Lina Lapelytė: Undine rockt. Chorgesang als plastischer Körper

Teil 6 der KUNSTFORUM-Reihe SHIFTING SPACES

Die theatrale Installation „Sun & Sea (Marina)“ machte die litauische Künstlerin, Performerin, Regisseurin und Musikerin Lina Lapelytė 2017 auf einen Schlag zur bekannten Größe im Kunstfeld. Sie errang mit ihren Kolleginnen Rugilė Bardžiiukaitė und Vaiva Grainytė für den litauischen Pavillon auf der Venedig-Biennale einen Goldenen Löwen. „Sun & Sea“ tourte von da an auf Festivals in Räumen und Besetzungen. Lina Lapelytė entwickelte ihre Performative Visual Art auf faszinierende Weise weiter, zuletzt auf dem Zürcher Theaterspektakel mit ihrer Arbeit „What happens with a dead fish?“. Ihr ist der 6. Teil der KUNSTFORUM-Reihe Shifting Spaces gewidmet. Im Auftrag der Stadt München arbeitet sie gegenwärtig an einer großangelegten Klanginstallation im öffentlichen Raum in 2023.

Allen Künstlerinnen und Künstlern dieser Reihe ist gemeinsam, dass sie an der Schnittstelle zwischen Bewegung und Objekt, zwischen Performativer und Visueller Kunst arbeiten.[1] Mit einer immer grösser werdenden Durchlässigkeit zwischen den Gattungen, Medien aber auch den Ausbildungsgängen an Kunst-, Design- und Theaterhochschulen und nicht zuletzt durch die Neugierde und den Erfindungsreichtum der Künstlerinnen ist in den letzten Jahren ein enormer Reichtum an freilich oft flüchtigen, in Fotos, Videos und Dokumentationen nur unzureichend überlieferbaren Formaten entstanden, die sich als Performative Visual Arts nur schwer rubrizieren lassen, aber zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Warum? Ich möchte hier zwei Gründe anführen. Erstens, wir verlernen mit der digitalen Welt, ihren Gadgets und Sozialen Medien die Begegnung. Die Begegnung mit unserer Umwelt, ihren Objekten, ihren Tücken, den Mitmenschen. Damit wächst jedoch auch wieder das Bedürfnis, direkt zu kommunizieren, Körper zu spüren, Blicke auszuhalten, Schweiß zu riechen, sich gemeinsam, unmittelbar diskursiv auszutauschen. Der Kunst kommt dabei eine elementare Rolle zu.[2] Sie vermag Situationen herzustellen und Gemeinschaften zu stiften, macht Angebote, veranstaltet über die Party hinaus Feste. Indem sie Situationen schafft, wird das Publikum performativ einbezogen, aktiver Teil der Aufführung, der künstlerischen Setzung. Im besten Fall wäre die Kunst Katalysator eines gesamtgesellschaftlichen „Empowerments“.

Zweitens, damit träten die Performative Visual Arts eine Gegenbewegung zum neuerlichen Strukturwandel des Kunstfelds an, der sich, wie jüngst von Isabelle Graw treffend beschrieben, in einer Spaltung kritischer Öffentlichkeit in Internet-Bubbles und Asset-Owner-Resorts vollzieht.[3]  Künstler:innen entdecken die Möglichkeiten, sich im Performativen gegen die Fetischisierung ihrer Arbeiten zu wehren und Vermarktungszwängen und Verwertungsketten zu entziehen. Sie entziehen sich dem viszeralen Feld des Internets wie des Blue-Chip-Markts – freilich um den Preis, dass sie meist auf mäzenatische Großzügigkeit oder auf die von der öffentlichen Hand subventionierten Theater und Festivals angewiesen sind. Dennoch ist man dem Druck marktgerechte Wahre zu liefern zunächst enthoben. Das Publikum zeigt sich differenzierter, die Teilnehmer heterogener, ein intensiver Diskurs wahrscheinlicher – Theatergänger finden sich im Kunstfeld und umgekehrt. Die Neu-Definition und Entfaltung der Visual Performative Arts steht erst am Anfang.


Die Kulisse ist atemberaubend. Im Sonnenuntergang glänzt die Altstadt Zürichs und verdoppelt sich in den dunklen See, wie die eng und teuer bebauten Ufer nach Osten, wo unter schwarzen Gewitterwolken die Alpenriesen grüßen. Es ist kurz nach acht Uhr. Wir befinden uns Anfang September am Ufer der kleinen, durch einen Steg mit der sogenannten „Landi“-Wiese verbundenen Stäfa-Insel am Zürichsee. Alljährlich findet auf dem Areal in eigens dafür erstellten Bühnen und Lokalen das Theater-Spektakel statt.

Lina Lapelytė grinst herüber. Sie trifft unter einer Plane am Regiepult mir ihren Darsteller-Sänger:innen letzte Verabredungen für die Aufführung. Alle sind in graue Kapuzenoveralls gehüllt. Darunter Neoprenanzüge. Gleich geht es ins Wasser, ihre Bühne, Scheinwerfer auf Pontons rechts und links, zwei Luftkissen und eine im Wasser vollständig versenkte Treppe stehen bereit, davor Mikrofone, das Publikum wird an der Böschung in drei Zuschauerreihen Platz finden, die unterste schwimmend am Ufer vertäut.

Die Regisseurin gibt ein Zeichen. Die 18 Mitglieder des Seefelder Kammerchors steigen mit ihr ins kühle Nass und drapieren sich wie tot auf dem rechten Ponton als hätte man’s mit den Leichen Géricaults „Floss der Medusa“ zu tun. Die Zuschauer werden eingelassen. Das Spiel beginnt im schwindenden Tageslicht mit einem zarten Lied Lapelytės, worauf die Darsteller:innen ins Wasser gleiten und sich frontal zum Publikum auf der Treppe in vier Reihen formieren. Ein starkes Bild. Untote aus einem Zwischenreich, der Chor, wie schwebend im Wasser, beginnt zu singen: „What happens with expired food?“

Wasserwesen

Sirenen, Nixen, Undine, Melusine, die schöne Lau – die Sagenwelt ist voll von Gestalten, die den flüssigen Aggregatzustand mit einem ideologisch unterfütterten Ur-Weiblich-Kreativen in Verbindung setzen. Künstlerinnen wie Joan Jonas[1] oder jüngst die Choreographin Florentina Holzinger[2] schließen sich dem kritisch-affirmativ an, ohne sich vereinnahmen zu lassen.

Auf die Frage wie sie es mit dem Wasser hält, lacht die litauische Künstlerin, „ja, das kommt in meinen Arbeiten öfter vor,“ antwortet sie. „Aber ich habe das Wasser nicht gesucht. Es hat mich gefunden.“ Ihr erster öffentlicher Auftritt im nassen Element war 2013 mit einer „Candy Shop“-Performance im Rahmen des Veranstaltungsreihe „Wet Sounds“, das immersive Licht- und Ton-Badeerlebnisse verspricht. Von eindeutigen Zuschreibungen hält sie nichts: „Mit mir oder meiner Identität hat das wenig zu tun.“

Lina Lapelytė ist ein Multitalent. 1984 im litauischen Kaunas geboren, spielt sie nahezu jedes Instrument, das sie in die Hand kriegt. Sie ist ausgebildete klassische Violinistin, Sound Artistin und im Besitz eines Masters in Bildhauerei am Londoner Royal College of Art. Darüber hinaus zeichnet sie in ihren Produktionen neben der Musik als Szenografin und Regisseurin verantwortlich. Ihr Leben pendelt zwischen der litauischen Hauptstadt Vilnius und London.

Dieser zwischen den Ländern und Disziplinen nomadisierende Hintergrund erklärt, warum sie bevorzugt weder in der Black Box des Theaters noch im White Cube der Galerie agiert. Sie erfindet ihre eigenen sitespezifisch definierten Räume, Dramaturgien und Inszenierungen. Ihre Produktionen entwerfen weder ein lineares Narrativ noch hinterlassen sie Objekte, die sich in den Kunstmarkt einspeisen ließen, von Video-Arbeiten abgesehen.

Nach Beendigung ihres Studiums ging es Schlag auf Schlag. Seit 2013 veröffentlicht sie Performance-Serien, in denen sie Laiensänger und ihr Publikum in ungewöhnlichen Aufführungssituationen durch ein breites Spektrum von Genres vom Mainstream und Indi-Volk bis zur Oper zieht. Das Singen wird zum affektiven gemeinschaftsstiftenden Ereignis, der Chor zu einem zentralen Moment ihrer Arbeit. „Mir geht es dabei aber nicht um die Musik an sich. Sie besitzt eine funktionale Rolle,“ kommentiert Lapalytė. Aus dem Klangkörper formt sich eine soziale Gemeinschaft.

Auf berührende und befreiende Weise gelang ihr dies in der ersten Gemeinschaftsarbeit mit Rugilė Barzdžiukaitė und Vaiva Grainytė „Have a Good Day!“, die 2011 ihen Anfang nahm, eine Oper für 10 Sängerinnen, die auf Podesten vor dem Publikum uniform aufgereiht als Supermarkt-Kassiererinnen von ihrem Alltag, Wünschen und Träumen sangen. Aus der Routine bricht Widerstand heraus, aus der Regel, das Unregelmäßige, auch Bedrohliche. Wie in der zweiten Arbeit der Drei, „Sun & Sea“ zur Venedig Biennale 2019. Warum sie nicht unter einem gemeinsamen Label auftreten? „Das brauchen wir nicht. Wir sind zu unterschiedlich, als dass unter einen Hut passen,“ antwortet die Künstlerin trocken.

Choral empowerment

Chorisches Empowerment, Berührung, Begegnung durch die Gewalt der Musik und Kraft der Bilder, die auf den umgebenden Raum bezogen sind, das begegnet uns in Lina Lapelytės Arbeit immer wieder. Und immer wieder spielt Wasser eine entscheidende Rolle: Zur Riga Biennale RIBOCA2, 2020, versammelt sie im Kollaborativ mit dem Architekten Mantas Petraitis in „Currents“ an einem Flussarm 2‘000 Holzstämme um einen Steg, baut eine Soundinstallation auf und zeigt mit zwei Back-up-Sängerinnen die Performance „Instructions for the Woodcutters“. Ihr suggestiver Sprechgesang, „They were going on and on“, wird in „What Happens With A Dead Fish?» wieder auftauchen. Serielle, repetitive Verschiebungen in den Kompositionen, Motiven, Bildern und Themen sind stellen ein zentrales Prinzip ihrer Arbeit dar.

Die Künstlerin passt die Brüssler Uraufführung von „What Happens With A Dead Fish?» 2021 den Zürcher Gegebenheiten an. Was vorher in einem zum Kunstenfestivaldesarts eingerichteten provisorischen Schwimmbad gezeigt wurde, muss nun in den See. Der Chor wird grösser. Die Sänger bekommen die schwimmenden Inseln als Aktionsflächen hinzu, die Gesänge, die Choreografie werden erweitert. Konnte sich das Publikum in Brüssel frei bewegen, sitzt es nun in Reihen vor den Akteur:innen. «Sicher, mir ist lieber, die Leute können ihre Positionen und Perspektiven während der Aufführung frei wählen, hier war aber mehr Theater angesagt und weniger Kunst,» stellt Laypelytė verschmitzt fest.

Immerhin war es möglich hinter der Absperrung die Aufführung zu verfolgen. Die Vorstellungen waren überlaufen. Nach gut 50 Minuten verliess das Publikum mit glänzenden Augen das Terrain. Eigenartig, was man da zu sehen bekam. Nach «Sun & Sea» als Allegorie auf eine Gesellschaft vor der Apokalypse nun die Allegorie einer post-apokalyptischen? Singende Aliens, tolle Musik, bestechende Tablaux vivants – zum Schluss als Rettungssymbol die Sänger:innen auf ihrer Schwimminsel wie Rodins «Bürger von Calais» gruppiert. Lina Lapelytė freut sich über diese Beschreibungen. Ausgedeutet ist ihre Arbeit damit jedoch noch lange nicht.




[1] Shifting Spaces portraitierte nach der Video-, Performance und Theaterkünstlerin Wu Tsang (Auftakt März-April 2020, Band 266), der Video- und Performancepionierin Joan Jonas (Band 268), der Tänzerin und Video-Künstlerin Alexandra Bachzetsis (Band 272) und dem Immersive Art Space des Departements Darstellende Künste und Film der Zürcher Hochschule der Künste (Band 276) in seiner letzten Ausgabe den Künstler und Szenographen Dominic Huber (Band 279).

[2] Siehe die Konzepte der Situationistischen Internationale und Beuys Figur der Sozialen Plastik. Eine erneute entpolitisierte Begründung erfolgte Anfang der 1990er-Jahre durch Nicolas Bourriauld mit dem Begriff der «Relational Art».

[3] Isabelle Graw, Willkommen im Resort. Sechs Thesen zum neuerlichen Strukturwandel des künstlerischen Feldes und zu dessen Folgen für die Wertbildung, in: Texte zur Kunst, Heft Nr. 127 / September 2022, S. 43-65

[1] Joan Jonas mit dem Oceans Space in der Thyssen Bornemisza Art ContemUnd porary an verschiedenen Orten, online: https://www.tba21.org/#item–JoanJonas–1928

[2] Florentina Holzinger, Ophelia’s Got Talent, UA Volksbühne am Rosa Luxemburgplatz 15.09.2022, online: https://www.volksbuehne.berlin/#/de/repertoire/ophelias-got-talent

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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