Von der Präsenz in Corona-Zeiten. „Eternal Ruins“ in der Galerie Chantal Crousel, Paris, 2020 und „Community of Fragments“ im Kopenhagener Kunstverein GL Strand im April 2021

Wann die Ausstellung „Community of Fragments“ des Schweizer Künstlers Thomas Hirschhorn im Kopenhagener Kunstverein GL Strand öffnen würde, war bei Redaktionsschluss noch nicht auszumachen. Der ursprüngliche Termin für den 10. Februar 2021 verschob sich pandemiebedingt auf den 2. März. Nun heisst es, „opening as soon as possible“. Das Land vermeldet am 8. März eine im Vergleich zu Dezember stark gefallene Sieben-Tage-Inzidenz von 61. Für Dänemark kein Grund, dem Publikum die Kultur, oder andersherum, der Kultur das Publikum zurückzugeben, während Schuhgeschäfte und Möbelhäuser unter Auflagen Anfang März wieder öffnen konnten.
Dennoch erlaubt und lohnt es sich, über Hirschhorns „Community of Fragments“ zu berichten. Mehr noch, es ist geboten. Der Künstler gehört nicht nur zu den prominenten und vernehmlichen Kritikern der Schliessung von Galerien, Museen und Theatern, sondern ihm gelangen seit Beginn des Lockdowns im März 2020 diverse Strategien, seine Kunst weiter zugänglich zu halten und mehr noch, Einblick in den Entstehungsprozess seiner Werke zu geben – auf spielerisch-traumwandelnde Weise.
Das reale Medium gab Hirschhorns Smartphone und das Videoportal YouTube ab, das virtuelle, seine Leitfigur, wie zuvor schon Ingeborg Bachmann, George Bataille oder Robert Walser, die zerbrechlichexzentrische Philosophin und Aktivistin Simone Weil, geboren 1909 in eine assimiliert-jüdische Arztfamilie in Paris, verstorben nach einem denkenden und glück-los-abenteuerlichen Leben im englischen Exil 1943.
Im Frühjahr 2020 entstand in der Isolation des Lock-Downs auf dem Boden der Pariser Wohnung Hirschhorns in Aubervilliers eine gewaltige 250 × 450 cm große „Simone Weil-Map“, die zentralen Begriffe, Texte und Sentenzen von und zu der Philosophin und Fotografien in einem graphischen All-Over zu einem eng verwobenen, hermeneutisch subjektiven Konstrukt vernetzt. Programmatisch heisst es in einem Erklärkasten links oben bekenntnishaft: „Haltet mich für blöd, ich wollte Simone Weil wegen ihrer Nähe zu Religion, Christentum und Katholizismus nie lesen. Ich habe jetzt verstanden: Sie ist weit davon entfernt. (…) Sie hat alles der Reinheit der Liebe, der Wahrheit, der Arbeit geopfert. Ich liebe ihren Extremismus, ihre Verrücktheit, ihre Anorexie, ihre absolute Radikalität und Einzigartigkeit. Sie ist ein Vorbild für jeden Künstler (…).“ [Übers. d. A.]
Kitsch, wenn wir sagen, Simone Weil wird zu Hirschhorns Muse in Corona-Zeiten? Auf das geistige Gegenüber Simone Weil war der Künstler schon vor der Corona-Pandemie gestossen. Nur wenige Tage vor dem Lockdown in Frankreich und damit nur kurze Zeit für das Publikum zugänglich, wurde die Ausstellung „Eternal Ruins“ in der Pariser Galerie Chantal Crousel eröffnet, in der Hirschhorn mit 23 hochformatigen Tafelbildern, von ihm „Chat-Poster“ genannt, die Auseinandersetzung mit der Philosophin in den Mittelpunkt stellte.
Im einheitlich überlängten Format von 240 × 125 cm variierten sie auf braunem Packpapier im grafischen Aufbau einer Smartfon-Applikation Sprechblasen, Abbildungen von Trümmerlandschaften, sowie durch Filzstift hervorgehoben, die Ikons einer Mobilfunkbenutzeroberfläche. Darauf in Clustern applizierte lila schimmernde Kristalle erweiterten die zweidimensionalen Wandarbeiten ins Räumliche, um mit der ästhetischen Spannung eine geistige Dimension zu erschliessen. Sie kreist für Hirschhorn mit Simone Weil um das existenzielle Gegensatzpaar „Grace“, das sich mit Gnade und Anmut übersetzen lässt und „Gravity“, die Schwerkraft, die Schwere, der Ernst – für Weil, alles, was uns an das geworfene und verwaltete Leben existenziell bindet. Dem ist aktiv nicht zu entrinnen. Nur durch eine Wachheit, Empfänglichkeit gelingt ein momentanes, flüchtiges Zuteilwerden an einem Transzendenten, für Hirschhorn ein nur ansatzweise zu vermittelndes Schlüsselmoment künstlerischer Arbeit.
Ob Gnade, Glücksfall, Intuition, mag dahingestellt sein, mit dem Lock-Down zeigte Hirschhorn künstlerisches Gespür und beschloss eine 20-minütige Video-Führung durch seine Ausstellung aufzunehmen und bei YouTube einzustellen. Der Rundgang frappiert. Zum einen durch die unprätentiösen Erläuterungen und Kommentare des Künstlers, zum anderen durch das Format. Denn der Ausschnitt seiner Mobilfunk-Kamera entspricht dem Format der ausgestellten Werke, eine Analogie, die sie in ihrer virtuellen Realität beängstigend und beglückend näher rückt.
Dies gelang Hirschhorn auch ein Jahr später in Kopenhagen. Er stellte ab dem 24. Januar 2021 täglich fünfzehn 2–5 Minuten lange kommentierte Video-Clips aus seiner Mobilfunkkamera vom Aufbau seiner Ausstellung „Community of Fragments“. Sie zeigen die Entstehung eines über zwei Stockwerke ausgedehnten höhlenähnlichen Einbaus aus Holz und mit Paketband verklebter grauer Pappe, das Wachsen einer verspielten Grotte, die irgendwann das Publikum zur Interaktion mit Hirschhorns und Simone Weils Gedankenwelt empfangen könnte. Auch hier geht das Video über die blosse Abbildung hinaus. Nicht nur, dass die Zuschauerinnen von Clip zu Clip dem Entstehungsprozess beiwohnen, sondern sie folgen durch die Kamera einem Schatzsucher in einem sinnlich-intellektuellen Labyrinth.
Hirschhorn versucht nicht, den Ort, die Realität zu dokumentieren, sondern fügt einen neuen Aspekt, den Blick des Künstlers, hinzu. Während der Winterwochen baute er 57 Tage lang täglich eine kleine Simone Weil-Gedenkstätte mit Fotos, Texten und Plüschteddy vor seinem Atelierhaus auf und wieder ab, ein stiller Protest gegen die Schliessung der Kultureinrichtungen. Er beharrt auf die Präsenz des Werks, wenn man so will, auf die Gnade der unmittelbaren Begegnung. Wenigen Künstlerinnen und Künstlern ist das in der Corona-Zeit so eindrücklich gelungen.
Thomas Hirschhorn, Eternal Ruins, 16. März 2020, Video: www.youtube.com / watch?v=tKcnOnmbFOg
Thomas Hirschhorn, Community of Fragments, Set-Up Day 0–15: www.youtube.com / channel / UCQhg1I3A-a4BkBT6OKxvobg / videos
Zuerst veröffentlicht in Kunstforum International Band 274