geht über die Funktion einer Verkaufsausstellung hinaus. Hier präsentieren sich die großformatigen Arbeiten, die in den Messekojen keinen Platz finden, von einer Jury ausgewählt und kuratiert, in diesem Jahr von dem St. Galler Kunsthallenleiter Giovanni Carmine. Damit ist die Unlimited für sieben Tage bei aller Megalomanie ein demokratisches Forum und längst eine der eindrücklichsten Shows zeitgenössischer Kunst weltweit. Die Corona-Krise kam der Unlimited und der Kunst entgegen. Statt Kunstgigantismus und Glam-Kitsch, ließ man sich in diesem Jahr mehr auf die Werke, ihre Bezüge und Dialoge untereinander ein.

Die Bandbreite der gezeigten Kunst steckte Carmine schon zum Auftakt ab: Rechts mit einem begehbaren Trocken-Brot-Hexenhäuschen aus der Hand des Schweizer Großkünstlers Urs Fischer, das über die Messetage auf Perserteppiche vor sich hin bröseln durfte; wir können darüber sinnieren, ob damit ein Brot-für-die-Welt-Appell verbunden war, oder eine Mahnung zum Maßhalten in umständehalber mageren Messetagen. Links dann ein kubisches Raumgehege aus Stahlstangen und transparenten Stoffbezügen als Wände, die mit der Architektur an die Fondation Beyerle und Post-koloniale Diskurse erinnern wollte, The Hunter’s Dream, (2020-21) des in Lissabon lebenden Venezolaners Juan Araujo. Affirmation oder Kritik? So ganz auszumachen war das bei Araujo nicht. Und in der Mitte? Bilderflut mit Le Soleil Toujours, 2020 der sechsundneunzigjährigen Etel Adnan, bunt und lebensfroh auf einer Keramikfließenmauer und zum medialen und generationellen Kontrastprogramm eine 9m lange und 3m hohe LED-Wand mit integrierten analog gemalten Bildern des Österreichers Philipp Timischl, Jahrgang 1989.

AA Bronson (links) wird von einer Kuratorin vor einem Werk des Kollektivs General Idea fotografiert, Foto: Max Glauner

Es wäre nun von vielen intellektuell anregenden und emotional berührenden Arbeiten zu berichten. Meleko Mokgosis bildgewaltiger Zyklus Bread, Butter, and Power (2018) zum Beispiel. Der in Botswana geborene Maler entwirft irritierend schöne Bilder der Schwarzen Befreiungsgeschichte. Der Japaner Ryoji Ikeda in seiner erhabenen Video-Soundinstallation data verse 3 (2021) saugt uns in Digitalgewittern vom Mikro- in den Makrokosmos der Datenerfassung und ebenso sprachlos stehen wir vor der monochromen Farbfeldmalerei des Koreaners Chong-Hyun Ha, Jahrgang 1935, Conjunction 18-201 u. 18-202 (2018).

Doch gab es irgendeinen Niederschlag der Corona-Krise? In den Gesichtern und Geldbeuteln der Aussteller, ihrer Kunden, in der Kunst? Nein, nicht wirklich. It Must Have Been a Tuesday (2020) des 1975 geborenen mexikanischen Künstlers Mario García Torres reihte in der Unlimited für jeden Shut Down-Tag 164 durch die Fehlfunktion des Fotokopierers aus der Information „Temporarily Closed“ zunehmend abjekte Bildformen aneinander. Und die performativen Inflate-Bubbels, Tears der Künstlerin Monster Chetwynd auf dem Messeplatz mochten als heiter visualisierte Corona-Bubble gedeutet werden.

Nein Corona war kein Thema. Eher nebenbei, subkutan in den 3G-Choreografien und Ritualen, die den sekularisiert-religiösen Charakter der Veranstaltung zutage treten ließen. Auch wenn am zweiten Tag der Besucherstrom deutlich abebbte, waren die Aussteller mit dem ersten derart zufrieden, dass Mark Spiegler, der Kurienkardinal der Art Basel vor Zufriedenheit platzte: „Das Onlinegeschäft lief 2020 gut. Das hat manche über die Krise gerettet. Aber Kunst braucht die Begegnung.“ Wer kam? Wohl eher Sammler und Kunden aus dem europäischen Raum, kleinere Budgets die mit kleinteiliger Ware gelockt wurden. Viele arrangierten sie wie Hauser & Wirth in Wohnzimmersets, wo ein Ölbild Dieter Roths wunderbar mit einer Louise Bourgeois-Kleinplastik harmonierte. Schließlich stehen sie dafür, dass etwas das Moment des flüchtigen Großbürgerglücks überdauert und als bleibende Kunde und Wert in die nächste Generation getragen wird. In jedem Kunstwerk mag es noch so gering erscheinen, steckt dergestalt ein Heils- und Ewigkeitsversprechen.

Kunst und ihr Drumherum ist seit langem, sagen wir spätestens mit der Gründung des Kölner Kunstmarkts 1967, der Art Cologne, oder anders gesagt, mit dem Eintritt in die Post-Moderne an die Stelle kirchlich-religiöser Glaubens- und Handlungsangebote getreten. Warenmesse und Heilige Messe teilen ihren Ursprung im Liturgischen „ite, missa est“, dem „Gehet in Frieden“, der Aussendung jener, die der Sakramente teilhaftig geworden sind. Die Rezeption und erst recht der Besitz eines Kunstwerks tritt anstelle der Eucharistie, der Teilhabe an der Transformation von Brot und Wein in Blut und Leib Christi. Mit Gründung der Art Basel 1970 verlegt sich der Omphalos der ästhetischen Glaubensgemeinschaft, wesentlich aus einer global präsenten Kapitalelite rekrutiert, ökonomisch und ökologisch in den Folgejahren zunehmend rheinabwärts.

Solange also die neo-liberaldemokratischen Gesellschaften nicht in haitianische Verhältnisse stürzen oder in neofaschistische Oligarchien kippen, in denen die Geschmacksdiktaturen eines Trump, Orban, Lukaschenko regieren, werden die glücksversprechenden Wallfahrsorte aufgeklärter Ästhetik Venedig, Kassel, New York heißen. Deren Zentrum in jährlicher Wiederkehr Basel. Eine Corona-Krise wirkt da nur stabilisierend, da auf der Messe die Regeln der kapitalgesteuerten, christlich-jüdisch fundierten Zivilgesellschaft in ihren Tauschverhältnissen und Begegnungen demonstrativ eingeübt und gezeigt und Zugangsbestimmungen, In-and-Out, an der sichtbaren Oberfläche durch Impfzertifikate und Maskenregeln bestätigt werden können.

Die Missa solemnis, das allfällige Hochamt zur Messe fand dann auch erwartungsgemäß in gebührender Distanz zum Messeplatz im Basel-Ländlichen Schaulager in Münchenstein statt. Dort residiert in einem mittlerweile durch Kultur und Bildung aufgepeppten Industriegebiet die private Laurenz-Stiftung der Pharma-Erbin Maja Oeri in einer von den Basler Architekten Herzog & De Meuron erstellten Kaba. Das Haus das auch als Katafalk für den früh verstorbenen Sohn der Stifterin, Laurenz, verstanden werden muss, lud in diesem Jahr nicht zu einer Ausstellung, sondern der Tendenz den Performative Arts, dem Event im Rahmen der Visual Arts Raum zu geben zu Catasterism in Three Movements, eine 90-minütige Tanz-Objekt-Orchester-Aufführung im Erd- und Sockelgeschoss des Gebäudes. Als Oberpriester und Zeremonienmeister des Abends konnte Matthew Barney und sein Hauskomponist Jonathan Bepler gewonnen werden. Die stille Prozession der Kunstwelt-Auserwählten in den leeren Schaulagerhallen finalisierte sich in einem Orchesterwerk, das durch die Basel Sinfonietta allein schon durch das Setting beeindruckend zur Uraufführung kam. Nur ein Bild erhabener Natur des U.S.-amerikanischen Malers Albert Bierstadt, Sierra Nevada (1871-73) und verstreute Objekte Barneys blieben, umspielt von drei Performerinnen, übrig. Wen wundert’s? An subkutan sakralen Veranstaltungsmodi und Objektfetischismus war das Publikum schon zuvor eingestimmt. Hier kam der Ritualzauber auf den Punkt.

Zuerst erschienen in Kunstforum International Band 278, November 2021



A HIGH OFFICE AT THE RHINE KNEE. Art Basel Post-Pandemic

A big sigh of relief at Art Basel. The Corona pandemic did not harm the art business. Online business helped over economic shoals. There was little sign of the precarity of many galleries and their artists – but the subcutaneously religious exchange logic of the art business clearly surfaced.

The device hovers menacingly under the ceiling of the Art-Unlimited hall. It trundles, staggers, falls. A bomb? A „Little Boy“ that, if not for the final extermination of mankind, then at least of the Unlimited visitors on the exclusive opening day of Art Basel? Before the imagination takes hold, the red and black steel tub with a turret dances upwards by ghostly hand and turns out to be a buoy that marked a shipping route somewhere and is now pulled by theatrical strippers to simulate stormy seas in Exhibition Hall 1 on the Rhine bend. Mimik der Tethys (2018/2019) is a work by conceptual artist Julius von Bismarck, born in 1983, which also makes a sardonic grimace at shoals, uncertainty, unpredictability, in short, the volatility of the art business.

Art Basel, that’s 272 exhibitors in the booths of exhibition halls 2.0 and 2.1 this year, hardly less than at the last one two years ago. And there has been Unlimited in Hall 1 since 2000, when the art trade soared to boundless manic heights, and this year, under the same roof, the most prestigious collateral event with 81 young galleries, the list Art Fair Basel, which was unable to take up its charming headquarters in the Warteck Brewery for scheduling reasons, but has now gone on a professionalisation spree that may break its neck.

Over the years, the Unlimited has remained the museum showcase of Art Basel and goes beyond the function of a sales exhibition. Here, the large-format works that find no place in the fair booths are presented, selected and curated by a jury, this year by the St. Gallen Kunsthalle director Giovanni Carmine. Thus, for seven days, the Unlimited is, for all its megalomania, a democratic forum and has long been one of the most impressive shows of contemporary art worldwide. The Corona crisis suited the Unlimited and art. Instead of art gigantism and glam kitsch, this year more attention was paid to the works, their references and dialogues with each other.

Carmine marked out the range of art on display right at the start: on the right, a walk-in dry-bread witch’s cottage by the Swiss artist Urs Fischer, which was allowed to crumble on Persian carpets over the course of the fair; we can ponder whether this was an appeal for bread for the world or an admonition to exercise moderation in what are, for reasons of circumstance, lean days at the fair. On the left, a cubic enclosure made of steel bars and transparent fabric covers as walls, the architecture of which was intended to recall the Fondation Beyerle and post-colonial discourses, The Hunter’s Dream, (2020-21) by the Venezuelan Juan Araujo, who lives in Lisbon. Affirmation or criticism? It was hard to tell with Araujo. And in the middle? A flood of images with Le Soleil Toujours, 2020 by the ninety-six-year-old Etel Adnan, colourful and full of life on a ceramic river wall and, as a media and generational contrast, a 9m-long and 3m-high LED wall with integrated analogue paintings by the Austrian Philipp Timischl, born in 1989.

There are many intellectually stimulating and emotionally moving works to report on. Meleko Mokgosi’s visually powerful cycle Bread, Butter, and Power (2018), for example. The Botswana-born painter creates irritatingly beautiful images of Black liberation history. Japan’s Ryoji Ikeda, in his sublime video-sound installation data verse 3 (2021), absorbs us in digital thunderstorms from the microcosm to the macrocosm of data collection, and we stand equally speechless before the monochrome colour-field painting of Korean Chong-Hyun Ha, born 1935, Conjunction 18-201 u. 18-202 (2018).


But was there any fallout from the Corona crisis? In the faces and wallets of the exhibitors, their clients, in the art? No, not really. It Must Have Been a Tuesday (2020) by Mexican artist Mario García Torres, born in 1975, strung together increasingly abject image forms from the information „Temporarily Closed“ in the Unlimited for Every Shut Down Day 164 due to the malfunction of the photocopier. And the performative Inflate-Bubbles, Tears by the artist Monster Chetwynd on the fairground could be interpreted as a cheerfully visualised Corona-Bubble.


No, Corona was not a theme. Rather incidental, subcutaneous in the 3G choreographies and rituals that revealed the secularised-religious character of the event. Even if the flow of visitors slowed down considerably on the second day, the exhibitors were so satisfied with the first that Mark Spiegler, the Curia Cardinal of Art Basel, burst with satisfaction: „The online business went well in 2020. That saved some over the crisis. But art needs the encounter.“ Who came? Probably collectors and customers from the European region, smaller budgets who were lured by small-scale merchandise. Many arranged them like Hauser & Wirth in living room sets, where an oil painting by Dieter Roth harmonised wonderfully with a Louise Bourgeois small sculpture. After all, they stand for the fact that something outlasts the moment of fleeting upper-middle-class happiness and is carried into the next generation as a lasting customer and value. In every work of art, no matter how small it may seem, there is a promise of salvation and eternity.


Art and its trappings have long since taken the place of ecclesiastical-religious offers of faith and action, let us say at the latest with the founding of the Cologne art market in 1967, the Art Cologne, or in other words with the entry into post-modernity. The commodity fair and the Holy Mass share their origin in the liturgical „ite, missa est“, the „go in peace“, the sending forth of those who have become partakers of the sacraments. The reception and even more so the possession of a work of art takes the place of the Eucharist, the participation in the transformation of bread and wine into the blood and body of Christ. With the founding of Art Basel in 1970, the omphalos of the aesthetic community of faith, essentially recruited from a globally present capital elite, shifted economically and ecologically increasingly down the Rhine in the years that followed.


As long as the neo-liberal-democratic societies do not collapse into Haitian conditions or neo-fascist oligarchies ruled by the dictatorships of taste of Trump, Orban, Lukashenko, the promising pilgrimage sites of enlightened aesthetics will be Venice, Kassel, New York. Their centre will be Basel, which returns year after year. A Corona crisis only has a stabilising effect here, since at the fair the rules of capital-driven, Christian-Jewish-based civil society can be demonstratively practised and shown in its exchange relations and encounters, and access regulations, in-and-out, can be confirmed on the visible surface by inoculation certificates and mask rules.

The Missa solemnis, the exultant high mass for the fair, then also took place, as expected, at a due distance from the fairground in the Basel-Ländliches Schaulager in Münchenstein. The private Laurenz Foundation of the pharmaceutical heiress Maja Oeri resides there in a Kaba built by the Basel architects Herzog & De Meuron in an industrial area that has meanwhile been spiced up by culture and education. The house, which must also be understood as a catafalque for the founder’s son Laurenz, who died at an early age, did not invite visitors to an exhibition this year, but rather to the Performative Arts‘ tendency to give space to the event within the framework of the Visual Arts for Catasterism in Three Movements, a 90-minute dance-object-orchestra performance on the ground and basement floors of the building. Matthew Barney and his house composer Jonathan Bepler were enlisted as the evening’s high priest and master of ceremonies. The silent procession of the art world’s chosen few in the empty Schaulagerhallen finalised in an orchestral work that was impressively premiered by the Basel Sinfonietta through the setting alone. Only a picture of sublime nature by the U.S. painter Albert Bierstadt, Sierra Nevada (1871-73) and scattered objects by Barney remained, surrounded by three performers. Who is surprised? The audience was already attuned to subcutaneously sacral event modes and object fetishism. Here the ritual magic got to the point.

The Schaulager Entrance opened for the Hochamt, Foto: Max Glauner

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Sigismund Righini – Schlafendes Kind im Schoss des Thanatos

Der Zürcher Künstler Sigismund Righini (1870-1937) hielt die Grabrede für Ferdinand Hodler. Das markiert das Ansehen des Malers in seiner Zeit. Zwar hatte er unter dem Eindruck der französischen «Fauves» einen freien, koloristisch-fröhlichen Stil angeeignet. Doch nach Hodlers Tod betätigte es sich fast ausschliesslich als Kunstfunktionär. Kurator würden wir heute sagen. Als Freund von Cuno Amiet und Giovanni Giacometti holt er in den 1920-30ern Munch, van Gogh und Picasso ins Kunsthaus. Sein kleines, auf eine Holzfaserplatte aufgezogene Ölgemälde auf Leinwand Schlafendes Kind, datiert auf den 11.12.1900, gehört desungeachtet zu den zeitlos berührenden Bildnissen der Kunstgeschichte.

Sigismund Righini, Schalfendes Kind, 1900

Riginigs Schlafendes Kind betrachten wir heute nicht ohne unwillkürlich an die Pressebilder des Leichnams des syrischen Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi zu denken, der im September 2015 bäuchlings an einen türkischen Badestrand gespült wurde. Die Fotos zeigen ihn zumeist wie das Kind bei Righini in verkürzter Perspektive, die Füsse den Betrachtenden voran. Die abgebildeten Kinder dürften dasselbe Alter haben. Keine drei Jahre alt. Sind die Analogien damit erschöpft? Sehen wir genauer hin.

Wir sehen auf dem kleinen Ölbild im Hochformat von 36 x 28cm, in dem Braun und Ockertöne neben dem Weiss eines faltigen Hemdchens dominieren, ein vielleicht zwei bis dreijähriges Kind in starker Verkürzung mit dem rechten Füsschen uns entgegen auf dem Rücken liegend, während das Linke mit Knie und weissem Kleidchen hinter dem Rahmen rechts verschwinden. Die kompositorische Unordnung rechts besitzt eine Spiegelung im Gegenstand auf der rechten Seite des Bildes: Das zerzauste Haar des Kindes, die betont abjekte Form des Ohrs, die nackte Schulter und schliesslich der verrutschte Ärmel des Nachthemdchens, dem die kleine Hand fehlt. Ist sie hineingerutscht? Oder abgetrennt? Das Kind mit dem grossen Kopf hat die Augen geschlossen. Es scheint zu lächeln und seine gespreizten Beinchen deuten entspannten Schlaf an. Oder ist es tot? Jedes Bettzeug fehlt. Statt Plüsch und Kleinkindplunder definiert konkretes Pinselbraun den unklaren Bildraum und als Corona umgibt wolkiges Schwarz das blonde Haar.

Andrea Mantegna, Aufbahrung Christi, 1474, Brera

Mit der Verbreitung des Aylan Kurdi-Fotos verband sich jenseits des medialen Rummels – wir erinnern Ai Wai Wais plumpes Kurdi-Bodrum-Reenactment –die aktivistische Hoffnung, sein Opfer möge nicht umsonst sein, sein Tod werde die Welt zur Besinnung und Hilfsbereitschaft rufen.

Diese eschatologische Hoffnung knüpft sich nicht, darin liegt das Missverständnis, an die Sache selbst, nämlich den Skandal der Flüchtlingskrise, sondern einzig an dem aufgerufenen Bild des toten Jungen, das in der Reihe erlösungsmächtiger und dämonischer Pathosformeln steht: Mantegnas Beweinung Christi in der Mailänder Brera 1480, machte mit der dramatischen Verkürzung des Leichnams des Gekreuzigten, die ihn uns leibhaftig nahebringt, den Anfang. Hans Baldung Grien folgte profaniert mit dem Behexten Stallknecht 1534 nach.

Reghini kannte sie und legte sein Kind mit Bedacht und uns zur Verantwortung am 11. Dezember der Jahrtausendwende zwischen Thanatos, und Hypnos, dem Tod und seinem kleinen Bruder Schlaf den grossen Meistern nach. Darin liegt die Differenz zwischen der Kunst Righinis und dem stupiden Spiel heutiger Social-Media-Spektakel.

Redaktionell überarbeitet zuerst erschienen im Rahmen der Reihe „Sammlerstücke“ in Kunst Bulletin 11, 2021

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Nachtseite

Kunstbau – Zürich hat bald das größte Museum der Schweiz. Doch die Sammlung Bührle ist heftig umstritten

Fluchtlinien der Adoration. Eingang zur Sammlung Bührle im Erweiterungsbau des Kunsthauses, Foto: Max Glauner

Zürich ist schön. Gehen wir auf den Waidberg, sehen wir auf die alte Stadt mit ihren Türmchen, gerahmt von bewaldeten Kuppen. Dahinter glänzt der See und die verschneiten Alpengipfel geben ein Zeichen, dass es noch etwas Größeres gibt als das Gewimmel dort unten. Zürich hat aber auch richtig hässliche Seiten. Die Hügelkette nach Norden ist zugleich Wohlstands- und Scheidegrenze zwischen Establishment und Prekariat. Hier Goldküste und Sonnenseite an der Limmat, dort die Nachtseite im Glatttal: Affoltern, Seebach, Oerlikon mit Hallenstadion, stupiden Wohnquartieren, Büroklötzen. Dahinter kommt der Flughafen Kloten und in Regensdorf der größte Knast im Land.

So richtig unwohl wird einem jedoch, wenn man weiß, dass hier im 20. Jahrhundert eine der größten Waffenfabriken Europas mit Filialen von Addis Abeba bis Ambarnath stand. Die Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon belieferte bis in die 1970er-Jahre fidel und skrupellos mit krimineller Energie jedes Krisengebiet und Kriegstheater. Die 2-mm-Flugabwehrkanone war ihr Verkaufsschlager und kam schon im Zweiten Weltkrieg auf beiden Seiten gerne zum Einsatz. Der Reibach war entsprechend groß. Das hat in der Schweiz eine lange Tradition. Das Schweizer Patriziat finanzierte sich über Jahrhunderte auf allen europäischen Schlachtfeldern durch Söldner in fremden Diensten. Win-win-Situation: Die beschäftigungslosen Bauernburschen hatten ein Auskommen. Der Papst leistet sie sich noch heute. Doch das ist im kollektiven Gedächtnis, wenn überhaupt, folkloristisch präsent. Anders ist es mit der Waffenfabrik in Oerlikon bestellt.

Mythos vom neutralen Land

Mit ihr verknüpft sich unmittelbar die Frage nach den Verstrickungen der Schweiz während des NS-Regimes, Kollaboration und Zwangsarbeit in Zulieferbetrieben und stellt den bis heute von der Schweiz gepflegten Mythos vom neutralen und friedliebenden Land in Frage. Nun schwappt der Diskurs, medial befeuert, mit leichten Verschiebungen wieder in die Öffentlichkeit, verschoben in die Ökologien und Ökonomien des Kultur- und Kunstbetriebs.

Der Anlass: Am kommenden Wochenende eröffnet das Kunsthaus Zürich seinen Erweiterungsbau. Das Kunsthaus, durch die Zürcher Kunstgesellschaft getragen, dem zweitgrößten Kunstverein Europas, wird so vor Bern und Basel zum größten Museum der Schweiz.

Festvorbereitung im Veranstaltungssaal des neuen Zürcher Kunsthauses, Foto: Max Glauner

Der Erweiterungsbau soll einen Teil der umfangreichen Kunstsammlung von Emil Georg Bührle beherbergen. Bührle war bis zu seinem Tod 1956 Chef der Oerlikoner Fabrik. Der vive Waffenschmied war auch Kunstfreund, zählte eine der erlesensten Sammlungen französischer Impressionisten sein eigen. 1890 in Pforzheim kleinbürgerlich geboren, heiratete er in eine Magdeburger Fabrikantenfamilie ein. Diese machte ihn 1923 zum Leiter der aufgekauften Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon, WO. Als Weltkriegsteilnehmer und Kommandant der Stabswache des Freikorps Roeder während der Niederschlagung der Novemberrevolution 1918 – 19 hatte sich der ehemalige Student der Philologie offensichtlich so hervorgetan, dass man ihm zutraute, den maroden Betrieb auf Kriegswirtschaft umzubauen. Somit verfolgte die Tätigkeit Bührles von Anfang an unsaubere Geschäfte. Denn mit der WO sollten die nach dem Versailler Vertrag für das Deutsche Reich festgelegten Kapazitäten der Waffenproduktion umgangen werden. Noch der Sohn Dieter umging nach dem Tod des Patriarchen 1956 mit krimineller Energie die Ausfuhrgesetze des Bundesrats, um sein Kriegsmaterial an den Mann zu bringen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam Bührle zunächst auf eine Schwarze Liste, doch mit Beginn des Kalten Krieges verkauften sich die Flaks aus der Zürcher Nachtseite wieder prächtig. Sie ernährten zu Hochzeiten über 31.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Zürich war schon mutiger

Was den Erweiterungsbau selbst betrifft: In den 1970er-Jahren traute sich Zürich diesbezüglich noch was. Zur dritten Erweiterung des Kunsthauses samt Theaterneubau schlug damals Jørn Utzon, Architekt des Opernhauses von Sidney, eine kühne Überbauung des Heimplatzes vor. Für die vierte Erweiterung des Kunsthauses von 2008 bis 2021 waren solche Würfe nicht mehr gefragt. Gediegen-gefasst sollte es daherkommen. So zeichnet sich der Kubus von David Chipperfield durch eine geschlossene Kalkstein-Lammellenfront aus, deren Fensteröffnungen und der messingglänzende Haupteingang, leicht aus der Mitte verschoben, sich kaum hervorheben wollen. Eine auffällige Dominante fehlt. Die Horizontalgliederung nimmt die Proportionen italienischer Palazzi auf. Auch im Inneren gibt sich der Bau nobel. Die Zürcher konnten ihn mit einer Glocken-Soundinstallation von William Forsythe bereits zu Jahresanfang, noch ohne Bilder, begehen. Ein durch die Mittelachse des Baus gezogener monumentaler Lichthof erschließt die Ausstellungssäle. Doch nichts erschließt das Innen und Außen. Der Bau schottet sich von der Öffentlichkeit ab. Metaphern wie Schuhschachtel, Kunstpalazzo, Pharaonengrab drängen sich auf. Kenotaph, eine antike Memorialarchitektur ohne Überreste des oder der Verstorbenen, wäre der wohl treffendere Begriff.

Um zu verstehen, welchen Rang Bührle in Zürich hat, ist es hilfreich, weiter zurückzublicken: Die Zwingli-Stadt tat sich nach der Reformation mit Kunst und Lustbarkeiten schwer. Im Gegensatz zu Basel, das den Bildersturm in den Kirchen clever nutzte, um sich die feinsten Stücke zu sichern. Mit dem Amerbachschen Kabinett, 1661 von der Stadt aufgekauft, kann sich die Stadt am Rhein rühmen, das erste bürgerliche Museum der Welt gegründet zu haben. In Zürich hingegen sah es düster aus. Erst 1910 stand ein reformklassizistisches Gebäude von Karl Moser auf einem ehemaligen Friedhof – Georg Büchners sterbliche Überreste lagen dort begraben. Es bestand also ein künstlerisch-museales Vakuum, das gefüllt werden konnte. Der 1937 eingebürgerte und zu Lebzeiten reichste Schweizer Emil Bührle nutzte das Potenzial. Sein Mäzenatentum deckelte seinen Ruf als neureicher Waffenschieber und punktete beim Stadtzürcher Patriziat.

Es ist bezeichnend, dass Bührle zwar einen ersten Erweiterungsbau für das Kunstmuseum bezahlte – der 1958 eröffnete brutalistische Riegel ging auf einen Wettbewerb 1944, also mitten im Krieg, zurück –, seine Sammlung dort aber nie zugänglich machte. Er zeigte sie, wie die nach seinem Tod durch die Erben gegründete Stiftung, in einem Privathaus in der Zollikerstraße. Der Kunstgesellschaft ermöglichte er über den Baufonds den Ankauf nur eines einzigen Kunstwerks, 1947, als er gerade als einstiger Lieferant des Deutschen Reiches von den Schwarzen Listen der Alliierten gestrichen worden war: einen Werkstattguss von August Rodins Höllentor, an dem der Bildhauer seit 1880 zeitlebens gearbeitet hatte. Pikanter Hintergrund: Es war über die Vermittlung des NS-Großbildhauers Arno Breker wahrscheinlich durch Alfred Bormann direkt von Hitler bei der Gießerei Rudier für das Linzer Führer-Museum bestellt worden. Bestellt und nicht abgeholt wurde es von den Alliierten requiriert. Nach einer Zürcher Rodin-Ausstellung erwarb es Bührle zum Schnäppchenpreis.

Die genaue Geschichte des Höllentors ist bis heute ungeklärt. Im Bild gesprochen: Würde es geöffnet, kämen die Stadtzürcher Kulturoberen wieder einmal in Teufels Küche. War Bührle der Schöngeist und selbstlose Kunstliebhaber oder der gewissenlose Kriegsgewinnler, der sich mit seiner Kunstsammlung ein Pharaonengrab baute, dem die Erben nun mit dem Chipperfield-Kenotaph am Zürcher Heimplatz Sichtbarkeit verschaffen?

Für einen Mann von Bührles Kaliber gehörte Kunst zum guten Ton. Konventionell im Zeitgeschmack, Altmeister und französische Impressionisten, sammelte er zusammen, was der Markt hergab. Das war ab 1933 das, was Migranten aus Deutschland schnell verkaufen oder zurücklassen mussten, um ihre Reise nach Übersee zu finanzieren, und was auch nach 1945 auf den Markt kam. Nach Urteilen Schweizer Gerichte musste Bührle zwischen 1947 und 1948 dreizehn Gemälde an die jüdischen Vorbesitzer zurückgeben. Neun kaufte er retour. Raub- oder Beutekunst aus der Nazizeit werden in Zürich also nicht zu sehen sein. Dennoch befällt uns Ratlosigkeit, wenn es um den Zusammenhang zwischen Industriekapital aus Waffengeschäften, Zwangsarbeit, latentem Antisemitismus und schöner Kunst geht.

Um hier Klarheit zu schaffen, hatte die Stadt im Verein mit der Kunsthausgesellschaft und der Bührle-Stiftung bei der Universität Zürich eine Studie in Auftrag gegeben: Kriegsgeschäfte, Kapital und Kunsthaus – Die Entstehung der Sammlung Bührle im historischen Kontext. Rodins Höllentor kam dabei ebenso wenig ins Visier wie die Interessen und Machtverhältnisse zwischen Tourismus, Stadtmarketing, Kulturindustrie und familiärer Zeremonialkultur, die bis heute den Namen Bührle stiftungsgetragen über die Kunstsammlung wie eine Monstranz vor sich herträgt. Feierstimmung kommt daher in Zürich kaum auf. Weder der Charakter, die Karriere noch der Kunstgeschmack Bührles können heute Vorbild sein.

Die Zivilgesellschaft Zürichs war schon einmal mutiger. Sie lehnte 2001 in einem Volksentscheid das Angebot Friedrich Christian Flicks ab, seine Sammlung dauerhaft an der Limmat unterzubringen.

Foto: Max Glauner

Zuerst veröffentlicht in der Freitag, Ausgabe 40 2021

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Post-Kolonialismus auf dem Prüfstand. Matthew Angelo Harrison

Im Journalistenjargon gesprochen: die Kunsthalle Basel hat mit der Ausstellung Matthew Angelo Harrison. Proto wieder einen Scoop, vulgo einen Knaller gelandet. Mit dem 32-jährigen Schwarzen U.S.-Amerikaner Matthew Angelo Harrison aus Detroit holt sie erneut einen jungen Künstler erstmals in einer institutionellen Einzelausstellung nach Europa.

Find English version below.

Installationsansicht, Matthew Angelo Harrison, Kunsthalle Basel, Foto: Max Glauner

Für den Shootingstar ein Booster sondergleichen. Denn die Ausstellung kommt der Corona-Volatilitäten zum Trotz zeitgleich zur fulminanten Schau der Schwarzen Starkünstlerin Kara Walker im Kunstmuseum (Kunstforum, Bd. 276) und überschneidet sich auch mit der in den September verlegten Art Basel. Für viele sicher eine «breathtaking» Entdeckung, denn Harrisons technoide Skulpturen, Assemblagen aus traditionellen afrikanischen Artefakten und Überbleibseln U.S.-amerikanischer Industriekultur, die er in partiell eingefräste oder zerschnittene Giessharzblöcke verewigt, oder per 3D-Printer als Unikate reproduziert, geben den aktuellen Diskursen um Ökologien sozialer und ökonomischer Differenz, (Nicht-)Identität, der People-of-Colour-Bewegung und Postkolonialismus-Debatten eine verblüffend gültige Form und Stoff zur Diskussion. Schön anzusehen sind sie allemal und ein leichter Schauer bleibt nicht aus.

«This show is about you, not about me,” lautet die forsche Devise Harrisons; sie wird im Video-Clip zur Ausstellung prominent vorangestellt. An dieser Behauptung wird sich der Künstler messen müssen. Trifft sie mehr als einen wohlfeilen Topos poststrukturalistischer Rezeptionsästhetik? Anders gefragt, inwiefern sind die Betrachterinnen von Harrisons Objekten betroffen? Wodurch sind auf sich zurückgeworfen, statt dass die Objekte vom Kunstwillen des Autors oder historistisch vor sich her monologisieren?

Um die Antwort vorwegzunehmen, Harrison gelingt die Umkehr vom Objekt zum Betrachter auf faszinierende Weise. Einen ersten «Proof» gibt das am Eingang zum Oberlichtsaal der Kunsthalle platzierte Objekt. «Bated Breath», das wie alle neunundzwanzig gezeigten Arbeiten im Corona-Jahr 2021 entstanden ist. Auf einem Edelstahlgestell, präsentiert sich ein kristallin-transparenter Kunstharzkubus. Eine unheimliche ovale schwarze Masse, auch Luftblasen sind darin eingeschlossen. Dicke schwarze Fäden hängen herab, dergestalt, dass die Betrachterin hier zuerst das naturkundliche Schaustück einer Tiefsee-Meduse vermuten könnte. Beim Nähertreten starren einen jedoch Augen entgegen, breite Lippen, ein markantes Kinn werden sichtbar, die Fäden entpuppen sich als dichtes Haar einer Holzmaske. Sie hat ihren Ursprung in Westafrika. Harrison hat sie wie viele andere Objekte, die mit traditioneller afrikanischer Stammes-Kultur verbunden werden, Figuren, Speere, Ritualmasken über Internethändler, erworben und weiterverarbeitet.

«Black Madonna» war der Titel des anderen großen Detroiter Künstlers Theaster Gates im Kunstmuseum Basel 2017, die sich wesentlich um Repräsentation, Identität und Kultur des Schwarzen Amerika drehte. Wer Harrisons Schwarze petrifizierte Medusen-Madonna ikonologisch liest, darf sich durchaus daran erinnert fühlen. Schon der Titel «Bated Breath/ Unterbrochener Atem» ruft unwillkürlich den Tod des Afro-Amerikaners George Floyd im Mai 2020 durch Polizeigewalt auf. Neun Minuten lang wurde er von einem Beamten trotz Flehen in aller Öffentlichkeit so brutal am Hals zu Boden gedrückt, dass er verstarb. Eine westafrikanische Holzskulptur mit erhobenen Händen in Giessharz, «Reservoir Master», hinter «Bated Breath», bei der sofort an eine Polizeikontrolle gedacht wird, legt den politischen Kontext vieler Objekte nahe, der mit den Stichworten systemischer Rassismus, soziale und ökonomische Diskriminierung und Widerstand umrissen ist.

Neben den Afrikaartefakten präsentiert Harrison auch Relikte der Industriekultur wie Schutzhelme, Handschuhe, oder das Bomber Jackett seiner Mutter mit kämpferischen Gewerkschaftsstickern, «Single Mother (Divided)», die ebenso in Kunstharz gegossen und mit einer computergesteuerten CNC-Fräse gnadenlos präzise zugerichtet in Form gebracht wurden. Auch sie verweisen auf eine politische Dimension, erinnern an die letzten, erfolglosen Versuche der überwiegend Schwarzen Arbeiterschaft zu Anfang der 1990er-Jahre, den Zusammenbruch der Detroiter Autoindustrie zu verhindern.

Doch Harrisons Appropriationen gehen über das Aufbewahren, Ausstellen, Anklagen hinaus. Er ist im Sinne Walter Benjamins ein historischer Materialist, „was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. (…) Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein». Harrisons Arbeit reflektiert das genau. Statt die Objekte an uns heranzufahren, distanziert er sie daher, bringt sie in eine paradoxe transitorische Situation, um einen Möglichkeitsraum zu öffnen, in dem Artefakte unter neuen Bedingungen mit uns neu verhandelt werden können. Die Besucherinnen sind zu diesem ernsten Spiel eingeladen. Der Einladung nachzukommen ist sehr zu empfehlen.

Zuerst veröffentlicht in Kunstforum International Band 277 Oktober 2021

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Matthew Angelo Harrison, Bated Breath, 2021, Foto: Max Glauner

Post-colonialism on the test bench. Matthew Angelo Harrison

In journalistic jargon, the Kunsthalle Basel has once again landed a scoop, a firecracker, in its exhibition Matthew Angelo Harrison Proto. With the 32-year-old black American Matthew Angelo Harrison from Detroit, it is once again bringing a young artist to Europe for the first time in an institutional solo exhibition.

For the shooting star, a booster beyond compare. Because the exhibition comes at the same time as the brilliant show of Black star artist Kara Walker at the Kunstmuseum (Kunstforum, vol. 276), despite the Corona volatility, and also overlaps with Art Basel, which has been moved to September. A „breathtaking“ discovery for many, to be sure, Harrison’s technoid sculptures, assemblages of traditional African artifacts and remnants of U.S. American industrial culture, which he immortalizes in partially milled or cut blocks of cast resin, or reproduces as one-offs using 3D printers, give the current discourses on ecologies of social and economic difference, (non-)identity, the people-of-color movement, and postcolonialism debates an astonishingly valid form and material for discussion. Beautiful to look at, they certainly are, and a slight shiver is not absent.

„This show is about you, not about me,“ is Harrison’s brash motto; it is prominently prefaced in the video clip for the exhibition. The artist will have to measure himself against this claim. Does it apply to more than just an insipid topos of poststructuralist reception aesthetics? In other words, to what extent are the viewers affected by Harrison’s objects? By what are they thrown back on themselves, rather than the objects monologuing from the author’s will to art or historistically?

To anticipate the answer, Harrison manages the reversal from object to viewer in a fascinating way. A first „proof“ is given by the object placed at the entrance to the Oberlichtsaal of the Kunsthalle. „Bated Breath,“ which, like all twenty-nine works on view, was created in the Corona year 2021. On a stainless steel frame, is presented a crystalline transparent resin cube. An eerie oval black mass, air bubbles are also enclosed within. Thick black threads hang down, in such a way that the viewer might at first assume that this is the natural history showpiece of a deep-sea medusa. However, as one approaches, eyes stare back at one, wide lips and a prominent chin become visible, and the threads turn out to be the thick hair of a wooden mask. It originated in West Africa. Harrison acquired it, like many other objects associated with traditional African tribal culture, figurines, spears, ritual masks through Internet dealers, and processed them.

„Black Madonna“ was the title of the other major Detroit artist Theaster Gates‘ 2017 show at Kunstmuseum Basel, which was essentially about representation, identity and culture of Black America. Those who read Harrison’s Black Petrified Medusa Madonna iconologically may well be reminded of this. Even the title, „Bated Breath,“ involuntarily evokes the May 2020 death of African-American George Floyd at the hands of police violence. For nine minutes, despite pleading in public, he was so brutally pinned to the ground by his neck by an officer that he died. A West African wooden sculpture with raised hands in cast resin, „Reservoir Master,“ behind „Bated Breath,“ which immediately brings to mind a police stop, suggests the political context of many of the objects, outlined by the keywords systemic racism, social and economic discrimination, and resistance.

In addition to the African artifacts, Harrison also presents relics of industrial culture such as hard hats, gloves, or his mother’s bomber jacket with militant union stickers, „Single Mother (Divided),“ which were also cast in synthetic resin and brought into shape with merciless precision using a computer-controlled CNC milling machine. They, too, point to a political dimension, reminiscent of the last, unsuccessful attempts by the predominantly black workforce at the beginning of the 1990s to prevent the collapse of the Detroit auto industry.

But Harrison’s appropriations go beyond storing, exhibiting, accusing. He is a historical materialist in the sense of Walter Benjamin, „what he surveys in terms of cultural assets is to him entirely of an origin that he cannot contemplate without horror. (…) It is never a document of culture without at the same time being one of barbarism.“ Harrison’s work reflects this accurately. Therefore, instead of bringing the objects close to us, he distances them, placing them in a paradoxical transitory situation in order to open a space of possibility in which artifacts can be renegotiated with us under new conditions. The visitors are invited to this serious game. Accepting the invitation is highly recommended.

Matthew Angelo Harrison, On Strike, 2021, Foto Max Glauner
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