Gezeigt wird in der Ausstellung Max Beckmann/Friederike Feldmann. Nachtgedanken in den hohen Ausstellungsräumen der Staatlichen Graphischen Sammlung München nicht viel. Doch das Wenige, das zu sehen ist, verschlägt einem den Atem. Da sind drei Zeichnungen des Ausnahmekünstlers Max Beckmann in Bleistift, Tusche, Kreide und eine Auswahl Zeichnungen, Aquarelle und digital bearbeitete Fotografien Friederike Feldmanns, die in einem gefühlt unendlichen Korridor in 2 x 6 Vitrinen rechts und links präsentiert werden, gleichsam die Back-Stage-Auslage des Making-Off der Nachtgedanken.

Am Ende des Korridors reisst der Raum auf und die Besucherin, der Besucher steht in einem hohen Saal mit sakraler Anmutung. Die Wände, strukturiert durch grosse, grau abgesetzte weisse Flächen beginnen mit einfachsten malerischen Mitteln zu tanzen. Dahinter schliesst sich ein weiterer, etwas kleinerer Saal an, an dessen Stirnwand eine monumentale scherenschnittartig-abstrakte, monochrome Figur sich türmt und spreizt, auseinanderzufallen droht und doch in einem labilen Gleichgewicht gehalten wird. Eine frühe Tuschzeichnung Beckmanns, ein Selbstportrait 1902, findet sich verloren im ersten Saal, im zweiten dominanter, eine Kreidezeichnung Spiegel auf einer Staffelei aus dem Jahr1926. Das war’s. Doch mit der Inventarliste ist wenig gesagt.
Die Münchner Pinakothek der Moderne besitzt eine einzigartige, neben dem Saint Louis Art Museum die umfangreichste Sammlung Max Beckmanns, einem der eigenwilligsten und bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Ein, wie es immer wieder tönt, Titan der Kunstgeschichte.
Nachdem der Unangepasste in den 1980er-Jahren mit zahlreichen Retrospektiven in Erinnerung gerufen wurde, ist es heute um ihn etwas still geworden. Stehen wir vor einem Revival? Der Leiter der Staatlichen Grafischen Sammlung München Michael Hering mag sich so etwas gedacht haben und rief eine Ausstellungstrilogie ins Leben, Einladungen an zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler, die sich mit dem Bestand an Beckmann-Grafiken der Staatlichen Sammlung auseinandersetzen sollen.

Das ist eine Herausforderung. Denn man stellt seine Arbeit ins prüfende Licht eines kunsthistorisch abgesicherten Grossmeisters. Den Auftakt machte im vergangenen Winter der israelische Videokünstler Omer Fast.
Wird die Herausforderung zur Zumutung, wenn, wie im Fall Friederike Feldmann, eine zeitgenössische Malerin zur Begegnung mit Beckmanns Werk, wenn auch «nur» dem grafischen, aufgerufen wird? Tatsächlich begegnen sich Beckmann und Feldmann auf demselben Feld, den klassischen Bildenden Künsten, Malerei und Grafik. Ihre Waffen, ihre Mittel jedoch sind grundverschieden. Damit wird die Begegnung fruchtbar.
Im Gegensatz zu Beckmann kennt Feldmanns Malerei keine Staffelei, kein Tafelbild, auch aus Renitenz gegenüber einer männerdominierten Tradition und dem lähmenden Anspruch des zeitlosen Meisterwerks. In frühen Jahren hat sie sich ironisch als Teppichhändlerin bezeichnet. Ihre erste bekannte Werkserie aus der Mitte der 1990er-Jahre bestand aus illusionistischen Ölgemälden. Sie zauberte pastos im Massstab verkleinerte Orient-Teppiche, später miniaturisierte Barockaltäre oder den Schiefen Turm von Pisa an Wände ihrer Auftraggeber. Isfahan 1 + 2 (1995/96) überdauerten auf Holz gemalt. So sehr Wandmalerei für die Ewigkeit gedacht scheint, wir dürfen an Giotto oder Michelangelo denken, ist sie mit dem Eintritt in die Moderne doch ephemer und unterläuft den heteronormativen Anspruch von Kunst. Die Künstlerin blieb dabei auf die Wand zu malen, im Bewusstsein, ihre Arbeit würde nach Ablauf einer Ausstellung wieder verschwinden und nur in Dokumentationen und in der Erinnerung ihres Publikums fortdauern.

Feldmann verlässt in ihrer malerischen Entwicklung die mimetische Abbildung und entwickelt eine eigene Bildsprache, die sich trefflich als illusionistischer Konzeptualismus bezeichnen lässt. Illusion erzeugt nun nicht die Mimesis, die illusionistische Teilmenge von Bild und Gegenstand, sondern die Inszenierung der Übergänge von Wand und Fläche zur Figur, von Malerei zur Zeichnung und von dort weiter zu Linie und zeichnerischen Gesten, die an Schrift erinnern, wie in brico, 2017, in der Hamburger Kunsthalle, oder Headlines 2019 im Berliner Ausstellungsraum Kindl.
Mit diesem Repertoire im Köcher hält Feldmann Beckmann souverän auf Distanz. Und schon der erste Saal, ein Tabula rasa sondergleichen, ist Verweigerung mit Kampfansage, ein Spiel mit Auge und Verstand. Die acht weissen Flächen sind in den Seiten verzogen und aus dem Lot gekippt und führen durch diesen malerischen Trick ein performatives Eigenleben. Doch sie sind nicht wie es scheint, auf einen grauen Hintergrund getüncht, sondern die nackte Wand selbst, ihre grauen Schatten-Ränder mit Dispersionsfarbe und Rollpinsel erzeugte Trompe d’Œiles, Kunststücke der Augentäuschung.
Beckmanns Geschichte ist auch eine Geschichte der ungemalten Bilder. Er verbietet seiner ersten Frau «Mink», das Malen, die daraufhin das Singen beginnt, und seiner zweiten Frau «Qappi», die nicht malt, aber professionell singt, auch das Singen. Bei Google sind zwar viele Portraits der beiden abrufbar. Nach Arbeiten von Mink, die nach der Scheidung von Beckmann die Stimme verliert, aber wieder zu malen beginnt, sucht man vergeblich.

Wer will, kann Feldmanns Intervention auch als Platzhalter für die nicht gemalten Bilder der Kunstgeschichte verstehen, ihre Entscheidung, Beckmanns dämonisch-düsteres Tusch-Portrait ikonisch in diesem Raum zu platzieren, auch als Mahnung, Vorbilder zu Göttern zu hypostasieren. Oder als Ansporn es den Vorbildern gleichzutun. Dafür steht ihre monumentale Wandarbeit Nachtgedanken, die der gesamten Schau, den Namen gegeben hat. Nach der Tabula rasa des ersten Saals setzt Feldmann hier strategisch die Appropriation. Aus Grafiken und Gemälden Beckmanns wählt sie ein Ensemble von Requisiten, Schwert, Vase, Muschel, Champagnerglas, Vase und bläht sie auf und verschiebt die monströsen Negativ-Ausschnitte zu einer abstrakten Figur, die in der Illusion von ausgeschnittenem und an der Wand befestigtem Karton oder Papier ihr Spiel von Grund und Fläche spielt. Das Kerngeschäft des Malers ist Täuschung, Illusion. Das führt Feldmann mit Bravour vor und öffnet mit diskreten Gesten Augen und Verstand, einen Seh-Raum, einen Denk-Raum, der Richtungen angibt, doch abschliessende Antworten, ein Urteil verweigert. Das befreit.