Lange Schatten. Tag- und Nachtseiten eines Kinderspiels

In der Sammlung der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte zu Winterthur wird ein Schattentheater aus Karton mit der Inventarnummer 21891 geführt. Es wurde um die Jahrhundertwende 1900 für Kinder in Serie hergestellt – ein frühes Zeugnis medialer Faszination und sozialer Teilhabe. Was erzählt es uns heute?

Schattentheater um 1900, Aufstellbühne, Silhouettenfiguren, Kulissenteile, Kartin, Papier, Metall; Stiftung für Kultur und Geschichte SKKG Winterthur

Unter der Inventarnummer 218921 befindet sich in der Winterthurer Sammlung für Kultur und Geschichte ein «Schattentheater mit beweglichen Figuren» wie es auf dem Schachteldeckel in Rot geschweifter Schrift geschrieben steht. Die dazugehörige Spiele-Schachtel der Berliner Firma Sala ist mit den Jahrzehnten verloren gegangen. Nicht die Verheissung, die von seinem Inhalt ausging. Schon auf dem Schachteldeckel bekommen wir davon eine Ahnung: Versprochen wird grosses Theater im Kleinen, ein kostbares Bühnenportal, Kapelle mit Kapellmeister und eine lustige Begebenheit, in der riesengrosse Schattenrissfiguren auf der Bühne eine Verfolgungsszene mimen. Da ist ein Hund hinter einem mageren Spitzbuben her, der eine Wurst geklaut hat, verfolgt von einem dicken Ordnungshüter mit Tschako und gezücktem Säbel.

Nach Plinius dem Älteren liegt der Ursprung der Bildenden Kunst in der Umrisszeichnung, die das Mädchen Dibutade vom Schatten ihres Liebsten als mnemotechnischen Trick zum Abschied nahm. Damit war die Tür zu einer zweiten Welt geöffnet, die im Schein zwar, doch im Gaukelspiel real erfahrbar, in seinen Höhepunkten selbst noch das Reale zu übertrumpfen vermag, vom Gemälde bis zum Foto, Jahrhunderte Jahre in Spielen, Aufführungsgestellen, dann im Film und TV bis hin zu den Video- und Foto- Inszenierungen der Social-Media-Plattformen unserer Tage.

Was haben Schattentheater und YouTube, Instagram, TikTok über ihren mythischen Ursprung hinaus gemeinsam? Sicher das Leben ihrer Nutzer in einer zweiten Welt. Sicher aber auch die Möglichkeit performativer Teilhabe, des experimentellen Selbstentwurfs, der Selbstermächtigung in dieser. Das spielende Kind lässt die Puppen tanzen. Es macht etwas vor aber lässt sich darin nichts vormachen. Doch die Grenzen sind eng gesteckt. YouTube, Instagram, TikTok bieten wie das Schattentheater im Schein der Freiheit nur kleine Fluchten. Sind es heute Algorithmen, die bestimmen, was wir wollen müssen, bietet das Schattentheater einen kleinen Rahmen, gestanzte Zuschauerlogen rechts und links, in denen wohlgekleidete Infanten sich artig amüsieren. Noch bevor der Vorhang hoch geht und die Umrisse der beigefügten Pappfiguren mittels einer Funzel auf die Leinwand geworfen werden, ist jede Ausgelassenheit im pädagogischen Keim erstickt. Mit welchen Geschichten, Zoten, Spässen mochte dieser Schattenwelt echtes Leben eingehaucht worden sein?

Der Text erschien redaktionell überarbeitet zuerst in Kunst Bulletin Nr. 5/2022

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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