von Max Glauner _ English Version below
Die Wahrscheinlichkeit, dass man in den klassischen Kunstgattungen, Malerei, Skulptur und Zeichnung, Neues entdeckt, ist gering. Für die Zeichnung in der Schweiz gilt das nur eingeschränkt. Das kleine bis heute durch den Hermostraten Huldrych Zwingli geprägte Land hat aus seiner sehr speziellen Tradition heraus eine Reihe eigenständiger Künstlerinnen und Künstler hervorgebracht, die der „Kleinen Form“ Überraschendes entlocken. Dafür stehen Namen wie Zilla Leutenegger, Yves Netzhammer oder, wie jetzt wieder in der Galerie & Edition Marlene Frei mit neuen Arbeiten zu sehen, Sandra Boeschenstein.
Die Künstlerin gehört zu den intelligenten, technisch Ausgebufften ihrer Zunft. Sie kann inzwischen auf ein eindrückliches Werk zurückblicken. Gleich mit ihren ersten Blättern einer Serie wie „Reinknien verdampfen Wasser“ (2019) fordert sie ihr Publikum. In dem 20 x 100 cm großen Querformat stehen fünf an Diener erinnernde Figuren in feiner Ölkreide, –farbe und Tusche gezeichnet mit überlängten, gesichtslosen Köpfen in einer merkwürdigen Parade einer Sechsten gegenüber. Wie stumme Osterinselmonolithe stehen sie in einer undefinierten Landschaft, die an der fernen Horizontlinie nahtlos in den aufgetürmten Wolkenhimmel übergeht. Warum tragen die fünf Wassergläser auf Tabletts, die ihnen mit Fäden an den Leib geschnürt sind? Weil sie keine Arme haben? Die Tabletts werfen Schatten, die Figuren nicht. Sind es Lemuren, die sich in Auflösung befinden und darum keine Füße haben?
Der Titel „Reinknien“ gibt einen Hinweis. Das Verb, im Englischen „try hard“, bedeutet wörtlich „auf den Knien hart arbeiten“. Tatsächlich entstanden die antropomorphen Gestalten durch Abdrücke der Knie der Künstlerin, deren Haare, Falten, Furchen deutlich zu erkennen sind. Der Einbruch des Realen in eine ohnehin schon surreale Welt. Und was hat der Besucher von „Unmittelbar vor der Berührung der Haare des Abdrucks bei Neumond“ (2019) zu erwarten? Schon der Titel entführt auf eine Abenteuerreise. Sie fasziniert, unterhält, regt an – wir folgen gerne!
The Swiss commonwealth, whose art scene is still marked by the influence of the antipictorial Protestant reformer Huldrych Zwingli—he who banished painting, forcing artists to make graphic works on paper—has since produced a series of artists who evoke surprising moments in the supposedly “minor form” of drawing. Sandra Boeschenstein, whose new black-and-white works on paper currently hang in Galerie & Edition Marlene Frei, partakes in this tradition, pushing drawing to new limits.
In 5 Reinknien verdampfen Wasser (5 Clean Knees Evaporated Water, all works 2019), five figures reminiscent of servants—drawn with oblong, faceless heads in fine oil pastels, paint, and ink—face a sixth in a strange parade. Like silent Easter Island monoliths, they stand in an undefined landscape that merges seamlessly with the inked cumulus on the distant horizon line. These armless butlers carry water glasses on trays tied to their bodies with thin twine, and while the trays cast shadows, the figures do not, adding to the drawing’s dreamlike atmosphere.
The word Reinknien in the work’s title hints at how Boeschenstein made these pieces. Although it is often translated into English as “try hard,” Reinknien literally means “work hard on your knees.” The artist rendered the subjects of her drawings here with said joints, whose hair, wrinkles, and furrows are clearly recognizable in the texture of each imprinted surface—the real breaking into an already surreal world. And what to expect from Unmittelbar von der Berührung der Haare de Abdrucks bei Neumond (Immediately Before Touching the Hair of the Impression at New Moon)? Squeezed between Boeschenstein’s knee people, a realistically drawn man examines one figure’s skin. The moon, which is also a copy, looks down contemplatively.
Fist published in Art Forum, September 2019, https://www.artforum.com/picks/max-glauner-on-sandra-boeschenstein-80843