Theater lebt und die Theater sind tot. Während sich immer neue Darstellungs- und Ausdrucksformate etablieren, leidet der hergebrachte Theaterbetrieb an Zuschauerschwund und gerät zusehends unter Legitimationsdruck. Ein Ausweg aus der Dauerkrise? Augmented Theatre!
Das Jahr 2012 markiert eine Zäsur: Mit Arbeiten von Jérôme Bel, Tino Sehgal, Jenet Cardiff oder Theaster Gates, Fiona Hall und Pedro Reyes vollzog sich auf der 13. Documenta ein signifikanter Schnitt: Theaternahe, zeitgebundene Formate hatten sich unübersehbar im Kunstbetrieb etabliert.[1]
Diese Produktionen hatten allesamt wenige oder gar keine Verbindung zum bekannten subventionierten oder privatwirtschaftlichen Theaterbetrieb. Diesem fällt bis heute schwer, was der bildenden Kunst in den letzten Jahrzehnten scheinbar mühelos gelang: Die Grenzen ihres Kerngeschäfts zu überschreiten und ein neues Publikum zu generieren.
Während man sich über die Zukunft des Theaters offensichtlich keine Sorgen machen muss,[2] ist die Sorge, wie sich die bestehenden Theaterbetriebe unter dem wachsenden Legitimationsdruck in den nächsten Jahren positionieren werden, berechtigt.[3] Eine Transformationsleistung dieser Institutionen steht an. – Ihre Losung heißt: Augmented Theatre.[4]
In den 1970er-Jahren glaubte die Marokkanische Regierung, dass die Wüstenstadt Marrakech ein repräsentatives Opernhaus bräuchte. 1984 wurde mit dem monumentalen Gebäude aus maurischen und altägyptischen Stilelementen gepaart mit französischer Revolutionsarchitektur begonnen. Als es nach knapp zwanzigjähriger Bauzeit daran ging, auch die Bühnentechnik und den Zuschauerraum fertigzustellen, wurden sämtlichen Tätigkeiten eingestellt: Das Royal Theatre gibt sich heute von außen als beeindruckender Koloss, von innen als traurige Ruine, die seit zwei Jahren durch Live-Acts einer Kunstbiennale bespielt wird.
Marrakech bietet insofern ein sinnfälliges Bild für den Verfall der deutschsprachigen Theaterlandschaft, als es hier wie dort, so unterstellen wir, weder am Geld noch Willen gefehlt hat, ein traditionelles Theater zu unterhalten. Nur, das Theater findet längst woanders statt und in Marrakech schon seit Jahrhunderten auf dem Jamaa el Fna. Nacht für Nacht strömt die Masse auf den „Platz der Gehängten“ um sich zu unterhalten, zu essen und Darbietungen von Schauspielgruppen, Musikern und Gauklern, Schlangenbeschwörern und Wahrsagern beizuwohnen.
Das Theater als die bürgerliche Repräsentationsform hat auch in Mitteleuropa längst ausgedient. Schon vor dem digital turn erwuchsen ihm mit pop-kulturellen Veranstaltungen vom Fussball bis zum Rockkonzert ernsthafte Konkurrenz. Mit der Veränderung des Habitus einer tragenden bürgerlicher Schicht verlor auch das klassische Theater seine Deutungshoheit und Legitimation. Rezeptions- und Partizipationserwartungen haben sich dramtisch verändert: Statt still vor der vierten Wand zu sitzt, heißt das Motto heute: „Get involved, be part of it!“[5]
To be continued
[1] Dieses Phänomen hat freilich einen langen Vorlauf bis in die Anfänge der Avantgarden des 20.Jahrhunderts. Fünf Jahre vor der Documenta 13 zeigte Hans-Ulrich Obrist 2007 „Il Tempo del Postino“, eine Künstlerrevue unter der Gattungsbezeichnung „Oper“ u.a. mit Philippe Parreno, Anri Sala und Dominique Gonzalez-Förster in Manchester, die 2009 zur Art Basel am Schauspielhaus Basel wieder aufgenommen wurde. Im gleichen Jahr setzten eine Vielzahl der Länderpavillons der 53. Venedig Biennale auf performative Formate, der deutsche Pavillon erhielt mit Christoph Schlingensief einen Goldenen Löwen. Zwei Jahre später wird Tino Sehgal mit einem Goldenen Löwen für die bemerkenswerteste künstlerische Arbeit ausgezeichnet.
[2] Siehe dazu auch Dirk Baecker, „Wozu Theater“, Berlin 2013, der das Theater als „Erprobungsraum des Sozialen“ umreißt.
[3] Zum Abgesang auf das deutschsprachige Stadt- und Staatstheatersystem siehe, Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel, Stephan Opitz, Der Kulturinfarkt. Von allem zu viel und überall das Gleiche, München 2012.
[4] Der Begriff eines Augmeted Theatre ist von konkurrierenden Begriffen wie „Expanded Theatre“ und „Postdramatik“ abzugrenzen.
[5] Mit dem Billy-Regal von Ikea vollzeiht sich in den 1970er-Jahren ein analoger Prozess. Statt ein Möbelstück zu kaufen, sich liefern und aufbauen zu lassen, werden diese Dienstleistungen an den Konsumenten abgegeben, der zum Mitproduzenten wird. Schon vorher hatte der Supermarkt die vierte Wand zum Kunden eingerissen.