„Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein,“ heißt es bei Nitzsche. Vielleicht ist dieser Satz der Satz, der Roni Horns keineswegs umfassende oder umfangreiche, jedoch großartige Ausstellung in der Fondation Beyeler am treffendsten umschreibt. Mehr ist im Grunde nicht zu sagen. Außer: Lieber Leser, gehen Sie dorthin, schauen Sie es sich an, solange Zeit bleibt. Ihnen entgeht sonst ein unbeschreibliches Erlebnis, nach dem Sie einmal tief Luft holen und lächelnd und nachdenklich schweigen.
Woran das liegt? Sicher daran, dass hier der seltene Fall gegeben war, dass eine Kollaboration zwischen Kurator und Künstler gelang – unprätentiös und diskret, gegen, beziehungsweise mit der Blockbuster-Ausstellung zur Künstlerfreundschaft von Franz Marc und Wasily Kandinsky im gleichen Haus. Epochemachendes Farbgewitter der Großkünstler mit garantiertem Publikumsstrom hier. Zurückgenommen kluge Raum- und Objektinszenierung eines magischen Konzeptualismus dort.
Dieser findet seine Qualität gerade darin, dass er über das gelungene Einzelobjekt hinaus eine ästhetische Erfahrung des Gesamten vermittelt, die in keiner anderen Weise, keiner anderen Gattung, keinem anderen Medium oder Setting zu vermitteln ist. So wirkt die Kunst Roni Horns wie aus der Zeit gekippt und ist doch zeitgenössisch durch und durch.
Die Künstlerin, 1955 in New York in eine säkulare jüdische Mittelstandsfamilie geboren, gehört längst zu den „Großen“ ihrer Zunft obwohl sie eher als Künstlerkünstlerin gehandelt wird, als dass sie bei einem breiten Publikum Popularität genösse. Zuerst in Europa anerkannt, ihre erste Einzelausstellung hatte sie 1980 im Kunstraum München, war sie 1992 bei Jan Hoets Documenta IX dabei. 2009 wurde ihr – vorläufiger Höhepunkt ihrer Karriere – im Whitney Museum eine Retrospektive eingerichtet, die anschließend auch in London, Avignon und Boston gezeigt wurde. 2011 war sie mit Fotoarbeiten in der Hamburger Kunsthalle zu sehen, obwohl sie sich als Zeichnerin – „it may be my true native language“ –, Objekt- und Installationskünstlerin nicht auf ein Medium festgelegt sehen will.
Diesem Selbstverständnis Horns trägt nun die Basler Inszenierung Rechnung. Sie zeigt sie in allen ihren Disziplinen, stellt mit sechs Oberlichtsälen die denkbar beste Bühne zur Verfügung und scheint Marc, Kandisky und der Blaue Reiter auf den ersten Blick nicht unbedingt der optimale Rahmen, weiß die Künstlerin und ihre Kuratorin auch darauf zu reagieren. Wie anders kann der Auftakt verstanden werden, als ein Echo-Raum auf die zuvor beschworene Künstlerfreundschaft Marc-Kandinsky und die Fragestellung nach gegenseitiger Beeinflussung, Gemeinsamkeit und Unterschied?
Der erste Saal zeigt daher ausschließlich die 30 paarweise angeordneten Foto-Portraits der Serie a.k.a. (2008-09). Sie präludiert ein Grundthema Roni Horns – das von Wandlung, Identität und Differenz. Mal blickt einen das skeptisch-schelmische Gesicht eines maskulinen Typs mit Brille an, mal ragt der rote Schopf einer Jugendlichen aus den späten 1960-er-Jahren zwischen Felsen hervor, oder die großen Kulleraugen eines Kindes glotzen neugierig in die Kamera. Wer sind die abgebildeten Personen? Was wollen sie? Haben sie uns etwas zu sagen?
Der unvorbereitete Besucher würde die Fotografien, alle als Inkjet-Drucke auf dieselbe Größe von 38 x 33 cm gebracht und weiß gerahmt, kaum mit ein und derselben Person verbinden. Erst nach längerer Vertiefung wird ihm dämmern, dass sich hier frei nach Rimbauds Diktum, „Ich ist ein anderer“, die Künstlerin mit privatem Found-Footage-Material selbst portraitiert hat. Sie entfaltet damit ein humorvolles Spiel mit den ästhetischen Verfallsdaten des Mediums, dessen Darstellungskonventionen, den übernommenen und selbstgewählten Haltungen und Masken, dem Habitus und Sexus, die darin zum Ausdruck kommen.
Dieses Präludium erfährt im letzten Saal eine Coda: The Selected Gifts (1974 – 2015) (2015 – 2016), dreiundvierzig Gegenstände, die teilweise in zwei bis vier Ansichten fotografiert übereinander präsentiert werden. Es sind Objekte, vom sentimentalen Plastik-Püppchen bis zur Postkarte, vom versteinerten Saurier-Ei bis zum Musterbogen für Mosaiksteine, die Roni Horn mit den Jahren von Freunden und Bekannten, darunter Tacita Dean, Jürgen Teller, Ragnar Kjartansson oder Felix Gonzalez-Torres geschenkt bekam und nun in unerbittlicher dokumentarischen und doch trauten Einheit nebeneinander hängen.
Sicher stehen hinter jedem Gegenstand Zuschreibungen, Metaphern, die die Künstlerin charakterisieren – doch den gesamten Parcours im Rücken, ahnt der Besucher, dass diese nicht aufgehen werden und es sich hier um ein augenzwinkerndes Satyr-Spiel à la Paul McKarthy handelt. Die Ausstellung folgt demnach einem spiegel-symmetrischen Aufbau. Stellen der erste und der letzte die Künstlerin und die Frage nach Identität in den Vordergrund, präsentieren der zweite und der fünfte zeichnerische Verfahren der Transformation und Dekonstruktion von Bild und Schrift in unterschiedlichen Formaten und Blattgrößen.
Der dramaturgische Höhepunkt wird jedoch klassischer Weise auf die Raumspiegelung und die Gegensätze des dritten und vierten Saals gelegt, die das Thema Wandel und Wechsel am fluiden Element Wasser exerzieren. So folgt den 48 gleichformatigen Decollagen der Serie Th Rose Prblm (2015-16) die Serie von 15 Fotografien der Themse, Still Water (The River Thames for Example) (1999) im dritten Raum. Auf den bewegten Wasseroberflächen entdeckt der Betrachter winzige Ziffern, die auf eine Fußleiste mit Anmerkungen verweisen und so den minimalistischen Bildraum zu einem Informationsträger und Dialogfeld erweitern.
Dergestalt auf Nähe und Interaktion mit der Kunst eingestimmt betritt der Besucher nun jenen Saal, der zweifelsohne zum Schönsten gehört, was in der Fondation jemals gezeigt wurde, Water Double v.1-3 (2013-16) sechs massive Glaszylinder von 135 cm Durchmesser und 143 cm Höhe – eine atemberaubende Begegnung, ein Blick in den Abgrund, der den Betrachter jedoch vom Absturz bewahrt und beglückt zurücklässt.
Zuerst veröffentlicht in Kunstforum international Bd. 243