Die dOCUMENTA 13 wird heute offiziell eröffnet. Entgegen gedämpfter Erwartungen im Vorfeld zeigt sie sich über weite Strecken kritisch, anregend und munter – die Losung: Wer immer kann, sollte nach Kassel fahren.
Max Glauner
Diese dOCUMENTA 13 werden die Leute lieben. Wenn das Wetter mitspielt, lässt es sich stundenlang in den Karlsauen von einem Pavillon zum nächsten schlendern. Vielleicht entdeckt man ein kunstvoll gestaltetes Baumarktknusperhäuschen von Joan Jonas oder Fiona Hall, oder den Rumpelkistenwohnwagen von Shinro Ohtake, gespickt mit Zivilisationsmüll, Musik und Booten, falls die Auen doch von der Fulda überflutet werden. Dazu warten Voodoo-Püppchen in Bäumen (Issa Samb), Öko-Food-Stände in Baumarkthütten (And And And) und Beduinenzelten (Robin Kahn), eine lustige Uhr (Anri Sala) und eine Bude mit Fotoarbeiten von Rosemarie Trockel, womit sie nicht mehr so lustig wie auf einer documenta zuvor daherkommt, wo bei ihr ein Stall mit veritablen Hausschweinen für Stimmung sorgte. Wer Verdichtung und Konzentration sucht, ist im Fridericianum oder in der Neuen Galerie gut unterhalten und angeregt. Dazu kommen weitere Ausstellungsorte in der Stadt, vom Kulturbahnhof bis zu Bunkern in den Weinbergterrassen, die in ihrer schieren Fülle jeden überfordern. Die documenta war immer schon ein Monsterformat des Kulturbetriebs. Hier wird es bestätigt.
Bewußtseinserweiterungen
Zwar zeigte sich die künstlerische Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev auch bei ihren Eröffnungsauftritten als intellektuelles Leichtgewicht mit erheblichen Kommunikationsdefiziten. Doch man verzeiht ihr angesichts solider kuratorischer Leistung, denn die meisten Arbeiten haben Raum und Luft zu Atmen und kommen ohne Überbau aus. Dazu ist für jeden Zeitgenossen etwas geboten, thematisch wie formal, auch wenn man vergeblich nach einem Überblick der wohlgestalteten Form, „große“ Kunst, Gerhard Richter oder Bill Viola sucht. Große Namen sind out, die Grenze zum Kunstmarkt deutlich gezogen. So finden sich auf der dOCUMENTA-13-Teilnehmerliste über 300 Personen wieder – darunter auch das Documenta-Team, Philosophen und Wissenschaftler – aber kaum zwei duzend, die höheren Bekanntheitsgrad für sich beanspruchen können, wie der Libanese Walid Raad oder der Altmeister der minimalistischen Botschaft Lawrence Weiner. Die Auswahl der Arbeiten erfolgte offensichtlich nach dem, was sie transportieren, in welchen Kontext sie gestellt werden können. Sie sollen Gegenwart verdichten, sollen im Dialog stehen. Unter Umständen über Kilometer Entfernung: Das monströse Industrieschrottensemble der Turinerin Lara Favaretto am Kassler Kulturbahnhof gibt eine Steilvorlage für die Biomüllkippe des Pariser Pierre Hyghe in der Karlsaue, die er als ein Pflanzort für bewußtseinserweiternde Gewächse nutzt.
Für den Dialog über die Jahrhunderte stehen eine Handvoll modernistischer Klassiker wie Man Ray, Giogio Morandi, oder der spanische Bildhauer Julio Gonzalés bereit, die allesamt im Allerheiligsten jeder documenta, dem Fridericianum, mit kleinen Referenzwerken vertreten sind. Sie helfen das Kernthema dieser dOKUMENTA zu illustrieren, die sich eine transkulturelle Archäologie auf die Fahnen geschrieben hat. In der Fridericianumrotunde schlug sich das durchaus erhellend und mit Humor im Nebeneinander von baktrischen Figurinen aus dem 2. Jahrtausend vor Christus, zwei Marmorblöcken von Giuseppe Penone, Essere fiume 6,1998 und den Schwarz-Weiß-Fotos der Fotografin Lee Millers in Hitlers Münchner Badewanne 1945 nieder.
„Die Goldene Kaskade“
So setzt sich diese dOKUMENTA 13 stärker als ihre Vorgänger direkt und sehr unmittelbar mit der Stadt Kassel auseinander, entdeckt Orte, die selbst die Bewohner nur vom Hörensagen wussten, das ehemalige Elisabethkloster oder die Bunker in den Weinbergterrassen, zu schweigen von den ausgedehnten Karlsauen, die man nun bis in die entlegenen Ecken erwandern oder mit dem Fahrrad entdecken kann. Auch das sogenannte Hugenottenhaus gehört dazu, ein im Ursprung barocker Bau, der bis zum Leerstand als Hotel genutzt wurde. Mitten in der Stadt hinter dem Rathaus gelegen, wird es nun für die hundert Tage durch Theaster Gates, ein Künstler und Aktivist aus Chicago mit seiner Truppe in Beschlag genommen. Seit 2009 baut er in seiner Heimatstadt ein Haus um, das als Baustelle, Treffpunkt und Plattform für ästhetische wie soziale Projekte dient und nun in Kassel fröhliche Urständ feiert. Vergäbe Kassel einen Preis für die beste künstlerische Arbeit, sagen wir „Die Goldene Kaskade“, so wäre Theaster Gates sicherlich ein Anwärter.
Ein zweiter, dessen Arbeit für sorgfältige Recherche und ästhetisch überzeugende Dokumentation steht: Der Inder Amar Kanwar, der bereits bei den zwei vorherigen documenta-Austellungen vertreten war, politisch, engagiert und eindrücklich. Er ist nun mit der Arbeit The Sovereign Forest, 2012 im Ottoneum vertreten. Kanwar erzählt darin unaufgeregt vom Widerstand ostindischer Bauern und Fischer gegen die Landnahme eines Stahlkonzerns. Eine große, elegisch schöne Videoprojektion spannt ihr Narrativ zu einer Installation im abgedunkelten Nebenraum: Neben an der Wand befestigten Kästchen mit Saatgut der betroffenen Region Orissa liegen Palmblattfolianten mit vertiefenden Texten, auf die der Künstler Videoarbeiten horizontal projiziert. Statt eines starren Blicks auf die Verhältnisse gestattet Amar Kanwar ein nachhaltiges Erschließen des Konflikts.
Performance und Theater
Wenn auf der inhaltlichen Seite die Suche nach Verschüttetem, Vergessenem im Mittelpunkt steht, so ist auf der formalen Seite die Fülle performativer Kunstformen auffällig, Niederschlag einer vielgehegten Sehnsucht nach Verbindlichkeit und Präsenz. Sicher hat man sich in Kassel noch zu wenig Gedanken darüber gemacht, wie die in der Eröffnungswoche gezeigten Arbeiten auch weiterhin zugänglich gemacht werden können. Im Hugenottenhaus zeigte die Performance von Tino Sehgal (Ohne Titel) wie der Besucher in einem völlig abgedunkelten Parterreraum, in dem 12 junge Menschen sangen und tanzten, zuerst von Dunkelheit und Gesang und Tanz eingeschüchtert schnell Teil der wilden Meute werden konnte. Ebenso berückend und leider nur in wenigen Vorstellungen zu sehen, die Performance der elf Schauspieler des Zürcher Theaters HORA, Jugendliche mit Down-Syndrom, die unter der Anleitung des belgischen Choreographen Jérôme Bel sangen, tanzten und von ihrem Leben und ihrer Arbeit in der Produktion erzählten. Doch auch sonst ist das Angebot an Theater und Bühnen, Performativem und Partizipation des Besuchers groß: Das reicht von der verschwenderischen Fülle kopierter Zeichnungen und Texte der New Yorkerin Ida Applebroog. Jedes Blatt kann in einem Ausstellungssaal des Fridericianums als Give-away in die Tasche gesteckt werden, bis zu den Häuschen in der Karlsaue, wo man Mitmachtheater im SANATORIUM des Mexikaners Pedro Reyes geboten bekommt. Auch Haegue Yangs Jalousienballett im Kulturbahnhof kann zu den theaterreifen Arbeiten gezählt werden: Die Batterie Sicht- und Sonnenblenden wird unter der verglasten Shedhallendecke einer verlassenen Lagerhalle wie von Zauberhand auf- und zugezogen. Man hat das bei der koreanischen Künstlerin mit Wohnsitz in Berlin zwar schon öfter gesehen, doch hier erscheint es am richtigen Ort, denn sie bietet auch eine ästhetische Vermittlung zum furiosen Blackboxtheater des Südafrikaners William Kendridge, The Refusal of Time, 2012, nebenan. Kendridge entführt in eine immersiven Raum mit einer klapperndern Holzmaschine, Zirkusmusik und Videoprojektionen, die den Betrachter mit Dada-Welten à la Georges Méliès verzaubern, als wäre er im Herz von Martin Scorseses „Hugo“ gelandet.
Spiel mir die Realität
Mit dem Publikum distanzierter gehen die zahlreichen Videoarbeiten um, die ihr Thema durch Spielszenen zu transportieren versuchen. Gleich neben Kendridge findet sich die Dreikanal-Videoistallation Muster des Berliners Clemens von Wedemeyer. Er bietet eine Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit eines Mädchenerziehungsheims bei Kassel. Doch ebenso wie der Israeli Omar Fast, der Kriegstraumata in einer Videoprojektion in den Karlsauen zeigt (Continuity, 2012), gelingt es von Wedemeyer nicht wirklich überzeugend, die harsche Realität in die Fiktion zu übersetzen. Unausgegoren wirken die Texte, zu gestellt agieren die Protagonisten. Das Fade Gefühl des Betrachters bei von Wedemeyer und Fast rührt sicher auch daher, dass sie hier nur den zweiten Aufguss früherer Arbeiten servieren.
Bei zwei Arbeiten bestätigt sich dieser Eindruck in jedem Fall, leider bei dem Belgier Francis Alÿs und der Kanadierin Janet Cardiff. Von Francis Alÿs wird über die folgende Zeit in Kassel nur ein Set von postkartengroßen Malereien zu sehen sein, betörend schöne Studien, die an ein Storyboard erinnern, in einer ehemaligen Bäckerei gleich neben dem Hugenottenhaus. Doch diese Skizzen sind ein Side-Produkt des Films REEL-UNREEL, den er 2011 in Kabul gedreht hat. Man hat den Dreißig-Minuten-Film nur in wenigen Screenings zu sehen bekommen: Kinder, natürlich nur Jungs, drehen zwei Filmrollen durch die afghanische Hauptstadt, was dem Zuschauer eine schlechte Allegorie und einen aggressiv postkolonialen Blick auf die Verhältnisse zumutet. Ahnt die dOCUMENTA-Leitung etwas? Der Film wird nach dem Eröffnungswochenende weiter nicht gezeigt.
Ebenso eine Zumutung und ärgerlich ist der Alter Bahnhof Video-Walk von Janet Cardiff und Georges-Bures Miller im Kassler Kulturbahnhof: Die Künstlerin navigiert mit gesenkter Betroffenheitsstimme durch die Nazivergangenheit des Ortes. Wie in ihrem Wald-Atmo-Hörspiel mit choralem Finale in der Karlsaue erlebt man nicht mehr, als eine effektverliebte Reprise früherer Arbeiten wie Ghost-Machine im Berliner Theater HAU.
Dagegen State-of-the-Art am gleichen Ort: die Klanginstallation der Turner-Prize-Trägerin Susan Philipsz. Sie schickt mit sieben Lautsprechern unbequeme Streichmusikfragmente des 1944 in Theresienstadt umgebrachten Pavel Haas über die Gleise. Die Musik bemächtigt sich des undefinierten Raums aus Gleisen, Masten, Rampen und schafft, als sei`s ein Nachhall vom Pfeifen im Walde, eine nachhaltige Erinnerung. So auch das Tänzer-Künstlerpaar Allora & Calzadilla. Sie lassen ihre Besucher in einen Bunkerstollen hinabsteigen, um in einem Video einer Flötistin beim Spielen einer neolithischen Geierknochenflöte zu lauschen, Klänge, die menschliches Leid und Freude über Jahrtausende transportiert.
Es ist kein Zufall, dass die Berliner Künstlerin Charlotte Salomon, 1944 in Auschwitz ermordet, 1943 auf achthundert Blättern ein gemaltes Singspiel in Gouachen Leben? Oder Theater? entwirft: Das Malen und Zeichnen will aus der Einsamkeit ausbrechen, zur gelebten Gemeinschaft und Aktion werden, wo dies die politischen Verhältnisse längst nicht mehr zulassen. Das Singspiel ist im Fridericianum zu sehen und wäre allein wert, nach Kassel zu fahren.
ENDE