Die die Arbeiten der jungen Italienerin Marinella Senatore erproben partizipative Ansätze. Ihre Ausstellung in St. Gallen hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck.
Das Bild prägt sich ein: Ein Dutzend Mädchen paradiert in bunten Balletttrikots, Pömps und Tutu, das Haar im strengen Dutt gezähmt, von rechts nach links eine enge Straße herunter, das linke Bein, den rechten Arm graziös zum nächsten Schritt erhoben. Die asphaltierte Straße ist von bescheidenen, doch gepflegten einstöckigen gelben Backsteinreihenhäuschen gesäumt, die so wohl nur in englischen Arbeiterquartieren zu finden sind. Den Mädchen folgt im Hintergrund in enger Formation eine Blaskapelle in blauen Uniformen. Das Still stammt aus der Vidoinstallation „Rosas: The Trilogy“ (2013) der 1977 in Cava de‘ Tirreni oberhalb von Salerno geborenen und heute in Berlin lebenden Künstlerin Marinella Senatore. Worin liegt die Faszination des Bildes? Sie speist sich zunächst aus dem eigenwilligen Gegensatz der graziösen Mädchen und der geputzten Häuser. Der surreale Eindruck wird dadurch noch verstärkt, dass fehlt, was bei solcherlei Veranstaltungen in der Regel zugegen ist: das Publikum. Nur das Auge der Kamera verfolgt die solchermaßen narzistische Prozession, wodurch man hinter der offensichtlichen Lebensfreude auch den Gleichschritt von Fassaden und der tanzenden Eleven und damit sozialen Druck und Konformismus lauern sieht, den sie durch ihre Aktion weniger konterkarieren als affirmieren.
Diese Ambivalenz wohnt freilich den meisten bewegten und unbewegten Bildern inne, die sich des Schauwerts formatierter Festumzüge bedienen, gerade wenn sie sich von partizipativen Arbeiten und Projekten herleiten, wie bei Jeremy Dellers „Procession – Manchester International“ (2009) oder dem fürs Fernsehen zurechtgemachten Karneval. Ausnahmen sieht man bei Francis Alÿs‚ Video „Seven Walks“ (2005), in dem Grenadier Guards mit Bärenfellmützen im Dérive durch London marschieren, oder bei Dellbrügge & De Molls Aktion „Reconstructing Future“ (2012), wo Teilnehmer auf einem Platz in München in fünf Formationen die Olympiaringe bildeten. Das elf-minütige Video „Manifesto of Futurist Women (Let’s Conclude)” (2008) der jungen Rumäninnen Annetta Mona Chisa & Lucia Tkacova kommt in seiner Ikonografie Marinella Senatores Arbeit sehr nahe, jedoch ohne dieser zu erliegen. Strahlende Mädchen in roten, kurz geschnittenen Uniformröcken samt Käppi marschieren zackig über eine Fußgängerbrücke. Sie führt unter einer unansehnlichen betonierten Fahrbahn über einen Fluss. Auch hier fehlt ein Publikum, auch hier bestätigt die Architektur die Bewegung der uniformen Formation. Und es fehlt die Blaskapelle, der Trupp alter Männer, der ihnen den Takt vorgibt. Schon damit ist ihr Auftritt mehr als ein surreales Ornament. Sie wollen dem Betrachter etwas bedeuten: Im Marschschritt strecken und senken sie ihre Arme und Stöckchen nach dem internationalen Flaggenalphabet. Damit buchstabieren sie das Resümee des im Titel der Arbeit genannten Manifests, das die Dichterin und Künstlerin Valentine de Saint-Point 1912 gegen Tommaso Marinetti verfasste. Ihre Parade erhebt Protest.
Seit 2009 arbeitet die Italienerin Marinella Senatore an Projekten, die Partizipation in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen und die Beteiligung oft sehr vieler Menschen, als ihr eigentliches Kerngeschäft begreift. Schon von daher kann die Ausstellung der Kunsthalle St. Gallen „Mariella Senatore. Public Secrets“ nur Fragmente einer augenblicklich und im Prozess stattfindenden Kunst präsentieren, mehr oder weniger aussagekräftige Tableaus anbieten, denen bis auf eines der fünf gezeigten, Arbeiten beziehungswiese groß angelegten Aktionen der Verweisungscharakter auf das eigentliche Ereignis immer anhaftet. Schon der Ausstellungstitel scheint das anzudeuten: Dem unbeteiligten Zuschauer wird sich das Ganze nur in Teilen erschliessen. Dennoch gewährt sie genügend Einblick, um Stärken und Schwächen ihrer Arbeit einzuschätzen, die zwischen Stephen Willats und Living Theatre, Rimini Protokoll und Christoph Schlingensief angesiedelt, mit sicherem Zeitgeistgespür den Gedanken sozialer Netzwerkgedanke vom Digitalen ins Analoge zu übertragen sucht.
Zum Auftakt der St. Galler Ausstellung breitet die Künstlerin auf Tischen, Wänden und Videomonitoren das Material zu ihrer ersten Aktion „Speak Easy“ 2009 in Madrid aus, zu der sie bereits Hunderte in Diskussionsrunden und Workshops, Castings und Proben dazu animierte ein Musical zu inszenieren. Es ist in St. Gallen auf einem Monitor im 15-Minuten-Loop zu sehen, der beiläufig am Boden gegen einen Pfeiler gelehnt ist, wie um zu sagen: Das Eigentliche ist darum herum zu sehen, Skizzen, Notenblätter ein Banner, der gesamte Entstehungsprozess. Denn alles, von der Findung des Themas, des Genres, bis zu Text, Musik, Szenenbild und Choreografie wurde in einem Kollektiv erarbeitet. Die Autor ist die Gemeinschaft. Doch dieser Losung bleiben die gezeigten Arbeiten nicht treu. Warum hat die Künstlerin jedes gezeigte Dokument mit einer Zeichnung versehen? Freilich, die ausgebildete Violinistin, Filmerin und bildende Künstlerin weiss dazu virtuos mit Bleistift und Kugelschreiber umzugehen. Man kann ihre Grafiken genießen. Doch sie dementieren das eigene Konzept. Denn die im Titel des Projekts gemachte Aufforderung „Sprich doch einfach!“ fehlt die Richtung, das politische Konzept. Wie ein Blick auf Facebookseiten lehren kann, reicht es nicht, einfach eine Plattform beziehungsweise ein Beschäftigungsprogramm zu schaffen. Das in „Speak Easy“ produzierte Geplapper landet unweigerlich in Konformismus und ästhetischem Mittelmaß, das sich erst nach der Postproduktion der Künstlerin sehen lassen kann.
Diese Vorbehalte beschleichen den Besucher auch in den weiteren Stationen, abgeschwächt in der Dokumentation von „The School of Narrative Dance“ (2014) massiv in „Rosas: The Trilogy“ 2013, wo zwischen Berlin, Madrid und Derby für die Produktion einer Oper nach Angabe der Künstlerin 20.000 Leute beteiligt waren. In St. Gallen flimmert nun eine exaltierte Multitude munter über Monitore. Warum, mit welchem Ziel? Man wird es nicht erfahren. Dass mit dem Bewegen von Massen auch ein Anliegen oder eine politische Botschaft verbunden sein kann, zeigt die Installation „Estman Radio Drama – Special Edition“. Marinella Senatore hatte die sie 2011 für die 54. Venedig Biennale hergestellt. Damals lud sie Industriearbeiter aus einer norditalienischen Chemiestadt und Studenten ein, in einem vierteiligen Hörspiel über ihre soziale Situation zu sprechen. Den Sprachlosen wurde, in Venedig live, in St. Gallen archiviert, eine öffentliche und damit politische Stimme verliehen. Wenn nun der Besucher dazu aufgerufen ist, sich gegenüber bei „Estman Radio Station“ (2014) niederzulassen, um im Reenactment ein Podcast zu produzieren, trägt dies freilich dem partizipativen und kollaborativen Gedanken der Künstlerin Rechnung. Doch auch hier stellt sich die Frage: Warum und wozu?
First published in Kunstforum International Band 225, S. 328: http://www.kunstforum.de/