Der Irrwisch. „Professor der Apokalypse“ erzählt die vielen Leben des Religionsphilosophen Jacob Taubes

Zum 100ten Geburtstag des Judaisten und Philosophen Jacob Taubes am 25. Februar 2023 legt der U.S.-amerikanische Historiker Jerry S. Muller eine gewichtige Biografie des bewunderten und verachteten Ausnahmedenkers vor.

Jacob Taubes, Foto: Klaus Mehner/ Ullstein

Abgründe, Einblick in das Leben eines Intriganten – Im Oktober 1951 erhält der junge, aufstrebende Dozent Jacob Taubes in New York einen eingeschriebenen Brief aus Jerusalem. Ein akademisches Todesurteil. Nachdem Taubes in der Schweiz, wohin er mit der Familie des Wiener Rabbiners Zwi 1934 gezogen war, keine Aussichten auf eine Karriere hatte, versuchte er nach der Promotion zur „Abendländische Eschatologie“, 1947 in Bern veröffentlicht, in Amerika Fuß zu fassen. Eine Stelle am Jüdischen Theologischen Seminar, das ursprünglich für die Ausbildung von Rabbinern eingerichtet war, blieb unbefriedigend. Eine Alternative tat sich mit dem einstigen Freund Walter Benjamins, dem großen Religionshistoriker und einer der ersten Dozenten an der Hebräischen Universität Jerusalem, dem 20 Jahre älteren Gershom Scholem auf.

Anfängliche Sympathie und gegenseitige Bewunderung schlugen um in rigorose Ablehnung des Jüngeren durch den Älteren. „Gescheit sind wir alle,“ bekundete Scholem später, „Sitzleder muss man haben.“ Das hatte Taubes nicht. Blitzgescheit und belesen mangelte es ihm von jeher an Disziplin und Ausdauer längere Texte zu schreiben. Die „Eschatologie“ blieb sein einziges Buch, die einzige Monografie. Endgültig zu Bunt wurde es Scholem jedoch, als er feststellen musste, dass Taubes sein Vertrauen sträflich missbraucht hatte. Taubes hatte Scholems negatives Urteil über einen Promovenden taufrisch an diesen übermittelt. Das war Scholem zu Ohren gekommen. Ein „Vertrauensbruch der schwersten Art,“ so Scholem. Dem Hochbegabten Taubes blieb trotzt Entschuldigung nichts weiter übrig, als fortan als akademischer Ahasver zu nomadisieren. Und ihm lief der Ruf des Intriganten lebenslang voraus.

Besuch bei Carl Schmitt

Nach Taubes befragt, verdrehen heute viele Kommilitoninnen, die wie ich in den 1980er-Jahren in seinen Seminaren zu den Paulusbriefen des Neuen Testaments und ihrer Politik des Kreuzes saßen, die Augen und winken ab. Scharfsinnig sei er gewesen, ja, aber übertrieben arrogant und selbstverliebt. Geblieben ist uns die Einsicht, dass vor allem das in Texten zählt, was nicht geschrieben steht, im Subtext aber durchscheint, wenn die Leserin hineinhorcht. Es waren die Leserinnen, an die sich seine Lektüren vornehmlich richteten.

Wer war also Jacob Taubes? Der provokante „Erzjude“ und Adept des Apostel Paulus, als den er sich selbst bezeichnete, eine faszinierende Ausnahmepersönlichkeit oder schlicht der falsche Jakob, ein unverantwortlicher Scharlatan und Schürzenjäger? In seinen sozialen Rollen war er Hochschullehrer, Rabbiner, Judaist, Religionssoziologe und -historiker, Hermeneut und Philosoph, Nach dem Jüdischen Thologischen Seminar und dem Intermezzo bei Scholem erhielt der Tausendsassa immerhin noch ein Rockefeller-Stipendium an der Harvard  und konnte eine Gastprofessur in Priceton wahrnehmen, wo er sich mit Herbert Marcuse anfreundete, bis er in den 1960ern konnte an die renommierten Columbia University, New York, aufsteigen konnte und von dort ab 1966 als Professor an die Freie Universität Berlin, wo er bis zu seinem Krebstod 1987 lehrte. Er war zwei Mal verheiratet, 1946 bis 1967 mit der US-amerikanisch-jüdisch-ungarischen Autorin und Religionswissenschaftlerin Susann, geborene Feldmann, die bei Paul Tillich zur Philosophin Simone Weil promoviert hatte und mit der Taubes einen Sohn und eine Tochter in die Welt setzte. Sie nahm sich 1969, auch wegen der gescheiterten Ehe, das Leben. Dann nach langem Vorlauf 1967 bis 1975 mit der Philosophin Margarita von Brentano, ein Lebensbund, der über die Scheidung hinaus bis zu seinem Tod währte.

Wer also war Jacob Taubes? Hat er uns heute bei dem vergleichsweisen schmalen, unsystematischen und verstreuten Werk, das er hinterlassen hat, noch etwas zu sagen? Die Frage lässt sich heute uneingeschränkt mit Ja beantworten. Allein der kleine Text, „Noten zum Surrealismus“ in Poetik und Hermeneutik 1966 (S.139-155), öffnet Augen auf ungeahnte Tiefenschichten der Kunstbewegung.

Wir tun also gut daran, seine Person als das eine und die intellektuelle Leistung als das andere zu bewerten. Auch und gerade, weil die Faszination für das eine ins Andere, das süffig Anekdotische ins tiefgründige Durchdachte übergeht wie in keiner Intellektuellenexistenz der zweiten Hälfte des 20ten-Jahunderts. Das zeigt auf beeindruckende Weise die Biografie „Professor der Apokalypse. Die vielen Leben des Jacob Taubes“ des U.S.-amerikanischen emeritus für Geschichte und Autors Jerry Z. Muller, die nun im Jüdischen Verlag bei Surkamp auf Deutsch vorliegt.

Wir können an Kleinigkeiten kritteln, warum gibt es kein Interview mit Taubes Assistentin an der Columbia, Susan Sonntag? Wie kann es sein, dass Taubes auf Seite 145 „im September 1947 New York erreicht“, aber auf Seite 136 „im Oktober 1947 auf der R.M.S. Queen Elisabeth in die Neue Welt aufbrach“? Ärgerlich auch, dass von der bei Taubes früh manifesten Bipolaren Störung ostentativ medizinisch und grammatisch-logisch falsch von einer „manischen Depression“ gesprochen wird. Dennoch ist das Buch Mullers ein Meisterstück der Intellektuellenbiografie, über 20 Jahre hervorragend recherchiert und fesselnd geschrieben. Unabhängig, was man am Ende von der Person, der Figur, der Persönlichkeit Taubes halten möchte. Abgestoßen oder angezogen, wir sind hier von Anfang bis Ende in eine Geschichte gezogen, die wie keine andere das geistige Gemengelage der Post-WW-II-Zeit im Westen einfängt und reflektiert, in seiner ganzen Anstrengung und Brüchigkeit erzählt.

Nicht nur in Susan Taubes‘ Emanzipationsroman „Divorcing“, 1969 spielt Jacob als Ezra Blind, der Mädchenname Jacobs Mutter Fanny, die Hauptrolle. Eng mit Susan Taubes verbunden, drehte sie Autorenfilme. Jacob Taubes diente in „Duet for Cannibals“ 1969 als Vorbild für den Protagonisten, einem „wahnsinnigen Professor“ mit „dämonischen Zügen“.

Abgründe zum Zweiten.

Das ist die berühmte Bertram von Hildesheim-Anekdote vom intellektuellen Rummelboxer Taubes: Zwei Kollegen an der Columbia University versuchten Taubes beim Cocktail-Empfang eine Falle zu stellen, um ihn seiner Aufschneiderei zu überführen. Ihr Setting, sie unterhielten sich über das Konzept der Seele beim mittelalterlichen Scholastiker Bertram von Hildesheim. Taubes stieg ein und legte nonchalant dessen Theorien aus, bis die beiden Jungs den Vortag mit der Bemerkung stoppen, Bertram habe nie existiert. Betretenes Schweigen. Auch Muller legt nahe, Taubes habe sich in diesem Moment seiner narzistischen Neigung überführt gezeigt. Eine zweite Version könnte mit Mullers luzider Biografie aber auch so lauten: Taubes ist seiner Überlegenheit bewusst und extemporiert gerade darum ein Phantasma der Sonderklasse, um die beiden in ihrer Mittelmäßigkeit zu deklassieren. Peinlich war ihm die Episode nie.

Faszinierend war Jacob Taubes, weil er schwer zu fassen, sich nicht einordnen mochte, sich weder intellektuell noch politisch in der politisch so aufgeladenen Zeit der 1968er vor den Karren spannen ließ, im Gegensatz zu seinem Freuend Ludwig Marcuse. Obwohl sich Taubes als politisch links verstand, verkehrte er schon zu Studentenzeiten auch mit dem rechten Lager. Er besuchte den greisen NS-Staatsrechtler Carl Schmitt in Plettenberg 1978, um mit ihm über den jüdischen Christen Paulus und dessen politischen Konzept des Neuen Bundes zu diskutieren. Mit ihm teilte er die Auffassung, die Annahme einer hereinbrechenden Endzeit, öffne Handlungsspielräume für die politische Gegenwart. Taubes machte Schmitts These vom Katechon, dem Gegenspieler des Antichristen, und die Idee, Souverän sei, wer den Ausnahmezustand bestimmt, in der Linken populär und übte damit beträchtlichen Einfluss auf Denker wie Giorgio Agamben aus.  

Und heute? Alles Schnee von gestern? Ist in der Demokratie nicht der Souverän, der Wohlstand und guten Schlaf verspricht? Doch Taubes Analyse der Figur des Paulus geht tiefer. Im Gegensatz zu Jaques Derrida, der von Taubes mehrfach eingeladen, kaum an die Wirkmacht des Wortes glaubte, sieht Taubes hinter den Schriften ein Transzendentes wirken, das auch in die Gegenwart geholt werden kann. Der Klimawandel und die Frage, nach der Legitimation von Aktionismus, die Kriege in der Ukraine, Tigray, Jemen, Postkolonialsmus-Debatten und Migrationswellen, der Apokalyptiker Taubes hätte zu den Apokalypsen unserer Tage noch einiges zu sagen.

Der Text erschien zuerst redaktionell überarbeitet in Der Freitag Nr. 13, 30. März 2023, S. 24

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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