Amar Kanwar – Evidence

Eine der eindrücklichsten Ausstellungen des vergangenen Jahres gelang dem Fotomuseum Winterthur mit „Evidence“, einer Retrospektive des indischen Dokumentarfilmers und Künstlers Amar Kanwar. Eine Nachlese.

Heinrich von Kleist veröffentlicht am 8. Oktober 1810 in den Berliner Abendblättern die Parabel „Der Griffel Gottes“. Man kann sie ohne Umschweife als Theorie der Fotografie lesen: „In Polen war eine Gräfin von P…, eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution erteilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen, Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet! Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen.“

Selbstredend lässt sich diese kurze Erzählung – im Aufbau ein dreiteiliges barockes Emblem mit Inscriptio, Pictura, Subscriptio – als das Begehren einer interventionistischen Schrift und wirkungsmächtigen Literatur lesen. Doch besieht man den Text näher, zeigt sich, dass das Urteil, sie sei gerichtet, keineswegs das letzte Wort behält. Die beschriebenen Vorgänge sind alles andere als eindeutig. Schriftgelehrte müssen, wie in der Subscriptio vermerkt, den Vorfall erklären, Zeugen beglaubigen. Der Status der Autorschaft und ihrem Medium verschiebt sich notgedrungen: Das Schreibwerkzeug aus der Inscriptio zeigt sich in der Pictura als Blitz. Die himmlische Lichterscheinung, im altgriechischen Genitiv φωτός (photos) zerstört nicht nur, sondern hinterlässt eine sinnvolle Buchstabenfolge. Das heißt sie ritzt, zeichnet, schreibt, griechisch γράφειν (graphein). Sie ist  Photo-Grafie, Licht-Bild, Licht-Schrift, die sich jeder hermeneutischen Feststellung entzieht, indem sie die sichtbare Welt transzendiert und in ihrer Wahrheit blitzartig aufscheinen lässt, jedoch interpretationsbedürftig wird, sobald sie in die diskursive Weltordnung eintritt. Kleist formuliert damit gut zwanzig Jahre vor ihrer Erfindung die Problematik eines bis heute virulenten Theorems der Fotografie, das im Wesentlichen in der Behauptung liegt, die Fotografie und erst recht das bewegte Bild könne über die Oberfläche der Dinge und Sachverhalte zum Wesen der Dinge und Sachverhalte stoßen.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist kaum ein Künstler in Erscheinung getreten, der das Spannungsfeld zwischen dem bewegten Bild als Medium der Wahrheit und die Dialektik ihrer Restriktionen so nachhaltig und formal überzeugend ausgelotet hat, wie der Inder Amar Kanwar. Obwohl einer der wenigen Künstler, die seit 2002 auf allen drei Documenta-Ausstellungen vertreten waren, wurde ihm erst jetzt eine umfangreiche Überblicksausstellung zuteil, in einer Institution zumal, die bisher nur sporadisch Videofilme gezeigt hatte, dem Fotomuseum Winterthur. Mit der Retrospektive unter dem Titel „Evidence“ würdige man nicht nur einen großartigen Künstler, Filmemacher und Dokumentaristen, erklärt der scheidende Direktor Urs Stahel, sondern erinnere auch an den Gründungsgedanken des Fotomuseums, mit dem man die Fotografie als Medium der Reflexion und der gesellschaftlichen Veränderung verstehe.

Man hätte dazu keine bessere Wahl treffen können, auch wenn man das Museum mit sieben Arbeiten Kanwars, von kurzen Videoessays bis zu hochkomplexen Mehrkanalinstallationen, an die Kapazitätsgrenzen und seine Besucher an die ihres Auffassungsvermögens brachte. Nur drei der gezeigten Videofilme dauern weniger als zwanzig Minuten „To Remember“ (2003) acht, „Henningsvaer“ (2006) fünfzehn, „A Love Story“ (2010) fünfeinhalb Minuten. Die vier weiteren Arbeiten, unter anderem „The Thorn First Pages“ (2004-2008) und „The Lightning Testimonies“ (2007), beanspruchen mit über einer Stunde Videomaterial viel Zeit. Dazu glichen die engen Ausstellungsräume Katakomben, ein Eindruck, der die meist schwermütigen Filme in ihrer Melancholie noch verstärkte, ähneln doch einige, wie die Kuratorin Sandhini Poddar in einem Katalogbeitrag vermerkt, Epitaphen, die an den gewaltsamen Tod von Protagonisten der indischen Geschichte erinnern wie der Videoessay „To Remember“ (2003). Mit einem Gang durch die Gedenkstätte Mahatma Gandhis  verbindet Kanwar die Frage nach offizieller Erinnerungskultur mit den verdrängten Ereignissen des Gujarat-Massakers aus dem Jahr 2002.

Amar Kanwar wurde 1964 in Neu-Delhi als jüngerer von zwei Brüdern in eine indische Mittelklassefamilie geboren. Der Vater, Offizier der indischen Marine, floh wie die Mutter 1947 mit der indischen Teilung aus dem Punjab. Kanwar studierte zunächst Geschichte. Er wurde durch die Greul im Anschluss an die Ermordung Indira Gandhis 1984 und nach der Giftgaskatastrophe in Bhopal im gleichen Jahr zum Aktivisten und schrieb sich zu einem Filmstudium in Delhi ein. Bevor Kanwar 2002 mit „A Season Outside“ auf der Documenta 10 zum ersten Mal im Kunstbetrieb auftrat, hatte er bereits gut ein Duzend dokumentarische Arbeiten produziert. Seitdem sind seine Filme vielschichtiger geworden. Sein auktoriales Erzähler-Ich wich einer Polyphonie der Bilder und Stimmen, die den Betrachter auffordern, selbstständig Narrative zu entwickeln und Stellung zu beziehen. In „The Lightning Testimonies“ (2007) etwa, einer gut dreißigminütigen Acht-Kanal-Video-Projektion: Die Bilder und Texte, erzählen ohne reißerisches Getue und falsche Anteilnahme von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen während militärischer Auseinandersetzungen an den Rändern des indischen Subkontinents. Die Untaten wurden abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit verübt, von offiziellen Stellen gedeckt. Die Videoinstallation erzählt aber vor allem vom Kampf der betroffenen Frauen gegen ihre Sprach- und Rechtlosigkeit. Amar Kanwar beschreibt daher seine Utopie der künstlerischen Intervention 2008: “Imagine the formal presentation of poetry as evidence in a future war crimes tribunal.“ Der Griffel Gottes ist dann in seiner Hand.

Katalog: Amar Kanwar. Evidence, Fotomuseum Winterthur, 8.9.-18.11.2012, Hrsg. Urs Stahel, Daniela Janser, Göttingen 2012. 399 Seiten, ca. 220 Abb.

Der Text erschien zuerst in Kunstforum International Band 219

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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