Ein seltenes Glück. Einmal über den Rhein hinweg treffen sich zwei Maler, zwei Ausnahmekünstler, somnambule Protosurrealisten vom Rand der großen Szenen und Erzählungen in zwei getrennten Ausstellungen: im Kunstmuseum James Ensor und in der Fondation Beyeler Odilon Redon.
Drei Bilder der beiden, Redon 1840 und Ensor 1860 geboren, gut eine Generation voneinander getrennt, Franzose der erste, Belgier der zweite, lassen mich nicht mehr los. Es sind Zeichnungen, die sich mit dem Tod auseinandersetzen, einen Abschied, ein sich abarbeiten am Unwiderruflichen.
Mit zweiundfünfzig Jahren stirbt Ensors Vater 1887. Der Siebenundzwanzigjährige portraitiert ihn auf dem Totenbett, schnell, routiniert, wie er es auf der Akademie gelernt hat. Von einer Zeichnung Menzels unterschiedet sie sich nicht. Der Graphitstift geht rasch und energisch über das Papier, bewahrt den toten Vater im Halbprofil vor Verwesung und Vergessen. Die markante Nase des Alten hebt sich über den Bart in die kräftige, ja aggressive Schraffur des dunklen Hintergrundes. Nur der Haarschopf am Hinterkopf wird noch dunkler schraffiert und steht in einem schroffen Kontrast zum Weis des Kissens und des Totenhemdes, unter dem sich kein Körper mehr verrät, der diesen massigen Schädel tragen könnte. Schrundig faltet sich dort die Augenpartie und es ist nicht ausgemacht, ob sich hier der Schmerz des Sterbenden, oder der Schmerz des Sohnes über den Tod des Vaters niederschlägt. Der Künstler signiert das Blatt auf dem Kissen neben der linken Schulter des Verstorbenen „Ensor“.
***
Drei Jahre später entsteht die Zeichnung „Yeux clos“ von Odilon Redon, die im Frankfurter Städel Museum aufbewahrt wird, eine der vielen Variationen, die Redon zu diesem Motiv geschaffen hat: Über einer Berglandschaft und von dieser scharf getrennt erhebt sich monumental ein androgyner Frauenkopf. Während die angeschnittenen Schultern, der Oberkörper vom Betrachter weggedreht sind, neigt sich der Kopf en face dem Betrachter zu. Augen und Lippen sind geschlossen. Einzig die Schulterlinie und einige Haarsträhnen sind in einem festeren Strich vorgetragen, während das Gesicht und der Hintergrund in leichter, ja zarter Schraffur modelliert sind – zeichnerisches Äquivalent zu der ätherisch-idealen Erscheinung, die schon nicht mehr von dieser Welt zwischen Schlaf und Tod zu schweben scheint.
***
Die Zeichnung der der toten Mutter Ensors entsteht 1915. Sie stirbt mit 80 Jahren. Ensor ist 55. Er sitzt rechts von ihr, nicht links wie beim Vater und er lässt sich Zeit. Das Bild ist nun nicht mehr in schnellen Strichlagen ertrotzt. In feinen durchgehenden Linien zeichnet er Haube und Totenhemd, die Falten des Kissens, die auf der Brust gefalteten dürren Hände mit ihren großen Nägeln. Der Mund ist weit geöffnet, die Nase ragt, wie die des Vaters in das Nichts des Hintergrundes, nur dass er hier schwach schraffiert keine Tiefe besitzt und erst gegen rechts in ihren Schoß hinein Dunkelheit erfährt. Eine Figur, wie nicht mehr „hier“ – bereits in einem „Woanders“, jenem Limbus vielleicht, den sein Landsmann Hieronymus Bosch gemalt hat. Die Haube, die Nase, der geöffnete Mund erinnern daran. Das Kreuz in ihren gefalteten Händen ist daher nicht nur Glaubens- und Heilszeichen, sondern unsicherer Garant dafür, nicht gleich von diesem Abgrund verschlungen zu werden.