Klotzen. Walter De Marias „The 2000 Sculpture“ im Zürcher Kunsthaus

Das Kunsthaus Zürich legt im brutalistischen Pfister-Bau The 2000 Sculpture des U.S.-amerikanischen Künstlers Walter de Maria aus. 2000 Gipsklötze paradieren zur rechten Zeit gegen Zeitgeistkunst und Spektakel-Bilderflut – eine atemberaubende Begegnung

Walter De Maria, „The 2000 Sculpture“, Installationsansicht, Foto: Max Glauner

Kunstwerke besitzen ein Verfallsdatum. Sie erscheinen so dem Zeitgeist geschuldet, dass sie nach abgelaufener Frist trotz aller Penetranz schnell in der Versenkung verschwinden. Jeff Koons Bubble-Zoo zum Beispiel oder die Schraubendreher-Ziegel-Skulpturen von Los Carpenteros am Zürcher Escher-Wyss-Platz. Es gibt jedoch andere, deren Qualität sich erst nach vielen Jahren zeigt. Aus der Zeit gefallen sedimentiert sich in ihnen eine kollektive Erfahrung, die erst in einer bestimmten Konstellation zu Tage treten kann. Michelangelos Torsi oder Goyas Pinturas negras, Joan Jonas Video-Romanzen oder Mirjam Cahns monströse Bildfantasien.

Dazu zählt auch Walter De Marias monumentale The 2000 Sculpture. 2000 bezieht sich auf die Anzahl von 2000 5, 7 und 10-kantigen 50cm langen Gipsbarren, die in dieser Arbeit auf 10 x 50 Meter akkurat im Fischgrat-Muster auf dem Boden ausgelegt werden. 2000 bezieht sich aber auch auf das Jahr 2000.

Dabei kam The 2000 Sculpture zunächst zu spät. Als sie 1992 der Öffentlichkeit im grossen Ausstellungssaal des 1958 eingeweihten Pfister-Baus des Kunsthaus Zürich zum ersten Mal gezeigt wurde, hatte De Maria bereits zehn Jahre daran gearbeitet. Erst jetzt hatte sich ein Zeitfenster ergeben, den gewaltigen Raum ohne jeden Einbau zu nutzen. Der Millenniumswechsel, der mit dem Titel angespielt wird, rückte in erwartungsvolle, aber auch bedrohliche Nähe. Angeregt war De Marias Jahrtausend-Werk durch den regelmässigen Gast-Kurator des Kunsthauses Harald Szeemann, der sich seit seiner legendären Ausstellung in der Kunsthalle Bern When Attitude Becomes Form 1969 zum Doyen zeitgenössischer Kunst emporgearbeitet hatte. 1977 hatte Manfred Schneckenburger Walter De Maria zur documenta 6, eingeladen. Mit dem Vertikalen Erdkilometer versenkte der Künstler im Friedrichsplatz in Kassel Messingstäbe von fünf Zentimeter Durchmesser in der Gesamtlänge von einem Kilometer. Zu sehen ist dort bis heute nur das gut ein Fünfliber Stück grosse Ende des Bildwerks in seiner Betonplattenfassung. Das Anti-Monument an einem repräsentativen Platz, der bis dahin Herrscherbildnissen zu Pferde vorbehalten war, sorgte für Skandal, regt aber bis heute nicht nur das Vorstellungsvermögen des grüblerisch neugierigen Publikums an, sondern setzte einen kühnen Schlusspunkt im Diskurs zur Frage, was skulpturale Gestaltung und somit auch Kunst überhaupt sei, indem er in der Tradition Marcel Duchamps, die abschliessende Formung und Deutung des Kunstwerks den Betrachterinnen und Betrachtern überlässt.

Walter De Maria, „The 2000 Sculpture“, Installationsansicht, Foto: Max Glauner

Das empörte Feedback des Boulevards, der sich wieder über Geldverschleuderung ereifern konnte, war vorprogrammiert. Doch mit dem Jahr 1977 konnte De Maria auch künstlerisch weiter punkten. Er stand kunsthistorisch gesehen auf dem Zenit seiner Karriere. Im gelang mit Hilfe der durch den Münchner Kunsthändler Heiner Friedrich ins Leben gerufenen Dia Art Foundation die gewaltige Installation The Lightning Field in der Wüste New Mexicos – ein Meilenstein der Land Art, die Kunst mit der Natur in Verbindung setzt, zuerst um gängige Ausbeutungs- und Verwertungsketten der Märkte zu unterbrechen. Friedrich ermöglichte De Maria bereits 1968 in seiner Münchner Galerie die Arbeit 50m3 (1600 Cubic Feet) Level Dirt / The Land Show: Pure Dirt / Pure Earth / Pure Land, mit der den Besucher nichts als in allen Räumen meterhoch verteilter Torf erwartete. In der New Yorker Whooster Street lässt sich noch heute einer dieser Erd-Räume begehen. Und auch Das Blitzfeld ist erhalten, 400 Edelmetallstäbe, sechs bis neun Meter hoch, die auf der Fläche von 1,6 x 1km in regelmässigen Abständen von 66m Wüste und Vorstellungskraft der Besucherinnen – nur sechs pro Tag sind zugelassen – strukturieren.

De Maria hatte damit sein Vokabular der Land Art und Minimal Art, in der Schweiz würde man sagen, der konkreten Kunst, im Grunde ausgereizt.

Der Rezensent des einst weit über die Schweiz hinaus bekannten Kunstmagazins Parkett Thomas Kellein, damals Direktor der Kunsthalle Basel, behandelt in seiner Besprechung De Marias The 2000 Sculpture dann auch als hypertrophen Schnee von gestern. Mit der Nachwendezeit 1989 hatte sich in der Kunst eine neue Kohorte angemeldet. Konkrete und Konstruktive Kunst passte kaum mehr in die von den Young British Artist’s angeführte Bild- und erzählverliebte Post-Moderne. Wo zu Beginn der 1990er-Jahre nahezu jeder Vorstadt-Friseur-Salon und Curry-Buden mit Friseur-2000, Curry-2000 warben, war die damit verbundene Zukunftsverheissung ohnehin obsolet geworden. Die legendäre Berliner Kneipenszene Kumpelnest-3000 setzte daher bereits 1987 die eschatologische Heilserwartung ironisch auf die folgende Jahrtausendwende. Und Zürich rüstete sich nach Räumung der offenen Drogenszene am Plattspitz 1992 zur Techno-Party-City und Kreativ-Standort über die Grenzen von Affoltern und Leimbach hinaus.

Da passte De Maria nicht so recht ins Bild. Im wahrsten Sinn des Wortes. Passt er heute? Nein. Denn er will nichts sagen, nichts erzählen, nichts bedeuten, sondern eine Erfahrung ermöglichen – also passt er doch. Denn in seinem Entzug von Erzählung, Bedeutung und Bild setzt er eine starke Antithese zu einer ikonodulen, bildverliebten Zeit. In dem Masse wie minimalistische, konstruktive Kunst selbst in die Vergangenheit gerückt ist und kaum mehr den Diskurs zeitgenössischer Kunst dominiert, lässt sich De Marias monumentaler Machtspruch heute von einer gleichsam diskreten und zarten aber auch von seiner unerbittlichen und brutalen Seite betrachten.

Walter De Maria, „The 2000 Sculpture“, Installationsansicht, Foto: Max Glauner

Wem es vergönnt ist, möglichst alleine nur wenige Minuten der Betrachtung mit De Marias Arbeit zu verbringen, dem verschlägt es den Atem. Pathetisch gesagt, wir werden auf uns zurückgeworfen. Denn wir entdecken in der seriellen Regelmässigkeit ständig optische Irritationen, die unsere Vorstellung von einem homogenen euklidischen Raum als Guckkastenbühne in Zweifel ziehen. Wir können das Ganze der 2000 Teile nie als Bild erfassen. Nicht nur das Licht – De Maria lässt nur Tageslicht mit seinen Wetterabhängigkeiten und Wechseln zu – lassen die weissen Barren kontrastreich lebendig werden, sondern jeder Schritt, jeder Blickwinkel lässt neue Konstellationen, neue Achsen, Muster entstehen, die die mathematische Ordnung gleichsam mit einem neuen Algorithmus versieht und die inkommensurable Bodenformation zum Tanzen bringt. Die scheinbar unzugängliche opake Ordnung kann nun durch uns aufgelöst und neu geordnet werden. Und das hat etwas Befreiendes. Wir sind im nicht wie es scheint, ausgeliefert, der proto-digitalen Ordnung unterworfen, sondern stehen ihm als Subjekt gegenüber. Die Erhabenheit der Setzung kippt ins schöne Spiel des mündigen Betrachters.

Wir könnten jetzt noch viel erzählen, anmerken, dass die Arbeit dem Titel geschuldet bereits 1999/2000 ein zweites Mal gezeigt wurde. Dass die heutige Präsentation weitgehend der ursprünglichen entspricht. Wobei nach der letzten Renovierung eingebaute Lüftungsschlitze am Fuss der Seitenwände den geschlossenen Lichtraum stören, dessen geöffnete Oberlicht-Decke nun nicht mehr von der Bodenarbeit wie von Geisterhand angezogen niedrig wirkt. Misslich stellt sich auch der Umstand heraus, dass an der Stirnwand des Pfister-Saals durch einen Einbau einige Meter fehlen, um den ursprünglich vorgesehen Abstand zur Arbeit zu bekommen. Dennoch ist dem scheidenden Kunsthaus-Direktor Christoph Becker und seiner Kuratorin Mirjam Varadinis nach William Forsythes Glocken-Spiel-Stück ein zweiter Abschiedscoup gelungen, der ein starkes Zeichen wider die Spektakelkultur setzt. Ein absolutes „Must“ in diesem Zürcher Kunstherbst.

Der Text wurde redaktionell bearbeitet und gekürzt am 01.09.2021 in der Republik.ch veröffentlicht: https://www.republik.ch/2021/09/01/kloetze-statt-klotzen

Walter De Maria, „The 2000 Sculpture“, Installationsansicht, Foto: Max Glauner

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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