Fällt der Gegenwart nichts mehr ein, sucht sie in der Vergangenheit. Aby Warburg ist in den letzten Jahren für die zeitgenössische Kunstproduktion anschlussfähig geworden. Desgleichen feierte gerade bis 20.5.2013das Pariser Palais de Tokyo Raymond Roussel wiederholt als Zeitgenossen in „Nouvelles impressions“.
Die Liste unangepasster Randfiguren, die sich der Kunstbetrieb in schöner Regelmäßigkeit anschlussfähig macht, darf mit dieser Ausstellung um einen 1929 in Luzern geborenen und 1989 in Zürich verstorbenen Fotografen, Publizisten, Künstler und Lehrer ergänzt werden: Serge Stauffer – Kunst als Forschung präsentiert einen unangepassten Grenzgänger zwischen Lehre, Theorie und Praxis. Serge Stauffer war keine bloß lokale Zürcher Größe. Sein Name ist zumindest denjenigen ein Begriff, die sich im deutschsprachigen Raum mit Marcel Duchamp auseinandergesetzt haben. Schon bevor er 1960 für die von Max Bill ausgerichtete Ausstellung Dokumentation über Marcel Duchamp im Kunstgewerbemuseum Zürich Texte Duchamps auswählte und übersetzte, hielt er engen Kontakt mit ihm und gab als einer der Ersten dessen Notizen und Dokumente heraus. Sein 1981 mit Theo Ruff herausgegebenes Buch Marcel Duchamp. Die Schriften gehört in der Aufbereitung des Materials und dem Layout bis heute zum Schönsten, was zwischen zwei Buchdeckeln publiziert wurde.
So ist verständlich, dass sich das Institut für Gegenwartskunst der ZHdK (Zürcher Hochschule der Künste) seit geraumer Zeit bemüht, den Nachlass des 1970 von ihrer Vorgängerinstitution KGSZ (Kunstgewerbeschule Zürich) relegierten Dozenten zu sichten und zugänglich zu machen. Die umfangreiche Ausstellung, die von Zeichnungen über Bücher bis zu Installationen alles Mögliche versammelt, durchweht auf den ersten Blick trotz ihrer museal-chronologischen Präsentation ein erfreulich frischer Wind. Das erste Kabinett breitet die Anfänge Stauffers als junger Fotograf und Theoretiker aus – der Titel einer surrealistischen Tuschzeichnung des 21-Jährigen, il arrivera toujours trop tard, also „Er wird immer zu spät kommen“ (1950), gibt den Ton der Nachkriegsjahre vor – und dokumentiert die Freundschaften zu Duchamp, sowie dem zwei Jahre jüngeren Literaten und Zeichner André Thompkins in Briefen, Skizzen und Grafiken. Im anschließenden Saal darf der Besucher dann selbst Hand anlegen: 216 Sitzwürfel nach dem von Stauffer entwickelten Kombinationsspiel, jardin public (Öffentlicher Garten, 1960), laden zum Mitmachen ein. Arbeiten von Stauffer, überwiegend Autographe, Fotoarbeiten und Collagen, werden in der Ausstellung zumeist neben anderen präsentiert, denen seiner Frau Doris beispielsweise, deren das patriarchale panoptikum (1975) in acht Holzkästen mit Gucklöchern Einblicke in verstörende Miniaturwelten bietet; von Weggefährten wie Roman Signer, von dem hier sein Querschnitt durch einen Sandkegel (1973) gezeigt wird, dem Filmemacher Georg Radanowicz oder Stauffer-Schülern wie Ruedi Bechtler, der mit seiner Holzstehle Sensitizer (1975) vertreten ist. So beeindruckend die Fülle des ausgebreiteten Materials hier ist, so bedauerlich ist es jedoch, dass auf eine begleitende Kontextualisierung der oft auf Partizipation fußenden Arbeit Stauffers in diesem künstlerischen Umfeld weitestgehend verzichtet wird.
1970 erreicht der Geist der 68er-Revolte auch Zürich und seine Kunstgewerbeschule. Man zwingt den Dozenten Stauffer und seine Mitstreiter wie Hansjörg Mattmüller, aufgrund ihrer unkonventionellen Lehrmethoden auszutreten, worauf sie 1971 die bis heute in Zürich bestehende F+F Schule für experimentelle Gestaltung als Gegenentwurf zu konformistischen Ausbildungseinrichtungen etablierten: Fluxusstrategien und multimediales Gestalten gehörten ebenso ins Curriculum wie Kurse zur Frauenbewegung und Männeremanzipation. Doch die im Helmhaus gezeigten Dokumente, Objekte, Fotos, Dias und Filme, die diese Jahre dokumentieren sollen, wirken in der Präsentation, die sich mit Rohholzstellwänden oder rahmenloser, dichter Hängung dem damaligen Zeitgeist anzupassen versucht, vorgestrig und entrückt. Jüngere Arbeiten von Schülern Stauffers und Studenten der F+F, die zum Teil für die Ausstellung entstanden sind, lassen in ihrer Belanglosigkeit diese Kluft nur noch schmerzlicher spüren. Die Frage nach dem Wert von Kunst, wie in dem F+F-Projekt Fair Value (2010), produziert auch im zur Schau gestellten Gegensatz von geschwätzigen Kunsthistorikerinnen im Video und einsilbigen Balkendiagrammen an der Wand nicht unbedingt künstlerischen Mehrwert. Wen wundert das, wo die Kuratoren der Ausstellung nicht nur die bei Stauffer ausgeprägte Hingabe an die Sache und Akkuratesse vermissen lassen – kaum eine Werkangabe ist vollständig, viele fehlerhaft –, sondern mit der allzu strikt ins museale Raster gepressten „Aufbereitung“ zugleich auch dessen kreativen Geist austreiben? Im Zeitalter des institutionalisierten „Artistic Research“ wird hier Stauffers einst als Kampfbegriff verstandene Reformulierung „Kunst als Forschung“ zur hohlen Phrase der Bologna-Reform.
Zuerst in leicht überarbeiteter Form veröffentlicht in Zuerst veröffentlicht in frieze.de Ausgabe 10, Juni–August 2013