Berlin ist zu groß – Paralipomenon VIII

Berlin ist zu groß – und Paris, London, New York? Sicher, diese Agglomerationen übertreffen die Spreestadt nach bebauter Fläche und Einwohnerzahl bei weitem. Doch in einem wesentlichen Moment sticht Berlin hervor: Es scheint, als müsse sich die Stadt permanent selbst erfinden: Als Residenzen 1704 und 1813, als Reichshauptstadt 1871 und 1918, als megalomanes Germania ab 1938, kriegszerstört und geteilt ab 1949 und 1989 nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten.  Und heute? Der Druck auf Entscheidungsträger und Akteure ist wie zu den vorangegangenen Epochenschwellen  immens. Überforderung allerorten.  Und so bleibt offensichtlich nur die Flucht in ganz Große. In der Folge: Großmannssucht und Chichi. Wie sonst lässt sich erklären, dass trotz der beachtlichen Bauvolumen der letzten zwanzig Jahre neben schlechtem Renditemodernismus kaum eine Handvoll qualitätsvoller Bauten entstanden ist?

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Berlin ist zu groß, als dass die Prophezeiungen, dieser oder jener Kitz, dieser oder jener Bezirk befinde sich auf dem Weg zum In-Quartier, hätten in Erfüllung gehen können. Der Wedding steht schon seit den 1980er-Jahren auf dieser Liste und wird wohl noch weitere Dekaden warten müssen, in den Rang eines Hipster-Viertels aufzusteigen. Charlottenburg-West wurde immer nur von den Leuten, die dort seit Jahrzehnten wohnen, für hip gehalten, und Tempelhof gilt seit Jahren als heimlicher Kandidat, obwohl sein stillgelegtes Flugfeld wie eine Wüste Sahara zwischen der dortigen Dorfkirche und Innenstadt liegt. Prognosen gestalten sich schwer. Die Berliner Psychogeographie organisiert sich vor allem nach den ökonomischen Resourcen aufeinander folgender Generationen. Die 1940er- und 1950er-Jahrgänge etablierten sich in den 1970er-Jahren in Schöneberg und dem Bergmannkitz. Die 1950er- und 1960er-Generation war in den 1980ern vor allem in SO-36 unterwegs. Die 1960er-, und 1970er-Kohorten dann in den 1990er-Jahren in Mitte und Prenzlauer Berg, die 1970er- und 1980er schließlich in Friedrichshain, während sich die Nachfolgenden heute im Nordwestlichen Neukölln das Hipster-Feeling besorgen. Es kann sein, dass danach auch der Wedding und Tempelhof wieder nicht in den Rang von In-Quartieren aufsteigen, da sich die 2000er-Kohorte dann lieber in London, Barcelona oder Beirut vergnügt.

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Berlin ist zu groß, als dass sich Bescheidenheit zur Kardinaltugend hätte auswachsen können. Eines der skurrilen Beispiele kann in der Charlottenburger Kant-, Ecke Kaiser-Friedrichstraße bewundert werden: Neben einem „Prima Markt“ für Russische Spezialitäten und dem „bistro back“ findet sich der Friseursalon Kamid Nosratis. Er weiß die Werbetrommel zu rühren: die Auslagen, darunter zahlreiche Fotos des Meisters mit schönen Mädchen, schnellen Autos und dem Regierenden Bürgermeister sprechen für sich. Dass er sich dann über der Türe auch noch als „Star Friseur“ bezeichnet, bringt die Sache auf den Punkt.

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Berlin ist zu groß, als dass es geordnet oder gar regiert werden könnte. So bleibt der herrschenden Funktionselite bloß, an markanten Punkten des Stadtkörpers billige Zeichen zu setzen, an denen es wie bei schlecht verheilten Narben, schon nach wenigen Jahren zu eitern beginnt, wie an der Friedrichstrasse, dem Alex oder  dem Bebelpatz. Eine neuerliche Ungeheuerlichkeit, wider jede historische Billigkeit und ästhetische Bildung begegnet dem aufmerksamen Stadtspaziergänger hinter der monströsen Baustelle des Humboldt-Forums am ehemaligen Marstall des zerstörten Berliner Schlosses: die Lange Brücke, die älteste und geschichtsträchtigste Brücke der Stadt. Als ob sie ein Riese kurz mal abgestellt, da hingeklotzt hätte, steht heute eine neue Brücke aus schwarzem Granit. Vier mächtige Pylonen, schick ein paar Meter hoch rahmen den Eingang, von klotzigen Leuchtkästen bekrönt. Das alte Ding aus DDR-Zeiten, schlicht und scheußlich hat also ausgedient. Der Nachfolger trumpft dafür auf und sprengt bar jeder Proportion jede Masstäblichkeit und pfeift auf die neobarocke  Fassade des historischen Nachbargebäudes, als wolle es die zu erwartende Monstrosität des neu zu erbauenden Humboldt-Hohenzollernschloss-Forums gleich antizipieren.

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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