Alle mal mitmachen! Die documenta 15, das Lumbung und die Kollaborativen

Das documenta fifteen-lumbung-Prinzip genauer betrachtet. Annahmen und Beobachtungen zu kollaborativen Kunstproduktionen.

Von Max Glauner

d15 – Foto: Max Glauner

I. Einleitung. Lumbung und das documenta-Woodstock-Potential

So hatte sich Kassel das vorgestellt: 100 Tage Festival der zeitgenössischen Kunst. Der globale Süden zu Gast an der Fulda fern von Markt- und Messehype: Documenta-Woodstock in Hessen. Das Zauberwort dafür, Lumbung. Das indonesische Wort für Reisscheune. Es steht für die Grundsätze der neunköpfigen Kurator*innengemeinschaft der documenta fifteen ruangrupa, eine gerechte Ökologie der Kollektivität und nachhaltigen Ressourcenwirtschaft unter dem Stern einer vernetzten ästhetisch-politischen, mithin künstlerischen Praxis. Doch der Start missriet. Das nach dem Abzug des Pressetross am Eröffnungstag gehisste Banner der indonesischen Gruppe Taring Padi [S. 106] bediente nach antizionistischen Misstönen im Vorfeld antisemitische Stereotype. Sein Abriss war vorprogrammiert, der folgende Ärger absehbar. Die documenta fifteen hatte ihren Skandal, doch ein Minus-Image sondergleichen, von dem sie sich nicht mehr so leicht erholen wird, dem guten Willen neue kunstgetriebene Ökologien aufzuzeigen zum Trotz. Der Künstler*innenzusammenschluss Fondation Festival sur le Niger aus Mali zum Beispiel kennt keine Gattungsgrenzen. Collagen, Skulpturen, Workshops für ihre Gäste gehören zu ihrer human verankerten Praxis ebenso wie ausdrucksstarke Marionetten oder Musik und Tanz. Da machen wir gerne mit. [S. 262]

Doch was heißt Beteiligung, Partizipation, Teilhabe am produktiven und nicht zuletzt gesellschaftlichen Prozess? Intern war ein gewisses Mass an Begegnung und Austausch garantiert. Ruangrupa engagierte 14 Lumbung Member-Gruppen, die ihrerseits Gruppen und Künstlerinnen einluden und diese wieder andere. Inzwischen sollen es 1’500 Teilnehmer*innen sein. Doch wie stand es um die Teilhabe der Besucher*innen?

Wer die Einführungstexte der Handouts genauer las, vermisste Begriffe wie «Teilnehmende» oder «Publikum», erstrecht «Zuschauer*in» oder «Betrachter*in». War jede, jeder mit dem Kauf eines Tickets Teil der Lumbung-Gemeinschaft? War frau/man damit jeder Übersetzungsleistung, Anschlussfrage, Kontextualisierung enthoben, sprich, in der kollektiven Kunstblase, beziehungsweise in der transglobalen Kuschelaue angekommen?

Ich möchte ein Angebot machen. Sehen wir uns an, was Teilhabe, Partizipation im Kunstkontext bedeuten kann. Für die Künstler*innen und jene, die an ihrer Arbeit teilhaben möchten.

Installationsansicht, Nino Bulling – d15, Foto: Max Glauner

II. Nino Bulling, der Kunst-Welt-No-Name oder von Gemeinschaft, Gesellschaft, Zusammenschluss und Kollektiv

Licht flutet weich, freundlich von oben aus den Sheddachfenstern. Darunter hängen an roten Gestängen rechtwinklig weisse Seidentücher, auf denen der Berliner Künstler Nino Bulling mit betörend sicherem Pinselstrich eine schnell gezeichnete Serie von Szenen der Zweisamkeit zwischen intimer Nähe und Distanz, Selbstfindung und Verlorenheit geschaffen hat. Traumwandelnd gelingt ihm ein Raum zwischen Ruhe und vibrierender Spannung, die uns in unserem Selbstverständnis verunsichert, definitiv der oder jene zu sein. Nino Bulling 1987 in Berlin als Mädchen geboren, in Halle ausgebildet, Comiczeichner und Autor kennt diese Verunsicherung aus eigener Erfahrung und bringt sie hier in Bilder, die wir von Stoffbahn zu Stoffbahn in Narrative übersetzen.

Am ersten Pressetag sitzt Nino Bulling in seiner Installation in der Industriehalle Hafenstrasse 76 im Ostteil Kassels und beobachtet sein Publikum. «Sie fotografieren fast alle aus dem gleichen Winkel», stellt der Knabenhafte mit Kurzhaarschnitt und Flaum auf der Oberlippe verschmitzt fest. Der mit der documenta fifteen angesagte Paradigmenwechsel weg von der oder dem angesagten Ausnahme-Artisten, hin zum Kollektiv, das mit künstlerischen Mitteln in einer Gemeinschaft mit und für sie in die Gesellschaft hineinwirkt, ist bei Bullings Arbeit nicht abzulesen.

War es seine Biografie, die ihm zur Einladung nach Kassel verhalf? Der Indi-Comiczeichner, Kunst-Welt-No-Name ein willkommener Störfaktor im documenta-Kanon? Mag sein. Die Antwort liegt mehr in Bullings sozialer Haltung. Gemeinschaft zählt für ihn mehr als Künstler-Ego. Damit war er nach dem Documenta-Fifteen-Lumbung-Reisscheunen-Kooperations-Prinzip, das für gemeinsames Haushalten und füreinander Einstehen steht, als Teilnehmer prädestiniert. Den Verkaufserlös seines documenta-Comic-Book «abfackeln», in der englischen Version «firebugs», (2022) wird er mit seiner Berliner Ateliergemeinschaft in einer Finanz-Kooperative teilen. Zur documenta hat er die libanesische Gruppe Samandal eingeladen, um mit der queeren Truppe eine Anthologie zu produzieren. Und er möchte das Forum dazu nutzen eine Comiczeichner*innen-Gewerkschaft zu gründen.

Nino Bulling gehört damit zum Dirty Dozen Künstler*innen, die im Katalog der documenta fifteen unter ihrem Namen und nicht als Teil eines Kollektivs firmieren. Bekannte Teilnehmer*innen wie Hito Steyerl, mit zwei grossen Installationen vertreten, und Tania Bruguera als Kopf der kubanischen Gruppe Instituto de Artivismo Hannah Arendt sind nicht dabei. Sie fügen sich prima inter pares in ihre Künstler*innengemeinschaften.

Mulmig wird es Bulling, als wir feststellen, dass auf seinem Saalzettel zwar sein Name, aber weder die Materialangaben seiner Arbeit noch, wie mit den Kurator*innen verabredet, die Namen seiner Mitstreiter*innen genannt werden. Ein Versäumnis, das nicht nur dem Berliner Künstler widerfahren ist. Im Gegensatz zum Hollywood-Kino, das nach langen Kämpfen durchgesetzt hat, dass jede*r an der Produktion Beteiligte im Abspann genannt werden muss, ist das Bewusstsein dafür im Kunstbetrieb nur mässig entwickelt. Für eine documenta, die Gemeinschaftlichkeit als Produktionsprinzip der Kunst auf die Fahnen schreibt, ist dieser Umstand schwer verzeihlich. Mit Bulling kann man nur sagen: Face it, change it!

d15 – Foto: Max Glauner

III. Lumbung oder von Partizipation, Kooperation und Kollaboration

Der Ruf, die Kunst möge die gefallene Menschheit weiser machen, beglücken und erlösen, ist so alt wie ihr Begriff, der sich mit der Aufklärung im 18.-Jahrhundert formierte. Josef Beuys’ Schlagwort von der «Sozialen Plastik» ist ein schöner Nachhall darauf. So nimmt es nicht für Wunder, dass sich das indonesische Künstler-Aktivist*innen Kollektiv Taring Padi für das Tableau «People’s Justice» (2002) die Ikonologie eines christlichen Weltgerichts zu eigen macht. Antisemitische Stereotypen inklusive. In einem Haufen Schädel, beschriftet mit Stätten des Kriegs und Leids, fehlten Auschwitz, Sobibor, Treblinka. Der Banner aus der Post-Suharto-Diktatur wurde wie in den Feuilletons sattsam diskutiert, wenige Tage nach seiner Kassler Veröffentlichung am prominenten Friedrichsplatz verhüllt, dann abgebaut. Die hunderten karnevalesken Pappfiguren mit Tragestäben darum herum in den Boden gerammt, abgeräumt. Solche Figuren wurden in Demonstrationszügen in Yogyakarta 1998 als Ausdruck des Protests getragen. Taring Padi dachte an ein Reenactment: Die Kassler Bevölkerung sollte mit ihnen als bunte Masse social media-tauglich durch die Innenstadt marschieren. Daraus wird nun nichts.

Die Eindrücke der vier d15-Priview-Tage von Bulling bis Taring Padi sind disparat, für das Publikum schwer einzuordnen. Die documenta fifteen steht zunächst für Kunst, die sich nicht mehr um schöne, anregende mithin fetischisierte Objekte kümmert, sondern primär um einen Prozess als Vorgang der gemeinsamen Ermächtigung aus und mit einer Gemeinschaft in die Gesellschaft hinein. Der mediale Hype um den Antisemitismus-Verdacht des d15-Kuratorenteams erklärt sich neben der organisatorisch-kuratorischen Präpotenz auch durch den Umstand, dass den Feuilletons die Zeit und die Kriterien und Qualitätsmassstäbe für prozesshafte, performative Kunst, dazu noch aus dem globalen Süden fehlen. Diese drehen sich um die Begriffe künstlerische (Produktions-)Gemeinschaft, Partizipation und Verantwortung.

Wir schlugen in Band 240 von Kunstforum International vor, den Begriff der Teilhabe an Kunst, von zeitbezogenen Live-Akts bis hin zur Produktion von Kunstwerken in drei Modi zu differenzieren: Partizipation als Interaktion, Partizipation als Kooperation und als Kollaboration. Begriffshuberei? Wir sehen darin ein sinnvolles Angebot. Der von der Kurator:innen Ruangrupa eingebrachte Term «Lumbung, Reisscheune» für eine geteilte, gemeinschaftliche Kunstproduktion, deckt sich in weiten Teilen mit den vorgeschlagenen Begriffen. Sie lenken unterschiedliche Perspektiven, Schlaglichter auf Vorgänge, Performanzen, die die strikte Trennung von Betrachter-und Macher:in, Publikum und Künstler:in wenn nicht aufheben, so doch in Frage stellen. Ein Grundprinzip der documenta15. Die Fülle, dessen, was in Kassel zu erfahren ist, wäre damit leichter zu differenzieren und nicht zuletzt intensiver zu erleben.

d15 – Foto: Max Glauner

IV. Lumbung oder von Partizipation als Interaktion

Noch einmal zurück zum indonesischen Kollektiv Taring Padi. Durch seinen aktivistischen Hintergrund der Anti-Suharto-Bewegung und sicher auch durch die persönlichen Beziehungen zu den Kurator:innen, auch wenn es nicht zum Inner Circle der Ruangrupa nachgestellten 14 Lumbung Member-Gruppen gehört, ist es an mehreren Standorten der documenta fifteen prominent vertreten. Es steht damit phänotypisch für das Konzept der documenta fifteen. Im und vor dem umgewidmeten modernistischen Hallenbad Ost kann es sich ausbreiten, zeigt grossformatige Banner in einer propagandistisch-expressiven, figurativen Bildsprache und groteske Pappfiguren aus Protestzügen. Die formale Ausführung erstaunt in ihrer stilistischen Einheitlichkeit. Es mögen viele Hände kooperativ daran mitgewirkt haben. Der Kunstwille aber ist klar gerichtet, individuelle Form kein Thema. Eine künstlerische Kollaboration, ein Kollaborativ, in dem Individuen hervortreten, ist nicht sichtbar.

Anders als beim haitianischen Kollektiv Atis Rezistans in der weiten Halle der St. Kunigundiskirche etwas weiter südlich im Kassler Vorort Bettenhausen, sie zeigen überwiegend Skulpturen, die durch Umrunden zu erschliessen sind, stehen wir bei Taring Padi einer musealen Inszenierung gegenüber, die die ausgestellten Malereinen zu opaken Ikonostasen aufmauern. Wir sind im besten Fall einfühlende Betrachter. Entgegen der Intention von Partizipation keine Spur. Diese sollte mit der Kassler Bevölkerung seiner Inhalte entleert als Reenactment durch den Pappfigurenumzug in der Stadt hergestellt werden. Der interaktive Programmpunkt ist nun gestrichen.

d15 – Foto: Max Glauner

V. Lumbung oder von der Partizipation als Kooperation

Die Kasseler Angebote an interaktiver Teilhabe sind gross. Sie reichen vom Ausziehen des Schuhwerks um über Landkarten zu Laufen (Instituto de Artivismo), Abgreifen von Druckerzeugnissen (lumbung Press) einer Half Pipe zum Skaten (Baan Noorg Collaborative) über das Passieren von Transiträumen (Wajakuu Art Project), alle in der documenta-Halle) bis hin zum Teetrinken im Beduinenzelt mit Livemusik und direkten Kontaktmöglichkeiten zu den Künstler*innenn (Fondation Festival sur Niger, Hübner Areal)).

Partizipation auf der kooperativen Ebene wird dem Publikum demonstrativ im Mutterbau der documenta, dem Fridericianum, angeboten, Werkstätten, Ateliers für die kleinen documenta-Besucher im Erdgeschoss. Mitmachkunst für die Älteren findet auf pädagogischer Distanz statt. In den oberen Geschossen signalisieren im Kreis aufgestellte Hocker, Tische, Stühle, Schaubilder und Wandtexte Werkstattatmosphäre, Begegnungs- und Gesprächsoptionen mit den ausstellenden Künstler*innen. Kurz gesagt: Für das erwachsene Publikum findet die partizipative Kooperation weitgehend auf der edukativen Ebene statt.

Kooperation gelingt allerdings auf Produzentenseite nicht immer lumbung-paritätisch. Aus der Kooperative behauptet sich nicht selten ein solitärer Kunstwille, der der Truppe den Stempel aufdrückt, wie bei dem transafrikanischen Netzwerk Another Roadmap Africa Cluster (ARAC, 1. OG Fridericianum). Das Konzept und die Umsetzung stammen hinter einem schön designten Vorhang visualisiert, von dem Künstler und Autor Christian Nyampeta, der sich eine reeducation aus afrikanischer Sicht auf die Fahnen geschrieben hat.

Oder Wakaliga Uganda. Im hinteren Ende der documenta-Halle untergebracht, führt das Filmkollektiv einen Indi-Splatter-Reisser aus den Squatters Kampalas auf. Die fröhliche Appropriation von Hollywood- und Hong-Kong-Kino ist vergnüglich, sorgt aber früh für Ennui, da die regulativen Bezugsgrössen wie die auch hier praktizierte Ausbeutung von Darstellern und Resoucen allzu durchsichtig sind.

Was weist darüber hinaus? Singen. Es ist Ausdruck von Selbstermächtigung, Stimme als Leben und im Verein, von Gemeinsamkeit. Es gab wohl keine documenta, in der in Video und Audios so viel gesungen wurde (schöne Beispiele, die Installation der südafrikanischen Gruppe MADEYOULOOK im Hotel Hessenland und die Videoarbeiten Asit (2022) von Pınar Öğrenci im Hessischen Landesmuseum und Lonely Trees (2018) des syrisch-kurdischen Kollektivs Komîna Fîlm a Rojava im 2. Obergeschoss des Fridericianums). Kollaborativ: Wir summen mit.

d15 – Foto: Max Glauner

VI. Lumbung oder von der Partizipation als Kollaboration

Kooperation und Kollaboration werden von den Veranstaltern synomym behandelt. Wenn es sich um gemeinsame künstlerische Tätigkeit handelt, lohnt es sich diese Begriffe zu trennen. Kooperationen finden sich überall, wo zum Zustandekommen eines Werks oder einer Aufführung mehr als eine Person nötig ist und zielorientiert ausgemacht werden muss, wer was tut. In der Kollaboration geht das beteiligte Subjekt jedoch nicht auf, geschweige denn unter. Es bleibt als Individuum mit seiner Spur sichtbar, das Werk trägt zu seiner Indviduation, seiner Sichtbarkeit bei. In der künstlerischen Zusammenarbeit sind daher nicht Kollaborationen, sondern Kollaborative am Werk, in denen die Beteiligten als Subjekte, als Ermächtigte und Unterworfene erscheinen. Hier liegt das Geheimnis der Kunst.

Beispiele dafür gibt es in Kassel allerdings wenige. Herausragend, die verstörend-schöne Licht-Klang-Installation der 1973 in Hanoi geborenen Künstlerin Thi Trinh Nguyen im historischen Rondell an der Fulda. Sie kollaboriert mit den Klimaverhältnissen ihrer Heimat. Via Internet überträgt sie die Winde im entfernten Vietnam aus einem ehemaligen Internierungslager des Vietkong. In der dunklen Kuppelhalle des historischen Mauerwerks bringen sie Bambusrohre zum Klingen und werfen ein zauberhaftes Schattenspiel der unter der kreisrunden Besucherplattform befestigten Chili-Sträucher an die schrundigen Wände. Ihr Kollaborativ gilt den Winden und ihren Tönen, dem Ort und seinen Geschichten. Allein der Gang dorthin lohnt einen Besuch in Kassel.

Der Text erschien zuerst in Kunstforum International 2022

d15 – Foto: Max Glauner

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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