Mit Von Cattelan bis Zurbarán – Deftig Barock – Manifeste des prekär Vitalen serviert das Kunsthaus Zürich seinem protestantischen Publikum einen muteren Crossover gegenreformatorischen Kunstgeistes. Wie der seinerseits ausladend barocke Titel der Schau vermuten lässt, kein einfacher Gang für die Kuratorin und ihr Publikum – von kalkulierten Peinlichkeiten abgesehen hält man Mass.
Max Glauner, Zürich – Denkt man etwas über den Begriff „Barock“ nach, so scheint in ihm, gleich, was wir sonst mit ihm verbinden mögen, ein Mangel eigen ist, ein Mangel des Masses, daher Masslosigkeit, Fülle, Überfluss, kurz ein Zuviel.
Auf Berliner Verhältnisse heruntergerechnet: Die Stadt schwitzt heute noch die Wilhelminischen Zopfstileskapaden des 19. Jahrhunderts aus, vom Berliner Dom bis zur Stadtschlossfassade, und begegnet einem heute im Goldkettchen-S-Klasseluden samt Botox-Tiger-Lady-Begleitung in der Friedrichstraße.
Zwar finden sich letztere Zeitgenossen auch in großer Zahl auf Zürichs Bahnhofstraße, doch dann wird es kulturgeschichtlich schwierig, in einer Stadt, die als Zwinglivision im frühen 16.-Jahrhundert mit allem Tand und Bild, jeder Festkultur und öffentlichem Lebensfrohsinn erst einmal radikal Schluss gemacht hat.
Beredtes Zeugnis noch heute, das Großmünster, wo neben wenigen Artefakten nur ein griesgrämiger Karl der Große den reformatorischen Bildersturm überlebte. Erst im 20. Jahrhundert durfte ein Marienbild in den Chor, Sigmar Polke – dem Barocken nicht abgeneigt – schließlich kurz vor seinem Tod die Seitenschifffenster bildlich gestalten, ein Werk, das nicht unwesentlich der Lobbyarbeit der Kunsthaus-Kuratorin und Direktorin der letzten Venedig Biennale Bice Curiger zu verdanken ist.
Abgesehen von putzigen Rocaillen an schmucken Großbürgerhäusern hat es der Stilwille absolutistisch-gegenreformatorischer Lebenshaltung in der protestantisch geprägten Schweiz also schwer.
Dies schlägt sich unzweideutig in dem verquast-umständlichen Titel der neuen von Bice Curiger kratierten Ausstellung im Kunsthaus, Von Cattelan bis Zurbarán – Deftig Barock – Manifeste des prekär Vitalen, nieder. Er muss offensichtlich das „Deftige“, Pralle, Lebensbejahende schon wieder im „Prekären“, Gefährdeten zurücknehmen.
Kein Wunder, dass sich die in drei Abteilungen präsentierten Altmeister – durchweg Gemälde – in St.-Peterburger-Hängung auf Jute- statt auf Dammasttapeten wiederfinden. Auch das ist protestantisch: Curigers Auswahl bevorzugt Maler mit caravaggistischem Einschlag. Die Figuren oder Gegenstände schälen sich meist aus einem schwarzen Hintergrund heraus, von dem wir vermuten dürfen, dass er der Kuratorin für die existenzielle Tiefe oder „Prekäre“ der Epoche steht.
Der Jutesackästhetik steht die weiße Wand des White Cube für die Gegenwartskünstler gegenüber: Die üblichen Verdächtigen, Urs Fischer an erster Stelle, der schon auf Curigers Arsenale-Schau in Venedig Giambolognas proto-barocken Raub der Sabinerinnen in Kerzenwachs zum schmelzen brachte. Hier ist es als symbolisches Kernstück der Ausstellung ein Bett, das bei Curiger als Metapher für alle Lebenslagen stehen darf, Ohne Titel (Soft Bed), 2011. Gleichsam das formalistische Gegenstück, eine minimalistische Stahlkonstruktion Oskar Tuazons, der damit den Bogen zwischen Sol LeWitt und Albrecht Dürers melancholischem Polyeder spannen darf, For Hire, 2012. Formal dazwischen die Fotoserien Boris Mikhailov aus dem russischen Proletenalltag, derbe Robert Crumb-Comics und unvermeidlich Paul McCarthys kleine Schweinereien (Pig, 2003).
Dann Maurizio Cattelan mit ausgestopften Hunden und einer weiblichen Wachsfigurenmärtyrerin im Kunsttransportkasten und am Ende des Parcours Cindy Shermans saftige Odd-Glamour-Inszenierungen. Hier kommt es kurz zu einem Dialog über die Jahrhunderte hinweg, wenn man den Glanz des Harnisch, das dezent darüber quillende Spitzentuch und die aufgetürmte Perücke des Marschalls in Rigauds Portrait aus dem Jahr 1708 gegenüber sieht. Sonst bleibt man in Zürich zu unterkühlt, als dass der Epochensprung Funken schlagen könnte, wie es zum Beispiel Theodora Vischer 2009 mit Holbein bis Tilmanns im Schaulager Basler Schaulager vorgemacht hat.
Sicher hat man mit einer systematischen statt einer historisch-chronologischen Leseweise im Vorzeichen von Internet und Hypertext beim Museumsgang mehr Spaß. In Zürich ist jede Arbeit mit Bedacht und gutem Geschmack ausgewählt. Doch keine rechtfertigt den ambitionierten Titel, sieht man von der prominent plazierten Fotoserie Paradies, 2009 von Juergen Teller ab. Der Nürnberger lässt die splitternackte Charlotte Rampling in der Skulpturengalerie des Louvre neben maßlos prallen Marmorleibern posieren. Dieses Seherlebnis lohnt den Gang in die ansonsten eher gefällige Schau. Man surft zwar gerne zwischen Bild, Gemälde, Foto munter hin und her nach Belieben und sucht nach Gusto sein Zuviel, sein Übermaß und seien „Barock“. Doch das bleibt leider zu unverbindlich.
Eröffnung heute Abend 31.05.2012 bis 2. September 2012