Shifting Spaces: Christoph Rütimanns Psychogeographien – Dérive Winterthur

Die Stadt ist Bühne. Sie wurde als düster, bedrängend aber auch als ein heller Möglichkeitsraum beschrieben. Für den Flaneur wird sie zum Ort der Beobachtung und Erforschung menschlichen Verhaltens, von Anpassung, aber auch von Veränderung und Rebellion. In dieser Tradition steht die «Psychogeografie», ein Begriff, der von uns vorläufig als künstlerische Praxis der Raumerkundung und Raumbesetzung vorgeschlagen wird. KUNSTFORUM International widmete dieser Praxis als «Urban Performance» bereits 2014 zwei Monografien.[1] Wir ergänzen nun Perspektiven, die damals nicht in den Blick kommen konnten, wie den Schweizer Maler, Zeichner, Installations-, Performance-, Foto- und Videokünstler Christoph Rütimann, der hier im Zentrum steht. Er zeigt gegenwärtig die Summa seiner Werkreihe Geh-Länder im Kunst Museum Winterthur.[2] Rütimann auch als einen begnadeten Psychogeographiker zu apostrophieren liegt nahe, auch wenn er sich selbst nie als solchen bezeichnet hat.

Psychogeographie

Ein Grund, der Begriff Psychogeografie ist bis heute diffus.[3] Das liegt nicht zuletzt in seinem Ursprung: Seine Gründungsurkunde stammt aus dem Jahr 1955 oder 1957. Ganz eindeutig ist das nicht festzustellen.[4] Es handelt sich um Guy Debords Guide psychogéographique de Paris, lithografierte Karte in der Größe von 60cm x 74cm. Sie hätte mit vier weiteren, darunter die berühmte Collage The naked city in einer Ausstellung mit Asger Jorn, Yves Klein und Ralph Rumney in Brüssel gezeigt werden sollen. Sie kam nicht zustande. In unzähligen Publikationen reproduziert, steht der Guide heute emblematisch für die Bewegung des Situationismus und die ebenso 1957 gegründete allerdings kurzlebige Vereinigung der Situationistischen Internationale. Er zeigt neunzehn wie Inseln aus einem Pariser Stadtplan ausgeschnittene Quartiere, die durch rote Pfeile dynamisch verbunden sind. Debords Guide/ Führer lässt in zwei mal sieben Felder falten, wobei sich links aussen ein Deck- und Rückblatt ergeben. Neben dem Titel werden auf dem Deckblatt die Herausgeber, das Bauhaus Imaginiste, und der Erscheinungsort Dänemark vermerkt. Statt einer Legende erweitert das Rückblatt den Titel und erklärt vielversprechend, es handele sich hier um einen «discours sur les passions de l’amour», einen Diskurs über die die Leidenschaften der Liebe, und führt weiter aus: «Pentes psychogéographiques de la dérive et localisation d’unites d’ambriances, par G.-E. Debord.» Wir übersetzen frei: Es gehe spezifisch um psychogeografische Schräglagen, «pentes», die durch eine Drift, ein Umherschweifen, «dérive», und Verorten, «localisation» von gefühlten Ambivalenzen, hervorgerufen werden. Mit dieser Spezifikation will der Autor verunsichern. «Psychogeografie» wird hier nicht in der Nominalform benutzt, sondern adverbial. Warum? Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass Debord alles vermeidet, was einer Fixierung, einer eindeutigen Form nahekommen könnte. Der Neologismus Debors intendiert die Dynamik einer Graphie, einer Schrift, einer Kunst, die sich aus der Interaktion der (künstlerisch-revolutionären) Gefühlslage und der städtischen Umgebung ergibt, um aus dieser Konfrontation, Erschütterung, Paarung ein Neues, Widerständiges entstehen zu lassen. «Das charmante Adjektiv» (Debord) eignet sich dazu treffender.[5]

Geh-Länder

Bevor das Auge die Szene auf dem Videoschirm erfasst hat, drängt sich ein Geräusch auf. Es legt sich über die Bilder, ehe die Betrachtenden begreifen, was zu sehen ist: Ein Surren, Rattern, Rauschen, schreibt sich als Kontinuum in die Wahrnehmung ein, während das Auge kaum Halt findet. Das Spiel mit Klängen, Tönen, akustischen Interferenzen zieht sich wie ein roter Faden durch Christoph Rütimanns Werk.[6] In seiner Werkreihe Geh-Länder ist es das Rattern eines Kamerawägelchens, mit dem er Kanten, Simse, Dachtraufen, Rohre, Bauabsperrungen in und an Gebäuden und Gebautem abfährt, und so klein es ist, nahezu alle Umgebungsgeräusche schluckt, als wolle es alle Aufmerksamkeit für sich und seine aberwitzige Fahrt beanspruchen.

Inzwischen existieren in Rütimanns Serie Geh-Länder weit über 150 Videos, die jeweils unter dem Titel Handlauf, einerOrtsangabe oder dem fokussierten Gegenstand firmieren, Handlauf Seoul, Peking, Rämistrasse zum Beispiel oder Pilze, Bier, Kürbis. Im letzteren aus dem Jahr 2004/05 fährt die Kamera an einem trübnebligen Herbsttag auf einem am Boden liegenden orangeroten Plastikschlauch entlang in ein Kürbisfeld. Drei Minuten dauert die aberwitzige Fahrt, bis sie im Loop von Neuem beginnt: aus der Bodensicht auf ein rotes Monstergewächs zu, bis zur Kollision mit der Kamera, die nach dem Black und Cut kurvenreich auf ihr nächstes Ziel, den nächsten Kürbis zusteuert. Es drängt sich für den Vorgang der Eindruck auf, er sei surreal. «Subreal» wäre treffender. Zumal der Künstler ausser der gewohnten Kameraperspektive in Augenhöhe an der abgebildeten Realität bis auf die durch ein Hindernis motivierten Cuts nichts am Bild manipuliert. Sie sorgen für einen scheinbar reibungslosen Ablauf der Fahrt, einen linearen Gang, der so jedoch nie hat stattfinden können.

Die Linie als potenziell unendliches Kontinuum, als Grenze und Ordnungsprinzip, das mit der Orientierung zugleich für Irritation und Unordnung sorgt, begleitet das Schaffen des Künstlers seit seinen Anfängen. Nah an Gordon Matta-Clarks skulpturalen Durchbrüchen, Schnitten, Öffnungen in Häuser und Gebäuden in den 1970er-Jahren begann Rütimann 1991 mit geschwungenen Stahlrohrkonstruktionen wie Zeichnungen im Raum Bauten monumental zu durchstossen, zu überformen. Die endlose Linie 1991 am Bieler Musée Schwab, 1992 in einer verlassenen Zürcher Villa, 1993 im belgischen Breda und 1994 in einem Bürobau in Zürich-Opfikon definierte die Räume neu, löste ihre Grenzen und Kubaturen auf, brachte sie in Bewegung, ebenso wie die geschlossene Linie von der Kubatur unterbrochen, vom Betrachtenden ergänzt und vollendet werden musste. Die Stahlrohre der Installation Die endlose Linie 1992 in Zürich fuhr Rütimann mit der Kamera auf einem kleinen Wagen ab. Zu den Handläufen war es allerdings Jahre später ein kleiner Schritt, wenn man so will, ein «Performative Turn», der sich mit dem Ort und der Umgebung auseinandersetzt.

Besitzen

Dafür steht die Aktion Besitzen an der Berner Kunsthalle 1999. Rütimann setzte sich für das Foto der Einladungskarte mit Stuhl und Magritte-Pfeife (Cesi n’est pas une pipe) im Mund auf den Dachfirst des Gebäudes und blickte in die Ferne. Für die Ausstellung waren statt des Künstlers zwei Kreisrunde Kameraschienen auf dem Dach montiert, deren Bilder schwindelerregend in den Ausstellungssaal projiziert wurden.

Mit den Handläufen konnte das flüchtig-parformative der Aktion und die Kamera-Apparatur zusammengeführt werden. Die Handwagenkamera erschloss den Raum durch Untersicht in Hüfthöhe und am Boden, geleitet durch vorhandene Linien und Fluchten, die Stadt, Architektur und Umgebung vorgaben. 1999 inszenierte Rütimann die Performance Handlauf Zürich. Auf seinem Weg in die städtische Kunsthalle Helmhaus trug Rütimann eine Kamera und einen Bildschirm auf dem Rücken, über den das Publikum den Walk im Videobild mit seiner Realität abgleichen konnte. Und es entstehen die Handläufe Berlin 5 down/ Schlauch/ Rosarohr und Travemünde Mole, in denen der Künstler nicht mehr in Erscheinung tritt.

Promenadologie

Die Theoriebildung der Psychogeografie blieb auf akademischer Seite dürftig. Das situationistische Abrakadabra auf künstlerisch-aktivistischer Seite kreiste mehr um die Begriffe des Umherschweifens, «dérive» und des In-Beschlag-Nehmens, «détournement». Da sticht eine Figur heraus, die erst mit der documenta14, 2017, wieder ins Bewusstsein einer breiteren Kunstöffentlichkeit gerückt ist, der Basler Lucius Burckhardt, der von 1972 bis 1997 den Lehrstuhl für Soziökonomie urbaner Systeme im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung der Gesamthochschule Kassel innehatte. Ohne explizite Bezugnahme auf Debord und den Situationismus entwickelte er mit seiner Frau Annemarie in den 1980er-Jahren ein heuristisches Mittel der kritischen Stadtraumerschliessung und -erforschung, die Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie.[7] Ging es Debord darum, das «dérive» gegen das bourgeoise Schlendern des Flaneurs zu beschleunigen, geht es dem Ehepaar Burckhardt um Entschleunigung. Doch wie der Psychogeografie geht es der Promenadologie um neue Blickwinkel, Beobachtungen, Einsichten falsche (stadt-)planerischen Konzepte und Machtverhältnisse, Ein- und Ausschlussmechanismen von Architektur und Städtebau, die quer zum Gemeinwohl stehen. «Hinschauen, das tun wir oft schon nicht mehr.» äussert sich Burckhardt in einem späten Interview, «Die Spaziergangswissenschaft sucht den Ort und das Lebendige auf, versucht sich darin das Betrachten wieder zu entdecken. Betrachten heisst, neue Blickwinkel erschliessen, Sehweisen ausprobieren, Ungewohntes wahrnehmen, störende Elemente aufdecken, Fehler machen und bei sich selbst bemerken.»[8] Die Burckhardts finden dafür verschiedene Settings, in der die Promenadolog*innen als teilnehmende Beobachtende unterwegs sind. Dabei spielt das kinematografische Darstellung des Ergangenen eine entscheidende Rolle, die Übersetzung des Gesehenen in ein Narrativ, das mit den Erfahrungen der anderen abgeglichen werden kann, um zu verlernen, was jede*r sieht, das er*sie gelernt hat zu sehen.

Handlauf

Rütimanns Handläufe, die nun in den 2000er-Jahren bis heute entstehen, positionieren sich zwischen Debords beschleunigter Psychogeografie und Burckhardts abgebremster Spaziergangswissenschaft. Der Künstler filmt nicht ein Spaziergang, ein Umherschweifen ab, sondern produziert mit dem ungewohnt positionierten Kameraauge und dem Filmschnitt einen artifiziellen Blick, der das Auge des Betrachtenden in seinen Sog zieht. Erst recht, wenn Rütimann seine Handläufte wie jetzt in Winterthur im Cluster präsentiert.

Auch wenn wir das großzügige Foyer des Kunst Museum Winterthur am Stadthaus betreten, umfängt uns das Surren Rütimanns Handwägelchen aus 20 Monitoren. Er hat sie an einem auskragenden Stahlrohr-Gestänge im repräsentativen Art-déco-Treppenhaus montiert. Ein Hintergrundrauschen, wie eine Kaskade, die wir zunächst nicht identifizieren oder orten können. Hier beginnt eine Reise mit dem Video auf einem der 20 Screens Handlauf Linz, 2011, 4’33‘‘, und steigt geografisch mit unterschiedlich lang, maximal 25 Minuten geschnittenen Abstechern nach London und Odessa über 20 Handläufe in Städten der Donau-Linie, Bratislava, Wien, Budapest über Travemünde in den baltischen Raum. Im benachbarten zweiten großen Haus des Kunst Museums am Stadtgarten baut Rütimann auf dem Absatz der Haupttreppe ein weiteres Gestänge für 19 weitere Handläufe von von Aqaba, 2007, 5‘10‘‘ bis Venedig San Marco, 11‘09‘‘ 2009 auf. Durch das einfache, sich immer wiederholende Prinzip der Kamera auf einer Kante mit Unterbrechungen und Cuts entsteht so eine imaginäre, weltumspannende Linie, eine Verbindung an deren Rändern außerhalb der Fluchtline immer Neues und Irritierendes stattfindet und zu entdecken ist. Fortsetzung und zugleich vorläufigen Endpunkt findet diese in einer wandfüllenden Dreikanal-Videoprojektion, neuesten Handläufe, Handlauf Kunst Museum Winterthur | Villa Flora, sowie Beim Stadthaus und Reinhart am Stadtgarten, 2022. In schier atemlosen Staccato geht es hier durch die Säle, Räume, Trepp auf Trepp ab und auf die Dachkanten. Wir suchen nach Orientierung, Halt im kubistischen Raumgewitter der mal waagrechten, dann gekippten Perspektiven, dem Rattern des Wägelchens. Dann gewöhnt sich das Auge, sieht die Wände, Decken, Dachschindeln tanzen und wir denken, die gebaute Welt sei immer schon so schön formatiert gewesen. Es kommt nur auf die Performanz und Perspektive an.


[1] KUNSTFORUM International Urban Performance I u. II, Bd. 223 u. 224, 2013/2014.

[2] Ausstellung Christoph Rütimann. Handlauf Museum Winterthur und weitere Welten, im Kunst Museum Winterthur, vom 29.10.2022 – 19.03.2023; Katalog in Vorbereitung.

[3] Vgl. Anneke Lubkowitz, Einleitung, Psychogeografie, Berlin 2020

[4] Vgl Roberto Orth, Phantom Avantgarde. Eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst, Hamburg 1990; S.156 ff

[5] Siehe Guy Debord, Les Lèvres Nues #6, September 1955, online: https://www.cddc.vt.edu/sionline/presitu/geography.html

[6] Dazu Marcus Landert, In den Tönen. Ton und Klang im Werk von Christoph Rütimann, in: Christoph Rütimann. Der grosse Schlaf, Katalog, Kunstmuseum St. Gallen 8.12.2007-17.02.2008 u.a., Hrsg. V. Adolphs, K. Bitterli, M. Landert, Nürnberg 2007, S.21 ff

[7] Siehe Lucius Burckhardt, Markus Ritter, Martin Schmitz, Warum ist Landschaft schön? Die spaziergangswissenschaft, Berlin 2006

[8] Lucius Burckhardt, Querfeldeindenken mit Lucius Burckhadt, Radiofeature von Martin Schmitz, deutschlandfunk 2019, online: https://www.deutschlandfunk.de/querfeldein-denken-mit-lucius-burckhardt-1-3-von-der-102.html

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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