Kuschelkissenkunst. Performative Formate auf der 59. Venedig Biennale 2022

Gegen die konservativen Tendenzen der Hauptausstellung The Milk of Dreams der diesjährigen Venedig Biennale setzten sich in den Länderpavillons zunehmend Aufführungsformate durch – vor allem solche, in denen das Publikum aktiv gefordert ist. Ein Augenschein.

Frau auf Podest. Die 59. Venedig Biennale-Kuratorin Cecilia Alemani beim Fotoshooting, Foto: Max Glauner

Der Knaller der diesjährigen Venedig Biennale liegt weit außerhalb. Nicht in der Hauptausstellung, nicht in den Arsenale, nicht in den Giardini, sondern im abseitigen Stadtquartier Cannaregio, in der profanierten Kirche Chiesa Maria della Misericordia. Die Niederländer haben sie angemietet, ihren Pavillon in den Giardini Estland überlassen, um der Künstlerin und LGBTQ+-Aktivistin Melanie Bonajo mit ihrer Installation „When the body says Yes“ einen angemessenen Raum zu bieten.

Doch sehen wir uns zunächst an anderer Stelle um. Denn die Konkurrenz ist groß. Der Besuch auf der Venedig Biennale mehr denn je wert. Das liegt an einem Widerspruch. Dieser erwächst aus dem immer noch virulenten Gegensatz zwischen den, wenn man so will, klassischen Bildenden und den Perfomativen Künsten, also Aufführungsformaten, Live-Acts und begehbare Bühnenräume, in denen das Publikum als beobachtende Darsteller:in aufgerufen wird. Seit 2015 gehören diese Formate zum festen Bestandteil der Venedig Biennale. Ihr damaliger Kurator Okwui Enwezor richtete in der Hauptausstellung eine große Bühne für Darbietungen aller Art ein. Die Grande Dame der Performancekunst Joan Jonas erhielt für ihren Auftritt im amerikanischen Pavillon eine Auszeichnung ebenso wie die Künstlerin und Aktivistin Adrien Piper für die partizipative Performance The Probable Trust Registry. Die Biennale 2017 feierte Anne Imhofs Dauerperformance Faust,und das theatralische Tableau vivant The Sun and the Sea des litauischen Pavillons erhielt zwei Jahre später einen Goldenen Löwen. Das post-performative Zeitalter war angebrochen.

Doch so sehr sich die raum- und zeitbezogenen Künste, Bild und Bewegung, Atelier, Bühne, Galerie und Theater in den letzten Jahrzehnten aufeinander zubewegt haben, so sehr sind ihre Gegensätze und im besten Fall produktive Spannungen weiter zu spüren – in Venedig 2022 allemal.

In der Hauptausstellung der Giardini und den Arsenale The Milk of Dreams reibt man sich jedoch zunächst die Augen. Wo bleibt die Performance? Deren Kuratorin Cecilia Alemani streicht zwar in ihrem offiziellen Statement heraus, dass «die Darstellung von Körpern und deren Metamorphosen», Core Business der Performativen Künste, von zentraler Bedeutung sei. Die Tänzerinnen Mary Wigman (1886-1973) und Josephine Baker (1906-1975) werden in Filmdokumenten auf mit exotischen Tänzen präsentiert. In den Arsenalen sind die wunderbar grotesken Figurinen der Choreografin Lavinia Schulz (1896-1924) und ihres Kollegen Walter Holdt (1899-1924) zu sehen. Schulz beging in Hamburg Selbstmord, nachdem sie ihren Lebensgefährten Holdt erschossen hatte. Ihre Kostüme wurden durch Zufall wiedergefunden und hier zum ersten Mal einer internationalen Öffentlichkeit gezeigt. Atemberaubend und verlockend die Idee, sie in einer Aufführung zu sehen. Nun nehmen sich wie Feigenblätter aus. Aktuelle Aufführungsformate? Dazu muss man im Zentralen Pavillon ganz nach hinten gehen.

In dem grosszügigen Oberlichtsaal ist die 1947 geborene U.S.-amerikanische Meisterin der Appropation Art Louise Lawler mit ihrer grossformatigen Fotoserie No Exit, 2022,zu sehen. Sie bereitet die Bühne für die Aufführung Encyclopedia of Relations, 2022, der rumänischen Choreografin und Performance-Künstlerin Alexandra Pirici, Jahrgang 1982. Ihre Performer fallen den Besucher:innen zunächst kaum auf. Man sieht sie müßig schlendernd oder interessiert vor den Bildern der amerikanischen Künstlerin stehen, angenehme junge Zeitgenossen unter vielen. Nach einigen Minuten lösen sich die vier Performerinnen und die zwei Performer aus dem Besucherstrom und formieren sich vor der weißen Eingangswand. Wer weder Katalog noch Saalzettel konsultiert hatte, wird jetzt irritiert sein. Die sechs gruppieren sich zu einer triumphalen Pyramide. Die beiden Männer schultern eine junge Frau, eine zweite kniet daneben, die dritte robbt am Boden, die vierte vollführt ihr Artistenkompliment, während die ganze Truppe, Skulptur in Bewegung, langsam und anmutig nach vorne schreitet. Darauf verteilen sie sich im Raum und nehmen den Ruf und den verhaltenen Tanz einer Mitspielerin aus dem Chor heraus in kurzen, abstrusen Bewegungen und Lauten im Echo auf. Als Abschusstableau vor ihrem Abtritt verharren sie in der Mitte des Saals. Wer hier an Rodins Figurengruppe Die Bürger von Calais (1885) denkt, liegt nicht falsch.

Louise Lawler und Alexandra Pirici, eine geglückte, ja beglückende Begegnung. Denn Lawler bereitet der Jüngeren nicht nur eine Bühne, sondern liefert auch eine konzeptuelle Vorlage. Seit ihren Anfängen setzt sich Lawler fotografisch auch hier in Venedig mit dunklen Fotos aus einer Donald Judd-Retrospektive des MoMa mit dem Status des Kunstwerks als kontextgebundenen mithin fetischisierten Objekts auseinander. Alexandra Pirici führt mit ihrer Aufführungdie Institutionskritik und Anfragen an künstlerische Machsetzungen im Performativen fort. Bereits 2013 vertrat sie mit ihrem Kollegen Manuel Pelmuș ihr Heimatlandauf der 55. Venedig Biennale. Die Arbeit An Immaterial Retrospective stellte im ansonsten leeren Pavillon berühmte Skulpturen der Venedig-Vergangenheit mit großem Unterhaltungswert performativ nach, Joseph Beuys Straßenbahnhaltestelle (1976)zum Beispiel. Nach Auftritten bei der 6. Berlin Biennale 2016 und Skulptur Projekte Münster 2017 lud Pirici das Art Basel-Publikum 2019 zum gemeinschaftlichen Entspannungstraining in einen aufblasbaren Pavillon auf dem Messeplatz. Formierung einer kritischen Masse oder soziale Skulptur? Die Antwort darauf bleibt unausgemacht. Sie dürfen als unaufgeregt diskrete Gesten gelten, Einladungen, Beziehungsmuster zu erleben und neu zu gestalten, mehr durch Körper, Bewegung und Begegnung als kopfgesteuert. Damals wie heute ging es darum, groß gedachte Kunst vom Sockel zu holen, gestanzte Körper-Bilder neu zu formatieren. Oder gleich die als atavistisch und post-koloniale Überbleibsel kritisierten Länderpavillons.

Kroatien macht es vor. Es verzichtet auf einen Pavillon und setzt radikal einen KI-gesteuerten auf situationistischen Akionismus. Der in den Niederlanden lebende kroatische Künstler Tomo Savić-Gecan hat für Untitled (Croatian Pavilion) eine kleine Truppe Performer:innen zusammengestellt, die täglich, gesteuert durch ein Computerprogram in vier bis fünf Länderpavillons auftauchen, in denen sie diskret eine Aufführung geben. Ein Algorithmus, bestimmt durch 250-Online-Newsticker, gibt Zeit, Ort und Choreographie vor. Top News become top moves. Das ist klug inszeniert. Denn nicht nur, dass die nationale Präsenz unterlaufen wird. Zugleich stellt sich die Frage nach Autonomie, Selbst- und Fremdbestimmtheit nicht nur in der Kunst.

Warum hatte es in Venedig nicht mehr solcher Veranstaltungen gegeben? Sicher war das auch Corona geschuldet. Es muss vorab geprobt werden und die Entwicklung der Pandemie ist schwer vorherzusagen. Zum anderen ist es eine Geldfrage. Darsteller:innen müssen bezahlt werden. Ein Objekt dagegen rechnet sich für die Aussteller. Die oft horrenden Herstellungskosten werden von den Galerist:innen getragen. Will ein Kurator Performatives, ist Partizipation angezeigt. In der aktiven Teilhabe am Kunstwerk werden einfach Besucher:innen zu Akteur:innen. Immersive Bühnenräume haben daher Konjunktur.

Die formale Spannweite ist groß. Sie reicht in der Hauptausstellung von Barbara Krugers Untitled (Beginning/Middle/End), 2022, ein gewaltiger konzeptueller Appell-Raum, in dem ein schwarz-weißes, von Signalrot unterbrochenes All-over von zivilisatorischen Botschaften und post-feministischen Statements auf den Betrachtenden hereinbrich, bis hin zu Marianna Simnetts verstörende Drei-Kanal-Videoinstallation The Severed Tail, 2022. Die 1986 in London geborene und in Berlin beheimatete Video-Installationskünstlerin konfrontiert mit einem Sado-Maso-Club, in dem es den Agierenden in Tierkostümen vor allem um die Exposition und Extraktion von Tierschwänzen geht. Das geht für Viele so lange gut, bis realisiert wird, dass es sich bei der durch die Blackbox gewundene flauschige Sitzgelegenheit um einen abgeschnittenen Monsterrattenschwanz handelt. Auch wenn uns jetzt Ekel ergreift, wir sind nicht mehr teilnahmslos, draußen, sondern selbst wenn wir die Flucht ergreifen, drin und Teil vom Ganzen.

Damit etabliert sich in Venedig neben White Cube und Black Box so etwas wie eine Participating Audience Stage. Das Publikum soll als bewegter, mitfühlender, mitdenkender Akteur herangeholt werden. Damit sind wir wieder in der Chiesa Maria della Misericordia.Jenseits der lauten Aufmerksamkeitsökonomien gelingt dort der 1978 geborenen queeren Künstlerin Melanie Bonajo eine berührende und überzeugende Plattform, monumental und diskret zugleich.

Der Länderbeitrag ist dort mit Bedacht ausgewählt. Hier hatte 2015 Christoph Büchel für Island mit The Mosque für wenige Wochen bis zur behördlichen Schließung eine Moschee für die venezianische Islamgemeinschaft etabliert. Bonajos Installation konnte so auch als zaubergleiche über Bande gespielte Kampfansage gelten: Statt Gebetsteppichen nun Kuschelkissen, statt Lüster Schummerdunkel, lange Spinnwebfäden hängen aus der Decke und die Mihrab, die Nische, nach der sich die Gemeinde zum Gebet ausrichtet, ist einer gewaltigen Bildleinwand gewichen, auf der nackte Akteurinnen der LGBTQ+-Community um die Mitte Dreißig sich gegenseitig ihre geölten Körper reiben. Das hatte nichts Aufdringliches, nichts Pornografisches. Dafür sorgten schon die trockenen Erfahrungsberichte zu Körperlichkeit und Sexualität der Teilnehmer:innen unterschiedlicher Kulturkreise aus dem Off. Sie sprechen von Aufmerksamkeit, Geschlechtlichkeit, Begegnung und Berührung jenseits trainierter Sexualität. Die Künstlerin ist so klug, Distanz als Kraft der Kunst zu wahren. Warf man sich bei Büchel zum Gebet gen Mekka, erspart uns Mel Bonajo den letzten partizipativen Schritt zur Mitmachaktion und entlässt uns als potentielle Evangelisten ihrer frohen Botschaft: „Feeling is a form of intelligence, thinking through touch.“ Das ist Kunst, die berührt.

Dieser Text erschien in redaktionell überarbeitet in Freitag, 12. Mai 2022, S.26

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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