Kunstkiste – Palazzo – Pharaonengrab. Das neue Zürcher Kunsthaus

Das neue Kunsthaus in Zürich öffnet an diesem Wochenende zum ersten Mal seine Tore für eine breite Öffentlichkeit, noch weitgehend ohne Kunstwerke, doch begleitet von sphärisch durch die Räume flutenden Glockenklängen des Choreografen und Performers William Forsythe – Toten- oder Festgeläut? Wir dürfen neugierig sein. Eine erste Einschätzung von Bau und Inszenierung durch Republikautor Max Glauner.

Erstens – Das Aussen und Innen

Schuhschachtel oder Palazzo? Die Meinungen gehen auseinander. Die Wortbilder stecken auf den ersten Blick nicht ganz unzutreffend die Bandbreite der feuilletonistischen Einordnungen ab, seit im November 2008 das in Berlin ansässige Büro des Briten David Chipperfield den Zuschlag für die dritte Erweiterung des Kunsthauses am Heimplatz erhielt.

Für die Schuhschachtel spricht die schnörkellos stereometrische Form. Kein Pfeiler, kein Risalit, kein auffällig profiliertes Portal oder Fenster stört die gleichförmige Kubatur und die Binnengliederung der Fassade aus horizontalen Gurtgesimsen und lammellenartigen, eng gereihten, rund profilierten Lisenen, die sich von unten bis oben über alle Geschosse ziehen, als wollten sie die Anmutung von Klassizismus des Gebäudes in ein Orientalisch-Entrücktes ziehen. Das Kunsthaus, ein Pharaonengrab? Solche Vertikal-Reihen hat es in der Architekturgeschichte zuerst an den Sed-Fest-Totentempeln der Djoser-Pyramide im ägyptischen Sakkara gegeben. Das von Chipperfield im klassischen Kanon als Attika formulierte dritte Geschoss gilt den Schuhschachtel-Verfechtern notabene als Deckel auf die Kunsthauskiste.

Die Verfechter der Palazzo-These sehen eben im Deckel sowie den Proportionen des Gebäudes, der Geschossgliederung in Sockel, Piano nobile, zweites Obergeschoss und abschliessendem Gebälk das Vorbild in Italien, Rom, Florenz, den wuchtigen Bürgerpalästen der Renaissance. Der Bautyp reichte mit seiner Nomenklatur bisher bis Luzern und Solothurn, nie in die Reformationsstädte Basel oder Zürich.

Doch treffen die Metaphern Kunstschachtel und Palazzo wirklich? Bilden sie ab, was seit gut einem halben Jahr dem Passanten am Ende der Rämistrasse in Zürich am «Pfauen» vorbei nach Norden zur Kantonsschule hin entgegenragt, baulich, sachlich und nicht zuletzt in der Frage nach seiner Öffentlichkeit, ideologisch? Salopp gefragt, wer ist drinnen, wer draussen?

Wer die Baugeschichte des Kunsthaus-Monolithen nicht kennt, wird im Vorüberfahren kaum darauf kommen, dass es sich hier um ein Museum handelt. Polemisch, er könnte auch als Versandlager von Jelmoli in Otelfingen stehen. Und dass es mit den Gebäuden gegenüber in Beziehung steht, erschliesst sich erst im Detail: Der cremefarbige Kalkstein der Fassade nimmt die Materialität der Tempelfront des ersten Kunsthausbaus am Platz von Karl Moser aus dem Jahr 1910, auf und die Lisenen antworten auf die seriellen Rippen des brutalistischen Riegels der Erweiterung der Brüder Hans und Kurt Pfister aus dem Jahr 1958, der, man glaubt es kaum, auf einen Wettbewerb 1944 zurückgeht.

Im Dezember vergangenen Jahres feierte die Stadt Corona-bedingt im bescheidenen Rahmen die Schlüsselübergabe. Da war Chipperfields Kunsthauserweiterung bereits ohne Gerüst. Ist es «ein echter Zürcher»? wie es sein Architekt in einem Interview formulierte, in dem sich «zwinglianische Bescheidenheit mit britischem Understatement trifft»? wie der Vorsteher des Hochbaudepartements Andre Odermatt bei der Schlüsselübergabe ergänzte.

Nun, seit Donnerstag bis in den Mai hinein kann Chipperfields neues Kunsthaus besichtigt werden, noch weitgehend ohne ihren zugedachten Inhalt, die Kunstwerke. Eine einmalige Gelegenheit sich selbst ein Urteil über den vieldiskutierten jüngsten Museumsbau der Schweiz vom Inneren her zu bilden. Um es vorwegzunehmen, auch wenn er auf ein kunstfernes Publikum keine Geste der Einladung macht, besticht er in seiner weit atmenden Raumfolge und gediegen, oft kecken Materialbehandlung von Sichtbeton, Marmor und Eichenholz für die Böden und Messingverkleidungen an Wänden und Türen. Wer dazu noch einen Grund sucht, das neue Haus zu besuchen: Neben bereits fest installierten Arbeiten von Urs Fischer, Lawrence Wiener, Robert Delaunay und Alexander Calder – lockt ein betörendes skulpturales Klang-Erlebnis, die Installation von acht über das Haus verteilte Kirchenglocken durch den Choreografen und Performer William Forsythe «The Sense of Things».

Zweitens – Die Katabasis in die Geschichte

Bis Pfingsten werden sich die Besucherinnen und Besucher allerdings gedulden müssen, bis sie das neue Kunsthaus direkt vom Heimplatz aus betreten können. Der aus der zentralen Achse nach rechts gerückte Eingang bleit bis dahin verschlossen. Wie kommt man rein? Über den angestammten Eingang des Moserbaus, vorbei am Kassenschalter und nach links eine verschämt schmale Treppe hinunter an deren Ende ein langer, sehr langer Gang unter dem Heimplatz zum Neubau führt. Eine helle Beleuchtungsleiste an der Decke und eine durchgehende angenehm profilierte Marmorbank, hinter der warmes Licht an die Wand flutet, geben dem leicht ansteigenden Gang den Eindruck einer Prozessionsstrasse, die Anmutung von Unendlichkeit. Da ist es wieder, das pharaonische Hallo.

Wohin steigt man ab? Was wird einen erwarten? Ist man hier nicht auf Augenhöhe mit den Stadtzürchern, die an diesem Ort vor dem Lindentor zu Pestzeiten bestattet wurden? Der sogenannte Krautgarten zwischen mittelalterlicher Stadtmauer und Barocker Festungsanlage wurde noch bis 1847 als Friedhof genutzt. Der jungverstorbene Dichter und, man würde heute sagen, Aktivist Georg Büchner wurde 1837 dort begraben. Aber der Krautgarten lag einige Meter weiter westlich, dort, wo heute der Pfisterriegel aus den 1950er-Jahren steht. Der erste Kunsthausbau am Heimplatz 1910 steht auf dem Grundstück eines ehemaligen Guts vor den Toren der Stadt, somit auch der Tunnel. Er kreuzt keine Gebeine. Auch für den Chipperfieldbau bestand diese Befürchtung. Würden beim Bauaushub Überreste eines jüdischen Friedhofs aus dem Mittelalter entdeckt, der von den Bastionen überbaut wurde? Es konnte Entwarnung gegeben werden.

Gibt es sonst Leichen im Keller? Die Ikonografie des Ortes deutet es subkutan an: Die Achse vom neuen Kunsthaus führt über den Heimplatz nicht nur auf das alte Kunsthaus zu, sondern auch direkt auf August Rodins monumentales «Höllentor». Es steht dort seit 1947. Ursprünglich eine Auftragsarbeit für ein Kunstgewerbemuseums in Paris, das nie gebaut wurde, wurde es dem Künstler zur Lebensaufgabe, eine skulpturale Bühne zu den Abgründen menschlicher Existenz. Ikonografisch gesehen geht es dahinter also direkt in den Tartaros – in Zürich aber, historisch gesehen, in das wohl heikelste Kapitel der Kunsthausgeschichte. Denn Rodins Höllentor kam durch den Waffenfabrikanten und Mäzen Emil Egon Bührle nach Zürich.

Der Chipperfieldbau verdankt sich auch dem Umstand, dass die in Stiftungseigentum befindliche Privatsammlung des 1956 verstorbenen Bührle vorwiegend impressionistischer Kunst in einem Neubau gezeigt werden sollte. Im Zürcher Patriziat war der gebürtige Pforzheimer zwar nie wirklich angekommen, aber mit seiner Oerlikoner Waffenfabrik, Exportschlager Flakgeschütze an alle Kriegsparteien, sicherte er Arbeitsplätze und hielt die Schweiz am Markt. Als Mäzen zeigte er Zürich einen offenen Geldbeutel. Für einen Mann seines Kalibers gehörte Kunst zum guten Ton. Konventionell im Zeitgeschmack, Altmeister und französische Impressionisten, sammelte er zusammen, was der Markt hergab. Das war ab 1933, das was Migranten aus Deutschland schnell verkaufen oder zurücklassen mussten, um ihre Reise nach Übersee zu finanzieren. Nach Urteilen Schweizer Gerichte musste Bührle zwischen 1947 und 1948 13 Gemälde an die jüdischen Vorbesitzer zurückgeben. Neun kaufte er retour.

Raub- oder Beutekunst aus der Nazizeit werden in Zürich also nicht zu sehen sein. Dennoch befällt manchen Ratlosigkeit, wenn es um den Zusammenhang zwischen Industriekapital aus Waffengeschäften, Zwangsarbeit, latentem Antisemitismus und schöner Kunst geht. Um hier Klarheit zu schaffen, hatte die Stadt im Verein mit der Kunsthausgesellschaft und der Bührle-Stiftung bei der Universität Zürich eine Studie in Auftrag gegeben: «Kriegsgeschäfte, Kapital und Kunsthaus – Die Entstehung der Sammlung Bührle im historischen Kontext». [Link] Rodins «Höllentor» kam dabei nicht ins Visier. Dabei hätte seine bisher unaufgearbeitete Entstehungsgeschichte viel über den NS und die Verstrickungen von Geld, Macht und Kunst erzählt. Gesichert ist bisher nur, dass es 1947 über Bührle im Rahmen einer Ausstellung der Pariser Bildgiesserei Rudier an das Kunsthaus kam und anschliessend über den Baufonds der Kunstgesellschaft angekauft wurde. Woher kam es? Es ist der vierte Abguss von neunen, die nach dem Tod von Rodin mit Genehmigung des französischen Staates als Erbe des Künstlers in der besagten Giesserei Rudier hergestellt wurden. Bestellt 1942, bezahlt, fertiggestellt und nicht abgeholt. Nach der Befreiung 1945 steht es von den Alliierten requiriert in der Werkstatt und ist wohlfeil weiterzuverkaufen, denn der Besteller war, der Fama nach Feldmarschall Hermann Göring, zweiter Mann im Staate Hitler. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass der Bildhauer Arno Breker, der mit der Giesserei Rudier zusammenarbeitete, entweder über die NS-Organisation «Sonderauftrag Linz», zur Bestückung des im österreichischen Linz geplanten «Führermuseums», oder über Alfred Bormann direkt von Hitler einen Auftrag für Rodins «Höllentor» weitergab. Das «Höllentor» hätte das geplante «Führermuseum» in Linz geziert. Es gehört nicht im strengen Sinn zur Beute- und Raubkunst. Dennoch stellt sich die Frage, wie kontaminiert das Kunstwerks einzuschätzen ist. Es ist kein Zufall, dass der munterbunte Lichtmast Pipilotti Rists, der nächtens den gesamten Platz in ein psychedelisch versöhnliches Lichtmeer tauchen soll, an eine Mohnkapsel erinnert – jene Pflanze also, die seit jeher rauschhaftes Vergessen versprach.

Der Artikel erschien zuerst in redaktionell überarbeiteter Form am 26.04.2021 in Republik.ch https://www.republik.ch/2021/04/26/kiste-palazzo-pharaonen-grab-das-neue-zuercher-kunsthaus

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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