„Dann beginnt die Tragödie“ – Milo Rau erteilte der großen Theatergattung zum Ende seiner Europatrilogie „Empire“ auf dem Zürcher Theaterspektakel eine vorläufige Absage. Nun behauptet Stefan Puchers „Antigone“ zwei Wochen später zum Saisonauftakt im Schauspielhaus das Gegenteil. Aber Puchers Abend mit guten Musikern, hipen Videos und flotter Übersetzung zeigt einmal mehr, dass unsere Gegenwart kaum in der antiken Gattung gespiegelt werden kann. Daher sei noch einmal an Raus Inszenierung in der Zürcher Werft erinnert.
Hier könnte jetzt auch „Romeo und Julia“ oder „Rigoletto“ gegeben werden. Wie zur Beglaubigung, dass an diesem Abend tatsächlich Theater gespielt würde, hat Milo Rau auch für den dritten Teil seiner Europa-Trilogie „Empire“ zum Anfang eine zwei Stockwerke hohe Architekturkulisse, diesmal eine kriegszernarbte Fassade mit gotischen Arkaden und Balkon, auf die Drehbühne gestellt. Aber nicht nur, dass Brandspuren und zersplitterte Fensterscheiben eine Realität aufrufen, die Theater nicht zulässt und vom Theater nicht abzubilden ist. Die Kulisse steht hier für ein kulinarisches Spektakel, das es wegzuräumen gilt.
Während das Publikum auf der steilen Tribüne platznimmt, warten die vier Darsteller des Abends rechts neben der Kulisse, nur darauf die Architekturattrappe wegzudrehen, damit der eigentliche Aktionsraum dahinter zum Vorschein kommt: eine kleine, enge Küche auf einem Bühnenpodest in schummrigem Licht mit Tisch und Bett. „Empire“, der große Titel, lässt an Haupt- und Staatsaktion denken. Werden die nun als Küchen-Kammerspiel verhandelt? Dass dem nicht so ist, verdankt der Regisseur seinen großartigen Darstellern, Maia Morgenstern, Ramo Ali, Akillas Karazissis und Rami Khalaf und ihrem betont zurückhaltenden Spiel. Außer, dass die vier professionelle Schauspieler sind, eint sie ihr biografischer Hintergrund von Flucht und Vertreibung, von Bedrohung und Migration. Ihre Lebensgeschichten arrangiert Rau in klugen epischen Textvorlagen. Es fehlt der Dialog, jedes gespielte dramatische Moment.
Diese Absenz von Aufmerksamkeitsreizen kompensiert die Inszenierung durch einen Videoscreen auf dem neben eingespieltem Filmmaterial vor allem die Gesichter der Darsteller in der Schwarz-Weiß-Totalen über der Szenerie erscheinen. Darunter wird die Simultanübersetzung projiziert. Denn alle sprechen in ihrer Muttersprache. – „Ich wollte es immerhin einmal ausprobieren: eine Figur spielen, auf Kurdisch,“ sagt der Kurde Ramon Ali, der nach seiner Flucht nach Deutschland Deutsch auf der Bühne spricht, in seiner Heimat Syrien jedoch gezwungen war, auf Arabisch zu spielen. Er beginnt den Reigen mit einem Prolog und erzählt, dass er die Bühnen-Küche gebaut habe, nach dem Vorbild der Küche in seiner Heimat, in der seine Mutter für 13 Kinder Kartoffeln gekocht habe, dass er jetzt während der Proben nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder dorthin gefahren sei. Und dem Zuschauer werden die Doku-Video-Aufnahmen vom Tigris gezeigt, später die Bilder von seiner zerstörten Heimatstadt. Er erzählt von seinem Vater, von dessen Erziehung durch Schläge er bis heute überzeugt ist, „sie haben mich stark gemacht!“
Die folgenden Narrative gliedert die Dramaturgie in einem Fünf-Akte-Schema nicht ohne Ironie und tragischen Momenten in die Teile eins bis fünf: „Abstammungslehre“, „Exile“, „Ballade des gewöhnlichen Menschen“, „Über die Einbildungskraft“ und „Heimkehr“. Durch die Einzelschicksale scheinen die Katastrophen, Brüche und Verwerfungen der (europäischen) Geschichte auf. Das ist weit von gängigen Erzählungen und Erklärungen entfernt. Die Folter Ramo Alis in Assads Gefängnis in Palmyra und seine Verhöre, deren Perversionen er als Therapie empfindet, zum Beispiel, oder die Suche des aus Syrien nach Paris geflohenen Rami Khalafs nach seinem Bruder in einem Bild-Archiv von Opfern des syrischen Regimes. Auch dem Publikum wird eine Reihe der Gräuelbilder auf der Videoleinwand zugemutet – als traute man den eigenen episch-theatralen Mitteln nicht.
Die einzige Frau auf der Bühne, Maia Morgenstern, gibt im Darstellerquartett schon durch ihren Hintergrund die gravitätischste Figur ab: Heute Mitglied des rumänischen Nationaltheaters und Leiterin des Jüdischen Theaters in Bukarest ist sie in der Ceauşescu-Diktatur in einer säkularen Familie groß geworden. Sie spielt nach der Revolution neben Harvey Keitel in Theo Angelopoulos „Der Blick des Odysseus“ und in Mel Gibsons „Die Passion Christi“ die Mutter Gottes. Der Weg des griechischen Theatermachers Akillas Karazissis zur Schauspielerei erscheint dann verschmitzt erzählt so gewunden wie die Odyssee seiner Familie von Odessa, wo sie bis zur Russischen Revolution lebte nach Thessaloniki. Von dort floh Karazissis zu Beginn der 1970er-Jahre vor der Militärdiktatur nach Deutschland.
Stehen Morgenstern und Karazissis für das alte Europa, die beiden Syrer Ali und Khalaf für seine geschundenen Kinder? Die Inszenierung ist klug genug, diese Vermutung zu unterlaufen. Doch ohne die Behauptung eines theatralen Hier-und-Jetzt und des suggestiven Klangteppichs von Eleni Karaindrou fiele Milo Raus „Empire“ dramaturgisch auseinander. Aber will er mehr leisten als ein phänomenologisches Propädeutikum? Nein, die Botschaft lautet: wir müssen genau zuhören und zusehen, bevor wir uns ans große Theater oder die Politik machen. Ein unbequemer und beeindruckender Abend.
In redaktionell leicht überarbeiteter Form zuerst publiziert in der Printausgabe „Der Freitag“ vom 8.09.2016