Vier Zürcher Inszenierungen – vier bemerkenswerte Frauenfiguren beanspruchen Zeitgenossenschaft und damit eine Überlegung, ob und wie sie diese einlösen: Lisa in Daniela Löfflers Kinder der Sonne im Pfauen, Susie in Keren Cytters Show Real Drama im Theater am Neumarkt, die Senta in Andreas Homokis Der fliegende Holländer im Opernhaus und Laura Koerfers Miss Sara Sampson im Theater am Neumarkt. Was erzählen sie über Theater heute, heutiges Rollenverhalten und Geschlechterbeziehungen?
Sicher war es Zufall, dass die letzten vier Zürcher Inszenierungen des vergangen Jahres, die ich besuchte, den ewigen Plot Boy meets Girl behandelten und damit Frauenfiguren ins Zentrum stellten, die Zeitgenossenschaft reklamierten. Obwohl die Genres und Ansprüche der Darbietungen bei einigen Gemeinsamkeiten – sie waren allesamt Textbasiert und auf Guckkastenbühnen präsentiert – sehr unterschiedlich waren, eine Oper, eine Aufführung, die unter der falschen Gattungsbezeichnung „Performance“ firmierte, zeigte sich die Stärke und Aussagekraft der Figuren wesentlich abhängig von inszenatorischen Entscheidungen, gelungenen und gescheiterten Dispositionen der Regie und ihrer Darstellerinnen.
Den Reigen eröffnete zufällig Lisa in Daniela Löfflers Premiere von Maxim Gorkis Kinder der Sonne im Pfauen des Schauspielhauses. Die Inszenierung krankte an manchem: Trotz ambitioniertem Reduktionismus zeigte sich der Abend geschwätzig: Auf- und Abtritte der Darsteller ins Parkett, wo sie auf den nächsten Einsatz warten durften, ein Einheitsbühnenbild in Bienenwabenform, Kostüme von der Kaufhausstange, ein kleines Chemielabor und der Samowar des Protagonisten Protassow auf dem Bühnenboden – sie stellten die einzigen Requisiten dar – sollten für die Hipness-Punkte des Abends sorgen. Doch es fehlte ein Anliegen wie an dramaturgischem Gespür und Timing. Vorrevolutionärer Eskapismus: Eine Gesellschaft um den egomanen Pawel Protassow (Rainer Bock) schließt sich gegen das feindliche Draußen ab. Die Cholera wütet im Land während man drinnen von den „glücklichen und edlen Menschen“ der Zukunft träumt, aber keine der zwischenmenschlichen Beziehungen gelingt. Warum erzählt Löffler die Geschichte? Eine einfache Antwort hätte lauten können: Eine Parabel, die von heute erzählt. Oder einfach: Ich habe hier tolle Schauspieler, die euch was zeigen können. Doch wie am Pfauen unter der Intendanz von Barbara Frey meist der Fall: Es agieren auch bei Daniela Löffler begabte Solisten, doch kein Ensemble. Und man hätte getrost streichen dürfen. Warum man vor der letzten halben Stunde noch in die Pause geschickt wird, kann wohl keiner so recht erklären.
Dass der Abend dennoch nicht als völlig gescheitert erklärt werden muss, liegt an den Darstellern Löfflers, die sich redlich und hingebungsvoll ihrer Figuren annahmen und zweien, die professionellen Ansprüche an die Schauspielkunst dann weit übertrafen: Julia Kreusch als Lisa Protassowa, die labile Schwester des Protagonisten und Sean McDonagh als deren Widerpart und Geliebter, der manisch-depressive Veterinärmediziner Boris Nikolajewitsch Wagin. Es mag dem Umstand geschuldet gewesen sein, dass sonst so wenig zu sehen war, doch ich ersehnte jede Szene, die sie wieder zusammen auf die Bühne bringen würde. Ihr Hin und Her, ihr Liebt er mich oder nicht, was soll-ich-mit-ihm-und-er-mit-mir, die Sehnsüchte nach dem Anderen, die permanente Selbstbefragung, die Zweifel, die Unsicherheiten – das alles war von beiden so beiläufig und ausgestellt so ernst und gewitzt zugleich gespielt, dass in diesen Momenten die Realität des Theater zum Realen anwuchs. Wie sie das geschafft haben? Kreusch und McDonagh wollen im Gegensatz zu vielen Schauspielern nicht um jeden Preis geliebt werden. Das macht sie an diesem Abend zu Ausnahmeerscheinungen.
In Bezug auf die zweite Figur, Susie, in „Show Real Drama“ von Karan Cytter ist vielleicht noch erwähnenswert, dass in Kinder der Sonne ein gewalttätiger Schlosser, ein Faktotum des Hauses Protassow vorgeführt wird, der die eigene Frau, deren Rolle bei Löffler gestrichen wurde, verprügelt, bis sie schliesslich hinter der Szene stirbt. Auch bei Cytter wird geprügelt und zwar nicht zu knapp. Und nicht von einem stocktrunkenen Schlosser, dem die hilflos dumme Bühnengesellschaft bei Gorki das Prügeln verbieten will, sondern von Fabian. Fabian (Fabian Stumm), ein arbeitsloser Schauspieler nach der Abschlussprüfung ist die zweite Figur neben Susie (Susanne Meyer), Fabians Kollegin und Exfreundin, in dem als „Performance“ angekündigten Abend. Die Autorin, Video-, Theater- und Performancekünstlerin bewegt sich seit Jahren im Graubereich der Genres, lieferte hier aber eine Darbietung, die sich mit zwei professionellen Darstellern, einer definierten Textvorlage, Requisiten und Bühnensituation samt einstudierten Handlungsabläufen weitgehend am Theater orientierte. Dieses konventionelle Setting wurde inszenatorisch geringfügig gebrochen. Einerseits durch gefilmte und auf die Rückwand der kleinen Bühne grossflächig projizierte Spielszenen, die die Vergangenheit des dargestellten Künstlerpärchens präsentierten. Andererseits durch ein imaginäres Quadrat auf dem Bühnenboden, auf das die Bewegungen der Darsteller im Raum reduziert wurden. Susie und Fabian lieferten sich nun in der knappen Aufführungsstunde ein neurotisches Beziehungsspiel, in dem sich private und berufliche Ansprüche, Verweigerungen, Erwartungen und Enttäuschungen die Waage hielten – bis auf die Macho-Klatschereien des Protagonisten. Denn war das belanglose Off-Stage-Stückchen bisher nur langweilig, so wurde es hier richtig ärgerlich. Dass die Protagonistin die Schläge ohne Konsequenzen und kommentarlos hinnimmt, obwohl sie sich als selbstbewusste und durchsetzungsfähige Frau gibt passt nicht zusammen. Oder bekommen wir einfach das Schlüsselloch zu insgeheim verabredeten BDSM-Nummern serviert? Dafür gibt es in der Inszenierung keine Hinweise und so keimt ein anderer, schlimmerer Verdacht: Karen Cytter ist keine Regisseurin. Sie arrangiert Sets, in denen Szenen entstehen, indem sie ihren Schauspielern weitgehend freie Hand lässt. „Gib dich so, wie du bist,“ lautet ihre Zauberformel, die bei professionellen Darstellern den Dilettanten provozieren will. Der körperliche Übergriff des Darstellers Fabian Stumm wird damit weder schlimmer, noch ist er entschuldigt. Er liefert ein billiges Mittel die fade Artistenbeziehungskiste dramatisch aufzupeppen, um den Preis allerdings, dass ein schlimmes machistisches Stereotyp reproduziert wird. Er zeigt eine abwesende beziehungsweise faule Regie, die sich mit der Übernahme der gefilmten Prügelszene in den Abend einer Komplizenschaft schuldig macht, die Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung affirmiert.
Susie versus Senta: Zeigte sich der gehypte Performance-Theater-Abend als Reaktionär, entpuppte sich Wagners „Der fliegende Holländer“ am Opernhaus als das Gegenteil davon und alles andere als bloße Schönkunst. Und das, obwohl ihm das vorgestrige Frauenbild mit Sigel ins Libretto gastempelt ist, ein Erlösungsdrama mit Frauen-Opfer im dritten Akt par Excellence: Senta fühlt sich dem großen Unbekannten, dem sagenumwobenen Holländer, hingezogen. Als dieser mit großem Krach die Bühne betritt, lässt sie alles stehen und liegen und verspricht ihm Treue bis in den Tod. Was der Holländer gerne haben kann, denn dies würde ihn endlich davon befreien, ständig über die Ozeane zu Irrlichten. Der dramatische Höhepunkt ist erreicht, als ein Jägersmann, mit dem Senta bereits verlobt war, auftaucht und ihr nur übrig lässt, mit einem Sprung über die Klippe, in Zürich ein suizidaler Schuss aus der Waidmannsflinte, ihre Wahl für den weitgereisten Fremden zu bekräftigen. Mit Wagners Ahasver der Weltmeere gab der neue Intendant des Zürcher Opernhauses Andreas Homoki seinen Einstand als Regisseur. Das ließ programmatisches Erwarten: Wenn schon kulinarisches Musiktheater, dann auf hohem Niveau, der Holländer als Künstler- und Beziehungsparabel, intelligent und über weite Strecken auf der Höhe der Zeit.
Die Schweiz liegt bekanntlich nicht am Meer. Weniger bekannt ist, dass 6 Schweizer Reedereien eine Handelsflotte von knapp vierzig Schiffen unterhält, mit denen sie im Mittelfeld der weltweiten Seehandelsnationen steht. Aus dieser Perspektive war es naheliegend, die Handlung vom Schiffsdeck in das Einheitsbühnenbild eines Handelskontors des Fin de siècle zu rücken. Aus Matrosen wurden Prokuristen, aus den fleißigen Spinnmaiden emsige Tipsen, dem Holländer und seiner Geisterbrut die Inkarnation ihrer eskapistischen Phantasien. Wagners Wiedergänger figuriert in Zürich als getriebener Versucher, als der Grenzgänger, der schlechthin Andere. Der Zürcher Holländer weist so über das Künstler-Alter-Ego hinaus auf dasjenige Moment, das jede Konvention und Konformität sprengt und gesellschaftlich nicht zu integrieren ist. Die Verschiebung des historischen und inszenatorischen Kontextes, Wagners Zeit, Landrattenphantasie, sind dann auch der ausreichend entrückt-neutrale Hintergrund, um die romantische Psychomechanik der Protagonisten bar jeder psychologischer Motivation als stimmig zu erleben. Wäre Sentas begeistertes, „Ich sei´s, die dich durch ihre Treu` erlöse!“ sonst erträglich und mehr als die Begeisterung einer Vierzehnjährigen für Justin Bieber? Was sehen und hören wir dann? Eine Figur, die bedingungslos auf ihrem Eigensinn beharrt, gegen jede Konvention auch noch den Potlatch des Vaters, der die Tochter gegen die Reichtümer des Fremden tauscht, unterläuft.
Das alles ergab einen herausragenden Abend und er hätte ein großer werden können, wenn Homoki nicht nur herausragende Sänger, Bryn Terfel als Titelhelden und Anja Kampe als Senta sondern herausragende Sängerdarsteller hätte aufbieten können. Ihnen fehlte die gesangliche Feinabstimmung. Obwohl sie die Partien zuvor schon gemeinsam bestritten hatten, rächte sich die Probenabsenz des stämmigen Briten, der gut daran getan hätte, mehr auf seine Partnerin zu hören. Und nun fehlte Anja Kampe offensichtlich der Mut dem wuchtigen Bariton nicht bedingungslos nachzulegen. Wo man sich eigentlich hätte auf Augenhöhe begegnen können, reproduzierte sich auf der künstlerischen Ebene dann leider das Klischee des dominanten männlichen Bühnenstars.
Den Star – man kann etwas weniger gewählt auch sagen, die Rampensau – gab es auch bei Laura Koerfers Miss Sara Sampson, das erste bürgerliche Trauerspiel des sechsundzwanzigjährigen Lessing im Theater am Neumarkt. Hier ist es Jakob Leo Stark, ein junger Brachialmime im Format eines Bernhard Schütz, als Melfont mit nackter Brust und Puderperücke, der mit seiner geliebten Sara (Franziska Wulf) in einem Gasthof festsitzt, als hätte er sämtliche Passwörter seiner sozialen Netzwerke verlegt. Woher, wohin, was wollt ihr, was will die Welt von mir? All das sind Fragen, die der junge Autor zu Beginn seiner Laufbahn und in der Stunde, als sich das Bürgertum anschickt, als politisches Subjekt die Weltbühne zu betreten, stellt. Der Regisseurin fallen dazu einige kluge Dinge ein, zum Beispiel die Diener mit ihren Rüpelszenen in den Vordergrund zu stellen, als sei`s eine Existenzialistenbühne à la Beckett, oder Sir William, den Vater der Sara, gleich ganz zu streichen. Allerdings wird einem auch hier nicht klar, warum das gezeigt wird. Auch wenn einige gute Einfälle und ein zeitgeistiges Stagedesign à la Berliner Pappelbaum-Schaubühne zu einem kurzweiligen Abend beitragen, bleiben die Triebschicksale der Dreierkonstellation Sara, Mellfont, Marwood, Mellfonts Exgeliebte zu sehr unter den Damast-Röcken verborgen. Über das stückverordnete Frauenschicksal hinaus haben die Damen leider nichts zu sagen.
So gebührte der eigensinnigen Darstellerin der Lisa Julia Kreusch die Palme, der eigenwilligen Inszenierung des Holländer-Senta eine ehrenhalber.