Wohlfühl-Manifesta

Selten schlug einer Manifesta so großer Gegenwind entgegen wie in
Zürich – das wundert bei genauerem Hinsehen wenig. Schon bei
ihrem Titel „What People Do for Money“ scheiden sich die Geister in
der Zwinglistadt. Teilhabe lautet ihr Prinzip – dabei sind nicht nur einige
herausragende Arbeiten entstanden, sondern es ist auch eine beachtlich
runde und unaufgeregte Manifesta11 gelungen.

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I. ES LÄCHELT DER SEE, ER LADET ZUM BADE

Einen schöneren Ort auf der Welt lässt sich kaum denken: Sanft wiegen die Wellen der Dampfer mit Fahrt zum Bürkliplatz die Plattform aus Eisen und Holz auf dem Seegrund vertäut. Vor einem das blaue Wasser, grüne Hügel, Häuser, in denen glückliche Menschen leben müssen, und dahinter die weiße Kette der Alpengipfel. Hinter einem die Altstadt mit ihren Türmchen und weitab die Banken am Paradeplatz, das neue Zürich mit seinem City-West-Gelärme und mediokren Neubauten, über die die Basler nur milde lächeln können, wie über den alljährlichen Ritt der Stadtzürcher Honoratioren um den Böögg zum Sechseläuten auf dem Platz am Bellevue gleich links nebenan. Mit dem „Pavillon of Reflections“ ist der Manifesta11 und ihrem Kurator Christian Jankowski, dem ersten
Künstler unter ihren künstlerischen Leitern, ein Coups gelungen. Und auch das hat Premiere: Zum ersten Mal in der zwanzigjährigen Geschichte der Wanderbiennale gibt es mit dem Pavillon, der von weitem wie eine Kirche anmutet, einen zentralen Ort, ein Pilgerziel mit Kino, Bar und Badegelegenheit. Er ist bis in die Nacht geöffnet – ein niederschwelliges Angebot an alle, das der Manifesta11 Sichtbarkeit verleiht und das obendrein als Kollaboration der Architekturstudenten des ETHProfessors Tom Emerson dem Titel „What People Do for Money: Some Joint Ventures“ ikonisch für ihr produktionsästhetisches Credo der Teilhabe und Partizipation steht.

Dass Jankowski hierfür eine Genehmigung der Stadt erhielt, grenzt an ein kleines Wunder. Im Gegensatz zu Basel hatte Zürich mit Kunst nie viel am Hut. Was der Stadt am Rheinknie Hans Holbein, ist der Limmatstadt der Idyllendichter und -maler Salomon Gessner. Immerhin setzte man ihm 1794 am Platzspitz eines der ersten Denkmäler Zürichs, die Ausnahme in einer Zivilgesellschaft, die Egalität zu einem ihrer höchsten Prinzipien zählt. Künstlerexistenzen gelten ihr a priori für suspekt. Erst der Magnat und Politiker Alfred Escher sollte fast hundert Jahre später mit einem Standbild vor dem Hauptbahnhof als Erlöser Helvetias gefeiert werden. Zwar hatte Zürich seit 1855 mit der ETH einen bis heute hochrenommierten Ausbildungsplatz für Architektur und mit der Schule für Gestaltung einen Ort der angewandten Künste von internationalem Ruf. Doch wer Maler oder Bildhauer werden wollte, musste als Schweizer bis nach dem zweiten Weltkrieg ins Ausland fahren. Zumeist in Richtung München Düsseldorf, Berlin oder Paris. Nach Zürich zurückgekehrt, schrieb der Dichter Gottfried Keller an einen Münchner Freund frustriert: „Hier rührt sich kein Glied.“

Auch die Auftritte Hugo Balls haben daran nichts geändert. Wenn man mit ihm 2016 100 Jahre Dada feiert, vergisst man gerne, dass das Cabaret Voltaire vor wenigen Jahren als Veranstaltungsort um ein Haar geschlossen worden wäre. Zürich hatte sich früh gegen jeden Eskapismus der Moderne imprägniert; die helvetische Reduit-Paranoia, im Schlagwort der „geistigen Landesverteidigung“ treffend umschrieben, tat ihr übriges. Sie wirkt bis heute in einer Mentalität nach, die dem Resteuropa tendenziell feindlich gegenüber steht. Insofern ist die Manifesta11 wieder an einen Rand Europas
zurückgekehrt. Besaßen europäische Großstädte bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts ihre repräsentativen Museumsbauten, wird das Kunsthaus am Heimplatz erst 1910 eingeweiht. In den 1930er-Jahren ein Pilgerziel für die klassische Moderne – Picasso erhielt dort 1932 seine erste Museumsausstellung – vermochte das Kunsthaus nie in die
Stadt hinaus zu strahlen. Heute gelähmt von einem ehrgeizigen Neubauprojekt, wird sie bis auf seltene Ausnahmen nicht als der Ort wahrgenommen, an dem zeitgenössische Kunst verhandelt wird. Ein Grund, dass lange nach Basel und Bern 1989 die Kunsthalle in einem Provisorium im erodierenden Industriequartier Zürich-West eröffnet wurde. Zürich hatte in Sachen Kunst, urbaner und gesellschaftlicher Veränderung Nachholbedarf. Es herrschte Aufbruchsstimmung. Dass Zürich bis in die späten1990er Jahre eine hochkreative Hausbesetzer-, Kunst- und Partyszene hervorbrachte, wirkt angesichts der durchgentrifizierten Hochpreis-City heute wie ein Märchen. Hätte Christian Jankowski direkt daran anknüpfen wollen, er wäre gescheitert. So ist es konsequent, dass er den Ort bespielt, der davon übrig geblieben ist, und seine Haupausstellung im Löwenbräu-Areal platziert. Dort hatten sich seit den 1990er-Jahren unter einem maroden Dach Galerien, unter anderem der heutige Global Player Hauser & Wirth, die Kunsthalle und das hier 1996 gegründete unternehmenseigene Migros Museum für Gegenwartskunst niedergelassen. Zürich war damit zu einem internationalen Zentrum zeitgenössischer Kunst geworden – und auch deren Vermarktung. Heißt es also, mit der Manifesta11 Eulen nach Athen tragen? Mit Sicherheit nicht. Wer glaubt durch die Präsenz des Löwenbräu-Areals und einiger Duzend international agierender Galerien sei die zeitgenössische Kunst in der Stadt angekommen, täuscht sich. Bevor das Stadtparlament 1981 Max Bills Pavillon Skulptur genehmigte, musste diese nach einem Einspruch zuerst als Styropor- Attrappe aufgestellt werden; zwei Jahre später aus Schwarzwälder Granit errichtet, löste sie ein Sturm der Entrüstung aus. Ein Kubus von Sol LeWitt, ebenso privat finanziert, kam ein Jahr später erst gar nicht zur Aufstellung.

Auch 2010 krebste der Gemeinderat in Sachen Kunst zurück. Als Teil einer Hochstraßensanierung hatte er nach einem Wettbewerb Caruso St Johns Architects,
London, und den Berliner Künstler Thomas Demand zur Umsetzung des Nagelhaus beauftragt. Doch die SVP trommelte dagegen und erwirkte durch eine Volksabstimmung, ein Lehrstück in Sachen Kunst und Demokratie, dass das Projekt knapp mit 51% verhindert wurde. Dass an dieser Stelle heute ausgerechnet fünf hohe Ziegel-Stelen in Form von Akkuschrauber-Aufsätzen des mexikanischen Künstlerduos Los Carpinteros stehen, ist symptomatisch. Denn auf welch bescheidenem Niveau sich der Diskurs um zeitgenössische Kunst in der Zürcher Öffentlichkeit nach wie vor bewegt, zeigte sich unlängst, als der Gemeinderat wenig geschmacksicher nach einer privaten Finanzspritze
die altbackene Idee umsetzen ließ, im Rahmen einer Kunstaktion einen ausgedienten Hafenkran aus Rostock am Limmatquai aufzustellen. Nach einem halben Jahr war er im Januar 2015 programmgemäß wieder abgebaut. Naiv zu glauben, dass hier nicht auch Akteure walteten, die bei Kunst an Auslastungszahlen der Hotelbetten denken, das Stadtmarketing befeuern und das City-Image aufpolieren wollten. Das wird bei der Bewerbung um die Manifesta11 nicht anders gewesen sein. Es fragt sich nur, wie man hier mitspielt. Die Manifesta11 habe sich verraten, ist ein oft gehörter Vorwurf. Bei näherem Besehen stellt sich dies anders dar.

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II. PARTIZIPATE! – TEILHABE AUS PRINZIP

Am Wochenende nach der Eröffnung hat auch der Autor seine Badehose eingepackt. Am Tischchen auf der Terrasse des „Pavillon of Reflections“ kommt er mit Ruedi aus Unterstammheim bei Stein am Rhein ins Gespräch. Der Schreiner erzählt mit Stolz und breitem Dialekt, wie er mit den Architekturstudenten Anfang Jahr die Fichtenstämme für den luftigen Bau zugesägt hat. Schön sei er geworden. Nein, Witterungsbeständig sei er nicht. Man müsste das Holz imprägnieren. Tatsächlich wird der Pavillon nach dem Ende der Manifesta wieder abgebaut, wie der Hafenkran aus Rostock. Ob er sich noch die Filme auf der LED-Wand ansehen würde? Dort werden 10-15 Minuten lange Doku-Videoclips über die Entstehung der „commissioned works“ gezeigt. Ruedi winkt ab. Er hätte gerne Edith Hunkeler, die Paralympics-Sportlerin, über den Zürichsee fahren sehen; ihr schwimmender Rollstuhl, vom spanischen Konzeptkünstler Maurizio Cattelan konstruiert, steht verwaist am Pavillon bereit. Aber er habe sich die Hauptausstellung im Löwenbräu angeschaut. Die Arbeiter aus Wachs von Duane Hanson hätten ihn beeindruckt. Das reicht.

Ruedi dürfte damit der Prototyp jenes kunstfernen Zielpublikums sein, das der schweizerische Bundesrat mit seiner Kulturbotschaft für die Jahre 2016-2020 mit Maßnahmen zur Inklusion und Partizipation im Auge hat: „Kulturelle Teilhabe steht für ein übergeordnetes kulturpolitisches Ziel: Es sollen möglichst viele Menschen (…) einen Zugang zu Kultur erhalten (…). Kulturelle Teilhabe zu stärken bedeutet folglich, Hindernisse zum Kulturangebot und zum kulturellen Leben abzubauen sowie insbesondere die aktive und selbstständige kulturelle Tätigkeit zu fördern.“ Jankowskis Manifesta-Konzept kommt diesem Regierungsauftrag passgenau entgegen. Zu einem alten Versprechen der Kunst gehört, in die Gesellschaft hineinzuwirken, an ihr teilhaben, kurz zu partizipieren und wenn möglich in einem aufklärerischen Sinne zu verändern. Daran mochte sich Christian Jankowski bereits mit seinem ersten bekannteren Video Die Jagd
(1992) erinnert haben und er bleibt dem Versprechen auch als Kurator treu. Über Kooperationen der eingeladenen Künstler mit Zürcher Bürgern sollte ein Bild der Arbeitswelten in der Stadt entstehen, das schließlich auf drei Ebenen – in der „Hauptausstellung“ im Kunstkontext, in den „Satelliten“ im Arbeitskontext des Gastgebers und im Pavillon als Making-of-Video- Dokumentation – an verschiedenen Orten der Stadt
zu präsentieren sei. Dazu hat Jankowski an die Teilnehmer eine Liste der in Zürich offiziell ausgeübten Berufe verschickt, vom Polizisten bis zum Psychoanalytiker, vom Feuerwehrmann bis zur Sex-Workerin. Über dreißig Künstlerinnen und Künstler hatten schließlich zugesagt, mit einem Berufsvertreter, dem „Host“, eine Zusammenarbeit, ein „Joint Venture“ zu wagen. Was kam dabei heraus? Wie nicht anders zu erwarten, waren die Begegnungen und der Arbeitsprozess, ganz zu schweigen das Ergebnis mit einem hohen mit Risiko behaftet. So hatte die britische Künstlerin Ceal Floyer bei der ersten Begegnung mit dem Übersetzer Lorenz Oehler keinerlei Vorstellung, was sie mit ihm umsetzen würde. Ihre diskrete Klanginstallation im Lichthof der Universität, Romance (falls nicht anders vermerkt, alle Arbeiten 2016), die simultan einen Ehevertrag auf Italienisch und Französisch gesprochen zu Gehör bringt, entfernte sich dann auch von der anfänglichen Kooperation und den Inputs ihres Hosts. Anders der Berliner Marco Schmitt, der fünf Zürcher Polizisten casten konnte. Er führte mit ihnen Method-
Acting-, Töpfer- und Gesangsworkshops für seinen Video-Film Xterminating Badges durch, ein Reenactment Buñuels Würgeengel aus dem Jahr 1962, das er seit längerem realisieren wollte. So bewegten sich die Produktionen zumeist im interdisziplinären, nicht transdisziplinären Bereich. Zwar wurde in einigen Arbeiten der Gesprächs-, und Kooperationspartner entfernt sichtbar, so in Evgeny Antufievs Eternal Garden in der hochgotischen Zürcher Wasserkirche der Pfarrer Martin Rüsch oder die Hundesalonbesitzerin Jacqueline Meier in Guillaume Bijls Dog Salon Bobby, den er in einer Galerie im Löwenbräu-Areal installierte. Und natürlich kamen die Kooperationspartner auch selbst ins Bild, die Stewardess gleich mehrfach in reizenden Ölgemälden à la da Vinci, Modigliani, Picasso bei dem Chinesen Yin Xunzhi, Multimedial
gespiegelt, die Bankerin bei der Griechin Georgia Sagri oder die Teilnehmer einer Gruppentherapie auf einer auf den Boden gestellten Bildschirmparade im Helmhaus bei dem US-Amerikaner Leigh Ledare. Damit waren die Hosts selten mehr als Ideengeber,
oder gecastetes Performancematerial, das wie in Carles Congosts Video F.I.R.E., ein
Joint Venture mit der Zürcher Berufsfeuerwehr, obendrein durch professionelle Schauspieler und einen Gospelchor ergänzt wurde. Konnte man im ein oder anderen Fall inhaltliche Einflussnahme spüren, war die formale Kontrolle über die Arbeiten meist fest im Griff der Künstler. Kooperationen, in denen der Gastgeber im besten Fall das Know How in die Arbeit einbrachte, waren die Regel. Sieht man davon ab, dass die Gastgeber
in den über die Stadt verteilten „Satelliten“ eine gewisse kuratorische Kontrolle über die Präsentation der Werke hatten, so hängte die Leiterin einer Zahnarztpraxis eine Fotografie des Norwegers Torbjørn Rødlands aus dem Eingangsbereich ab, weil sie diese ihren Patienten nicht zumuten wollte, wuchsen sich die Kooperationen selten und nur im Ansatz zu Kollaborationen aus.

Die Paarung von Franz Erhard Walther und dem Materialentwickler Thomas Deutschenbaur ist ein Beispiel. Sie arbeiteten an Halbierten Westen für Hotelangestellte zusammen. Das Ergebnis überzeugte im Ansatz und Ausführung. Stoff, Farbe, Schnitt einer im Grunde funktionslosen Funktionsweste für das
dienstbare Personal am Empfang und der Bar fügen sich in das gediegene Ambiente eines Luxushotels und heben die Angestellten gleichzeitig als Individuen hervor, die gerne und mit Stolz über sich und ihre neue Kluft Auskunft geben. Ein anders Beispiel gibt der US-Amerikaner John Arnold, der über die 100 Tage der Manifesta zu bestimmten Zeiten mit dem Sternekoch Fabian Spiquel unter dem Titel Imbissy an Imbissbuden Staatsbankette reenactet. Oder Santiago Sierras Protected Building, die Fortifikation des Helmhauses, dem zweiten Standort der Hauptausstellung, in Zusammenarbeit mit einer Sicherheitsfirma. Die drei zuletzt genannten Arbeiten gehören dann auch zu den überraschenden und herausragenden Arbeiten dieser Manifesta11.

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III. PECUNIA NON OLET – AUSSCHEIDUNGEN UND AUSSCHLÜSSE

Doch kommt die Manifesta11 nicht wie ihr Kurator viel zu lieb und nett daher? Sollte die Manifesta11 Zürich und in Zürich Europa in seinen drängenden Zukunftsfragen spiegeln, ist die Defizitliste lang. Man erfährt nichts über die globale Finanz- und Flüchtlingskrise, die Abstiegsängste einer Mittelschicht, die zunehmend zu Verwerfungen in der politischen Landschaft führen. Es gibt keine Auseinandersetzung mit der Frage nach politischer Mitbestimmung in einer Stadt, wo 32% der Steuerbürger schon von demokratischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind, weil sie keinen Schweizer Pass besitzen. Wo werden Druck und Entfremdung durch neoliberale Arbeitsbedingungen und Beschäftigungsverhältnisse thematisiert? Und hätte die Manifesta11 bei ihrem Titel „What Poeple Do for Money“ nicht auf ihre eigenen umstrittenen Arbeitsverhältnisse
mit niedrigen Honoraren und freiwilligen Helfern statt der festangestellten Mitarbeiter
in den bespielten Häusern reflektieren müssen?

Für diese Defizite gibt es neben Unterlassungssünden zwei schwerwiegendere Gründe: Erstens, der Verzicht Jankowskis auf jede Theoriehuberei. Das kann wohltuend sein. Mutete die vergangene Venedig Biennale ihrem Publikum – mit welchem Erkenntnisgewinn auch immer – dem gesamten Kapital von Marx zu lauschen zu, kommt die Manifesta ohne Marx, Rancière, und Negri-Hardt aus. Doch diese intellektuelle Unbedarftheit schlägt leicht ins Ignorante um: Wenn zum Beispiel bei der Frankfurterin Jorinde Voigt von Sloterdijk die Rede ist, dann als Gewährsmann für eine Bootsfahrt Rousseaus über den Bieler See. Solche Plattitüden verschenken die Möglichkeit, tiefer in die Materie einzudringen. Hier fehlte die dramaturgische Hand. Vernetzungen und Beziehungen verknüpfen sich nicht bloß über die zufällig verteilten Standorte der Stadt. Eine intelligente Psychogeografie tut bei dieser Manifesta not.

Auch der zweite Grund ist ebenso konzeptueller Natur. Er erklärt, die Auswahl der Projekte, in denen das Prekäre und Randständige kaum in Erscheinung tritt: Meist stammen Künstler aus gut situierten Mittelklassefamilien. Wundert es, dass die Kolleginnen und Kollegen Jankowskis wiederum Partner aus gut situierten Mittelklassefamilien wählten? Auch hier hätte Jankowski anders steuern können. So zeigte sich die Israelin Shelly Nadashi von der durch die resolute Lateinlehrerin Margaretha Debrunner angetragene Ovidlektüre derart angetan, dass sie daran ging, eine begehbare Papageientheaterbühne ins Helmhaus zu bauen, während sich die Französin Marguerite Humeau von dem Promovenden des Autonomous System Lab der ETH Mathias Bürki zwei Liebes-Performance-Roboter konstruieren ließ.

Freilich gibt es Ausnahmen. Die Zusammenarbeit der mexikanischen Konzeptkünstlerin Teresa Margolles mit der transsexuellen Gastgeberin Sonja Victoria Vera Bohorquez ragt jedoch heraus. Margolles Konzept sah vor, in einem ehemaligen Stundenhotel in Zürichs berüchtigtem Rotlichtquartier an der Langstraße, das längst von Segregation und Gentrifizierung erfasst ist, einen „interkulturellen Dialog“ zwischen ihrem Zürcher Host Sonja, die ihren Beruf als Escort und Masseurin angibt, und befreundeten transsexuellen Prostituieren aus Mexiko zu inszenieren. Doch die geplante Pokerrunde, in   der über Arbeitsbedingungen, Anerkennung, Ausgrenzung und Diskriminierung geplaudert werden sollte, geriet zum Fanal. Denn während der Vorbereitungen wurde Karla, eine Kollaborateurin Margolles`, im mexikanischen Ciudad Juárez bestialisch ermordet, eine zweite, Jessica aus fadenscheinigen Gründen in einem texanischen Gefängnis festgesetzt. An das Spiel in Zürich war nun nicht mehr zu denken. Margolles verlegte es kurzerhand nach Ciudad Juárez in Mexiko, wo die Pokerrunde vor einem kleinen Publikum in einem Hotel erregt über die Bühne ging. Das beeindruckende Video zur Performance Poker de Damas, in dem die Frauen über den Mord, Polizeiwillkür, ihre tägliche Lebensgefahr und die Doppelmoral der Gesellschaft debattieren, ebenso wie ein zweites, in dem die transsexuelle Martina aufgewühlt Anklage erhebt, verschlägt dem Betrachter die Sprache. Margolles zeigt diese Videoarbeiten nun in der Hauptausstellung und nicht wie geplant, in der Langstraße. Vielmehr richtete sie dort einen Gedenkraum für die Ermordete ein: Rote Vorhänge, ein monumentales Schwarz-Weiß-Foto, das die Weiß-Gekleidete als selbstbewussten Racheengel erscheinen lässt, stehen in scharfem Kontrast zu einem groben Betonklotz am Boden als Anspielung auf den Mord, dessen Bericht in leisen Stimmen aus einem Lautsprecher nachdrücklich und mal um mal unerträglicher wiederholt wird.

Eine so überzeugende Verknüpfung zwischen den Hauptausstellungen im Löwenbräu-Areal und dem Helmhaus zur Stadt und zu den „Satelliten“ gelang nur wenigen – ähnlich dicht nur der Niederländerin Jennifer Tee mit ihren Reliefs in Aufbahrungskammern des Friedhof Enzenbühl, dem Prager Jiří Thýn mit
seinen Textcollagen auf den Foyerfenstern des Univeritätsspitals und Evgeny Antufievs Schmetterling seines Eternal Garden in der Wasserkirche, der in ganzer Fülle, den Platz des aus reformierten Kirchen entfernten Kruzifix einnimmt. Zufall oder hat es mit Demut und Haltung der Künstler zu tun? Es sind alles drei Arbeiten, die sich wie Margolles beim Thema Teilhabe explizit mit Tod, Anteilnahme und Gedenken auseinandersetzen. Im Verhältnis dazu kommen die Body-Images, die in bildgebenden Verfahren der Medizin von Michel Houellebecq hergestellt wurden und als Beitrag des Schriftstellers im Helmhaus zu besichtigen sind, als Kitsch daher. Der Autor bemüht sich um Partizipation am Kunstdiskurs. Doch Teilhabe woran genau und wozu? Der Verweis auf die Differenzerfahrung zwischen Selbstgefühl und objektivem medizinischem Befund
ist reichlich dünn.

Ähnlich ratlos steht der Betrachter zunächst vor Mike Bouchets monumentaler Arbeit The Zurich Load im zweiten Geschoss des Migros Museums im Löwenbräu-Areal. Sie stinkt zum Himmel. Der US-Amerikaner hat hier auf 160 Quadratmeter 300 bis 400 Kilogramm schwere Paletten platziert, auf denen der am 24. März 2016 produzierte Klärschlamm der Stadtzürcher Entsorgungsanlage Werdhölzli in regelmäßigen Quadern präsentiert ist. Achtzig Tonnen insgesamt. Die Arbeit ist in jeder Hinsicht beeindruckend – zunächst vor allem olfaktorisch. Wenn sich der Betrachter an den Gestank gewöhnt hat, mögen ihm erste Bezüge zur Kunstgeschichte in den Sinn kommen, wie Marc Quinns Shit Head (1997) oder die minimalistischen Specific Objects Donald Judds, oder zu Walter De Marias New Yorker Earth Room (1977). Doch The Zurich Load bleibt inkommensurabel und ist an Dreistigkeit kaum zu übertreffen. Denn sie prätendiert rezeptionsästhetisch wie produktionsästhetisch nichts weniger als das partizipative Werk schlechthin zu sein. Den Geruch in der Nase, die dunkle Masse vor Augen wird man schnell gewahr, dass hinter dem Euphemismus Klärschlamm das Wort Kot steckt, das heißt, dass an diesem Werk gezwungenerMaßen all jene Züricher involviert waren, die am 24. März die Toilette benutzten. Ohne Unterschied kommen sie hier zusammen. Wie gesagt, auf Egalität wird Wert gelegt an der Limmat. Möchte sich der Betrachter noch an den psychoanalytischen Zusammenhang zwischen Störungen in der frühkindlich analen Phase und adoleszenten Zwangsneurosen erinnern, die sich in Gier und Geiz äußern können? Der Bogen zum Manifesta11-Thema „What People Do for Money“ wäre geschlossen.

Angesichts der kooperativen Teilhabe auf der Produktionsseite bleibt auffällig, dass keine der gezeigten Arbeiten über eine rezeptive Partizipation des Publikums hinausgeht – sieht man von Bouchets monströser Allegorie einmal ab. Um diese Lücke zu füllen hat Jankowski mit der Umwidmung der Geburtsstätte des Dada zum „Cabaret der Künstler – Zunfthaus Voltaire“ eine Plattform geschaffen, die ausdrücklich zur aktiven Teilnahme des Publikums aufruft. Zugelassen ist nur, wer seinen Clubausweis durch eine Performance mit einem Künstler seiner Wahl erwirbt. Inwieweit sich diese Einrichtung zu einem kreativen Ort mit Zulauf entwickelt, wird sich weisen. Zumindest der Eröffnungsabend, bei dem der dänische Künstler Christian Falsnaes die Teilnehmer seiner Performance Good Reason is One that Looks Like One zu einer spielbereiten Gemeinschaftformierte, war vielversprechend.

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IV. SHELTER-SCULPTURE – ANGSTRÄUME UND VERTEIDIGUNGSLINIEN

Von Gier und Geiz, Geld und Neurosen ist in der „Historischen Ausstellung“ im Löwenbräu-Areal und dem Helmhaus ebenso nichts zu hören, wie an Tabellen und Statistiken zu Durchschnittssalären und Einkommensscheren in Zürich und dem Rest der Welt zu sehen. Bei dem bunten, oft gelungen und gewitzten Bilder-Reigen vermisst der Besucher harte Fakten und politisches wie Arbeitsrecht und Arbeitskampf und bezogen auf die Kunst die dringende Frage von Autorschaft und Urheberrecht. Allzu naiv wird mit einer Szene aus Tarkowskys Solaris, wo der Kindertraumberuf des Astronauten über das berühmte Winterbild Pieter Brueghels auf den Jäger trifft, allegorisch an den Anfang der Ausstellung gestellt und suggeriert, dass mit dem, was man als Brotberuf wählt, eine Konstante im unsteten Leben gegeben sei. In zehn Abteilungen, in denen auch die neuen Arbeiten in Teilen verwoben gezeigt werden, begegnet der Besucher nun bei annähernd
hundert Positionen unter anderem Arbeiten von August Sander, Chris Burden und Yto Barrada in der Abteilung „Portraits von Berufen“, oder in „Kunst als zweiter Beruf“ Rosemarie Trockel, Dieter Meier und Adrian Piper.

Dabei gibt es Überraschungen wie Olga Chernyshevas melancholische schwarzweiße Frauenportraits oder Fernando Sánchez Castillos Video Pegasus Dance (2007), ein launisches Wasserkanonen-Ballett zweier Polizeifahrzeuge. Und der Besucher freut sich über die neue Box-Utensilien-Trophäen-Assemblage Ultra Violet Ritual mit bunten Keramiken, die unter Anleitung des Tschechischen Künstlers Matyáš Chochola im Winterthurer Studio des Thai-Box-Weltmeisters Azem Maksutaj durch harte Faust- und Fuss-Schläge in Form gebracht wurden, oder Jon Kesslers Making-of-Video The World is Cuckoo (Clock), das neugierig macht, auf seine kinetische Skulptur, ausgestellt bei einem Uhrmacher in der Bahnhofstraße. Latente Aggressivität erscheint in beiden Arbeiten – hier in der fröhlichbunten Trophäe, dort in aberwitzigen Transmissionen – sublimiert.

Viel direkter und unübersehbar verhandelt der spanische Künstler Santiago Sierra subkutane Angst und Paranoia in unsicheren Zeiten. Mit dem Sicherheitsberater Marcel Hirschi, verbarrikadierte er das Sockelgeschoss des zentral an der Limmat gelegenen Helmhauses mit Sandsäcken und Holzverblendungen als herrschten Kriegszeiten. Ihr Protected Building ist neben dem Pavillon auf dem See bei weitem die eindrücklichste Arbeit der Manifesta11 im öffentlichen Raum. Denn sie verhandelt ebenso Gegenwartsphobien, wie sie die Reduit-Phantasien der Schweiz und alte Ängste aufruft. Traumatisch hat sich das Jahr 1831 ins Gedächtnis Zürichs eingegraben, als die Landbevölkerung erfolgreich gegen die liberale Stadtregierung putschte. Das Zürich-deutsche Wort „Putsch“ ging damals als bleibendes Denkmal in die Weltsprachen ein. Und somit erinnert Sierras Intervention auch an ein weiteres „Denkmal“, einen bunkerartigen, fensterlosen Betonklotz von 118m Höhe, der nach einer Volksabstimmung just dort errichtet wurde, wo während des zweiten Weltkriegs ein Bunker im Brückenpfeiler die Limmat-Linie verteidigen sollte. Es ist ein Kornspeicher, der – man darf sich auch den Verteidigungsfall denken – die Stadt Wochen und Monate lang versorgen könnte. Auf den veralteten Stadtansichten des Manifesta-Katalogs ist der Silo nichtzu sehen. Er wird 2016 seinen Betrieb aufnehmen und sicher noch seinen Schatten werfen, wenn von der Manifesta11 kaum einer mehr redet.

Veröffentlicht in Kunstforum international Band 241, 2016

 

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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