Von der Wucht des Basler Kunstspeichers zeigt sich auch das Multitalent Paul Chan überfordert.
Kabel, Kabel, Kabel – es werden vor allem die Kabel sein, die einem von der Ausstellung „Paul Chan – Selected Works“ im Basler Schaulager in Erinnerung bleiben. Stromkabel, die aus Buchsen aus der Wand kommen, orange, schwarze, gelbe, weiße. Kabel, die von der Decke hängen, sich über den Boden verteilen, um Türen, Kartons und Stühle kriechen oder in mit Beton ausgegossenen Schuhen enden.
Zwei Stockwerke, das Erd- und das Untergeschoss, des gewaltigen, 2003 eröffneten Lager- und Ausstellungshauses stehen Chan zur Verfügung. Um es der Billigkeit halber vorweg zu sagen, Arbeiten, die sich über die in unterschiedlichen Längen ausgelegten, ausgehängten, in ihrem Verlauf klar nachvollziehbaren Kabel mitteilen, sind nur im Untergeschoss zu sehen. Dort sind sie allerdings in allen Räumen so massiv präsent, dass sie für den Besucher noch ins Geschoss darüber zu wuchern scheinen. Als digitale Zeichnung ornamentieren sie den Einband des Katalogs der Ausstellung. Neben der monumentalen Wand im zum Foyer hin offenen Untergeschosssaal, zugekachelt mit gut 1000 bunten, in Grisaille bemalten Buchdeckeln, die Arbeit „Volumes“ (2012), soll dem Besucher vor allem die Arbeit „The argument: Antietam“ aus Kabeln, Schuhen und Beton ins Auge stechen: Aus dem mehrere Stockwerke hohen Lichthof des Schaulagers reicht ein Stromkabel auf den Eichenboden, wo es sich in Duzende weitere verzweigt. Sie enden, jeweils zwei, in einem am Boden liegenden Damen- oder Herrenschuh, Duzende unregelmäßig im Kreis verteilt, jeder mit Beton ausgegossen. Dort stecken die Stecker. Nichts wackelt, nichts brummt, surrt oder leuchtet. Das ist hübsch anzusehen, erinnert ein wenig an Erinnerungskultur, Jannis Kounellis und die Arte Povera. Der aufmerksame Besucher sah schon außen an der Fassade des Hauses ein Kabel vom Dach des Schaulagers herunterhängen, „The argument: Roanoke“ (2014). Steht es mit dem Kabel von der Decke drinnen in Verbindung? Man darf es annehmen. Doch wohin führen sie gedanklich? Welches Argument, welche Debatte, welche Auseinandersetzung wollen sie, wie es der Titel verspricht, entfachen? Warum werden mit „Antietam“ und „Roanoke“ Toponyme aufgerufen, die selbst in der U.S.-amerikanischen Geschichte Episoden blieben?
Der neugierige Besucher greift zum Katalog. Darin heißt es: „Die Arguments okkupieren die Ausstellung, legen sich über andere Arbeiten und verbinden die Räume miteinander, sodass die Ausstellung selbst zu einem Beziehungsnetz wird und auch die übrigen Werke verbunden und miteinander kurzgeschlossen werden.“ Womit sicherlich gemeint ist, dass eine Vertiefung der ästhetischen Erfahrung des Besuchers hergestellt werden soll. Oder wird sie gerade dadurch verhindert? „Dabei bleibt unklar“, geben die Kuratoren zu bedenken, „wo die „Arguments“ beginnen und wo sie aufhören,“ und führen den Leser in kunstwissenschaftlich abgründige Fragestellungen wie: „Ist die Wand, in die der Stecker eingelassen ist, auch Teil des Werks? Und das Stromnetz, das sich durch die Ausstellung zieht und diese mit Elektrizität versorgt?“
Zumindest für das Werk „The argument: symposiums“ (2014) ist die Sachlage klar: zwei Kabel mit Steckern an jedem Ende führen aus einer Buchse in der Wand eine zweite. Stünde die Anordnung unter Strom, ergäbe sich ein Kurzschluss, der sich gewaschen hätte und wahrscheinlich das gesamte Haus lahm legte. Doch die Explosion bleibt aus. Man darf mit den Kuratoren noch an Platon denken und an die wilde Zeit Paul Chans, als er als politischer Aktivist unterwegs und vom FBI überwacht, nur unter konspirativen Umständen erreichbar war.
In Basel von diesem Potential nicht mehr viel zu spüren. Der Künstler passt sich in den Betrieb. „Paul Chan – Selected Works“ ist die bisher umfangreichste Einzelausstellung des 1973 geborenen Hong-Kong-Chinesen mit dem Nimbus des nonkonformistischen Web-2.0-Universalisten mit Wohnsitz in New York. Im Alter von acht Jahren war Paul Chan mit den Eltern in die U.S.A. ausgewandert und in Omaha, Nebraska aufgewachsen. Er studierte an der School of the Art Institute of Chicago und dem Bard College Kunst, Video und digitale Animation. Erste Einzelausstellungen im Portikus 2006, in der Serpentine Gallery 2007 machten ihn über seinen privaten Kreis hinaus bekannt. Er malt, zeichnet, macht Videos, baut Installationen und Bühnenbilder, schreibt über Adorno, Foucault ebenso wie über die Frühsokratiker und betätigt sich als Verleger.
Im Schaulager-Untergeschoss sind natürlich auch die ihrem Triebschicksal anheimgegebenen, manisch penetrierenden Schattenrissfiguren aus seinem Auftritt auf der 53. Venedig Biennale, die stumme, fast sechs-stündige Dreikanalvideoinstallation, „Sade for Sade`s sake“ (2009) zu sehen. Die hier vollständig präsentierte Arbeit „Volumes“ wurde 2012 auf der Documenta 13 ausschnittsweise in einem Ladenlokal in der Friedrichstraße gezeigt. Auch die Videoarbeiten aus der Zeit vor Venedig und Kassel besitzen gewitzte Qualität: Achtzehn Minuten entführt die mitten in die erste Blackbox im Erdgeschoss gehängte Leinwand mit „Happiness (Finally) After 35.000 Years of Civilization (after Henry Darger and Charles Fourier)“ (2000 – 2003) in eine absurde Welt von Erlösungs- und Höllenbildern. Francisco-Goya und digitale Nintendo-Spiele lassen grüßen. Verstörend schöne, mit dem Fall der Blätter im Herbst ebenso wie mit dem suizidalen Fall spielende Bilder begegnen dem Besucher in den Videoarbeiten aus Chans Serie „The 7 Lights“ (2005-2007). Man verzeiht danach den animierten Drei-Minuten-Kitsch „Untitled (after St. Caravaggio)“ (2003-2006), in dem in einer Videoprojektion die Früchte des berühmten Bastkörbchens in die Höhe fliegen. Aber auch das erscheint gut gemacht. Chapeau! Doch legen sich die Kabelschlingen aus dem Untergeschoss auch hier wie Kraken-Arme um die Arbeiten, damit sie endlich nach Bedeutung schreien. Das hat der Künstler, dergestalt zur Markttauglichkeit getrimmt, nicht verdient.
Der Artikel erschien zuerst in Kunstforum International Band 227, S. 302 f http://www.kunstforum.de