Künstlerische Materialbeherrschung ist schon lange nicht mehr allein an die ausgewogene Form gebunden. Sie gleicht eher einem Experimentierfeld, in welchem die Belastbarkeit des Materials ausgelotet wird. Ein Meister dieser Disziplin ist im Haus Konstruktiv zu entdecken, der Mexikaner Jose Dávila.

Zürich — Das verblüfft: Wie Stämme eines abgestorbenen Wäldchens ragen dunkle Doppel-T-Träger aufrecht in die Höhe des lichten Saals im Erdgeschoss des Haus Konstruktiv. Zählten wir nach, kämen wir auf einundzwanzig. Sie sind unterschiedlich hoch, die höchsten an die vier Meter. Damit die Stelen so stehen können, wir ahnen, dass sie nicht am Boden fixiert sind, hat sich ihr Schöpfer Jose Dávila einen Trick einfallen lassen. Jeder Stahlstumpf ist am Ende durch eine Trosse über die Decke mit einem wackeren Granitbrocken verbunden. Dieser hält seinen Widerpart in der Vertikalen. ‹The Act of Being Together› heisst die eigens für diesen Ort geschaffene Arbeit.
Jose Dávila (*1974) ist kein ausgebildeter Künstler, sondern Architekt. Zur Kunst kam er durch Neugier. Wohl darum scheren sich seine Arbeiten kaum um klassische Parameter der Skulptur. Seine Arbeiten gleichen Versuchsanordnungen. Sie loten die Grenzen der Gravitation aus. Statik interessiert den Künstler nur, insofern er das Material dynamisieren kann. So erinnern viele seiner Arbeiten an Richard Serra, die Arte Povera oder auch Arbeiten einer Virginia Overton. Ein Mittel des Künstlers, um die Skulptur «schneller» zu machen: der Spanngurt.

Damit werden Scheiben zu Licht-Bildflächen in der Diagonale gehalten (‹Shadows I und II›, 2022), Benzintonnen im Winkel an die Wand gespannt (‹The Rope Sometimes Bursts›, 2022) oder ein Stahlreifen an den Sockel geknebelt, und das lange Knebelende darf noch eine Arabeske auf dem Boden vollführen (‹The Act of Perseverance›, 2022). Überzeugender ist da die Arbeit ‹Will has moved mountains›, 2020. Das ist skulpturale Spanngurtequilibristik zum Staunen und im Zwischengeschoss gelungen mit der fünfteiligen Farbfeldmalerei ‹Memory of a Telluric Movement›, 2020, an der Stirnwand kombiniert. Auf einem Podest hält ein sicher fünfzig Meter langes schwarzes Band hintereinander vier leicht gekippte Spiegelwände. Band und Spiegel wiederum werden durch schwere Gegenstände, Steine, Kuben, Holzquader gerade so gehalten, dass sie uns nicht entgegenkippen können. Hier beginnt ein faszinierendes Spiel im Auge der Betrachtenden: Die Spiegel erweitern den Raum und entziehen ihn zugleich. Wir sehen uns, aber nichts ist dahinter, und wir halten uns an den Gurten, den Gegenständen, die sich nun magisch zu heben, senken und zu stürzen scheinen. Das ist an Dramatik kaum zu überbieten. Nichts wie hin!
Zuerst veröffentlicht in Kunst Bulletin 7-8/2022
