von Max Glauner
Ein Unbekannter? Ein Verkannter womöglich? Nach den Artikeln in Kunstforum International zu schießen, kaum. Die Arbeit von Stephen Willats, 1943 in London geboren, wird seit 1980 regelmäßig gecovert (vgl. Band 42, 61, 126, 131, 143, 169, 183, 199, 207, 240). Dennoch trügt der Eindruck nicht, dass der eigensinnige Brite von der breiten Öffentlichkeit unentdeckt, zu den Künstler-Künstlern gehört. Kunst als Forschung, Partizipation und Ermächtigung des Publikums, Kunst als soziale Praxis, Willats führte sie seit den frühen 1970er-Jahren in den Kunstbetrieb ein. Sein Name fehlt jedoch wider erwarten sowohl auf der Documenta als auch auf einschlägigen Biennalen, sieht man von der 3. Berlin Biennale 2004 ab. Neben Signposts To The Future (2003) eine Untersuchung zur Sozio-Struktur Berlin-Neuköllns, sie mündete in eine Multimedia-Installation, zeigte er damals zwei weitere Arbeiten, die zwischen 1979 – 1980 während eines DAAD-Stipendiums als kritische Bestandsaufnahmen des Märkischen Viertels entstanden waren: In Isolation leben (1979 / 1980) und Wie ich entdecke, daß wir von anderen abhängig sind (1979 / 1980).
Zwar bleibt Willats, vertreten durch Galerien, in Einzel- und Gruppenausstellungen auch danach präsent – 2006 zeigt das Siegener Museum für Gegenwartskunst eine erste Überblicksausstellung –, doch der eigentliche Durchbruch blieb aus. Umso verdienstvoller ist es, dass ihm das Zürcher Migros Museum für Gegenwartskunst nach einer langen Zusammenarbeit in diesem Sommer die retrospektive Ausstellung Languages of Dissent ausrichtet. Mit nahezu 150 Arbeiten ist das bisher die größte. Ein beachtlicher Kraftakt auch für das Haus, das die Aufgabe ohne Partnerinstitution stemmen musste. Thematisch-chronologisch kann es das Werk des Konzeptualisten – „The artist can no loger concern himself with illusions, he must work on a realistic basis,“ heißt es im Manifesto 1961 –, von seinen Anfängen bis in die Gegenwart ausbreiten.
Die geforderte Basis gibt ihm früh die Auseinandersetzung mit kybernetischen Modellen. Er setzt sie in suprematistisch-konkreten Zeichnungen (Maze Drawing No. 2, 1967), Malereien (Democratic Surface, 1961), schaltplanartigen Schaubildern (Drawing for a Project No. 19, 1967) und kinetischen Lichtskulpturen (Visual Transmitter No.2, 1968) um. Hier zeigt sich ein Künstler, den man so nicht kannte, dessen systemischer Ansatz kurze Zeit später aus der mathematisch-ästhetischen in die soziale Sphäre getragen wird. Mit dem Ansatz Kunst und Lebenswirklichkeit zusammenzubringen, steht Willats zu Beginn der 1970er-Jahre freilich nicht allein. Doch keinem gelingt dies so radikal. Ging es bei den meistens darum, das Publikum als Teilhaber in die Kunstsphäre hereinzuholen, ging es bei Willats darum, als Künstler in kunstferne Lebenswirklichkeiten einzutauchen. Was in Feldforschung, Dokumentation und Agitation hätte münden können, führte zu einem aufwändigen Prozess, an dessen vorläufigem Abschluss kein Kunstwerk stand, sondern die Selbstermächtigung der beteiligten Personen, seines Publikums. Dazu gab es vom Künstler aus dem Verfahren kompilierte Handreichungen in Form von Broschüren oder Stelltafeln, die den Gesamtvorgang reflektierten. Auch eine soziologische Auswertung unterblieb. Jeder kam zu Wort. Gemeinsamkeiten und Unterschiede wurden sichtbar und ermöglichten Verständigung und Gemeinschaften, wo zuvor Vereinzelung programmiert war. Willats zeigt im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Vorstellung von künstlerischen Forschung Differenzen nicht nur auf, sondern hält sie offen. Er überlässt es seinen Partnern, diese fruchtbar zu machen. Bereits in seinen ersten partizipativen Projekten 1971, The Social Resource Project for Tennis Clubs: Nottingham, und The West London Social Resource Project: London, 1972 / 1973, letzteres wird in der Ausstellung mit Fotografien und Antwortbögen der Befragten dokumentiert, sah sich der Künstler nicht als Gestalter, sondern als Initiator eines ergebnisoffenen Prozesses in prekären urbanen Umfeldern. Seine Schaubilder, Collagen, Videos dokumentieren dabei im Kern das transitorische Moment der Individuation seiner potentiellen oder realen Kollaborationspartner.
In keiner Werkgruppe wird dies so deutlich wie in den großformatigen Arbeiten zur Punkszene Londons zu Anfang der 1980er-Jahre. In A to B, 1985, kreisen die Fetische eines schizoiden Bankers um dessen Schreibtisch, unter dem er sich als Partybulldogge outet. Auf bühnenartigen Assemblagen können da auch Schaufensterpuppen als queere Stellvertreter einer Gemeinschaft stehen, die sich angeschickt hat, Normen und Restriktionen abzustreifen, wie in Living Like a Goya, 1983. Erst zwanzig Jahre später werden sie mit Cathy Wilkes jenseits der Pop-Art-Attitüde salonfähig.
Warum also wird Willats nicht höher gehandelt? Die Antwort liegt zum einen sicher in seiner diskreten Haltung. Doch die Zürcher Ausstellung legt noch einen zweiten Grund nahe: Seine Verweigerung gegenüber digitalen Medien, sieht man von Videos ab. Der Meta Filter, 1975, vermittelt die Anmutung einer hochtechnologischen Apparatur. Zwei Probanden haben die Aufgabe sich über Wortlisten und Fotografien auszutauschen. Doch wo die Besucherin, der Besucher heute Computerbildschirme erwartet, finden sie Dia-Slights, Bleistift und Papier. Trotz aller Affinität zu Systemtheorie und Kybernetik bleibt Willats Kunst beharrlich im Analogen, während Instagram und Tinder das Kerngeschäft längst übernommen haben.
Zuerst erschienen in Kunstforum international Band 262, August 2019