Oft kommt es nicht vor, dass der Abgrund zwischen Glauben und Wissen, dem Sakralen und Profanen so mühelos zu überbrücken ist. Nur drei Treppen verbanden den schrundigen Steinblock in der Krypta der Zürcher Wasserkirche, auf dem, einer Legende nach, im 4. Jahrhundert n. Chr. die Stadtheiligen Felix und Regula hingerichtet wurden, und die blitzblanken Apparaturen, die der Künstler Christian Waldvogel im ersten Stock des Helmhauses aufgebaut hatte.
Waldvogel hat diese Verbindung bei der Einrichtung seiner Ausstellung „unknown. Die Ordnungen der Zufälligkeit“ nicht intendiert. Tatsächlich könnte der Gegensatz zwischen dem religiös-mystischen Konzept der Märtyrerlegende und dem rationalistisch-szientifischen Waldvogels kaum größer sein.
Doch gerade hierin verbarg sich ihr klandestiner Zusammenhang: Der Steinbrocken und die Installationen Waldvogels weisen in ihren Narrativen weit über ihre phänomenale Erscheinung hinaus, auf Vorgänge, die unseren Erfahrungen in der Regel entzogen bleiben.
Der 1971 geborene Zürcher unterwarf die drei ihm zur Verfügung stehenden Räume einer klaren Dramaturgie. Dabei übersah der Besucher leicht die erste Arbeit im Foyer, ein schwarzes Quadrat. Es gab den Takt vor. Sein barocker Titel, „Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik./Le berceau du temps (Die Entstehung der Zeit)“ (2014) zitiert die berühmte Schrift Werner Heisenbergs, in der 1927 zum ersten Mal von der Unschärferelation komplementärer Eigenschaften eines physikalischen Teilchens die Rede ist. Der Künstler setzte sie buchstäblich ins Bild: Das schwarze Quadrat entpuppte sich bei näherem Besehen als Leuchtkasten von gut einem Meter Seitenlänge, in dem sich im Sinne des Ideengebers mal mehr, mal weniger überlagernd Myriaden von Buchstaben – Heisenbergs Originaltext – und die Schlieren der Supernova zu Beginn unseres Universums sichtbar wurden.
Damit war auch eine Zäsur in der Werkentwicklung des Künstlers markiert. Wurden Waldvogels frühe Projekte wie „Globus Cassus“ (2003/2004), „Top of the World“ (2005) „Galileo`s Missing Argument“ (2010) vorwiegend über Text- und Bildarrangements vermittelt, verzichtete er darauf in der Zürcher Ausstellung völlig. Die Environments sollten für sich sprechen. Bilder und Informationen dazu versammelte er in dem schönen Büchlein „unknown. Die Ordnungen der Zufälligkeit“ (Scheidegger & Spiess, 2014).
Schon der erste Raum sorgte für Irritation. War das Atelier oder Alchemistenküche? Auf einem weißen Tisch an der Wand lag eine Batterie bunter, wuchtiger Wachkerzen, die der Künstler eigens für seine „RPPM (Random Planet Production Machine)“ (2013) entwickelt hatte. Diese stand gut zwei Meter hoch mitten im Saal. Eine brennende Kerze im oberen Teil der regalartigen Apparatur sonderte über einen beheizten Trichter Wachs ab, das auf eine rotierende Stange nach unten tropfte. Obwohl beziehungsweise, weil die Rotationen der Stange zufallsgesteuert waren, bildete sich dort mit der Zeit eine Kugel.
Von dort führte der Parcours durch eine Glastür ins Biotech-Labor. Für die Versuchsanordnung „Antecedents“ (2014) hatte Waldvogel nahezu den gesamten Hauptsaal der Galerie unter Wasser gesetzt, während der Besucher über einen vollständig verglasten Korridor das Geschehen beobachten konnte: die langsame Vermehrung von Cyanobakterien, die Waldvogel vor Beginn der Ausstellung von seiner Arbeitskanzel aus in die 4.000 Liter Nährflüssigkeit eingebracht hatte. Mimesis an den Ursprung des Lebens: Ebenso wie Stämme dieser Blaualgen vor 2,5 Milliarden Jahren dafür sorgten, dass sich in der Erdatmosphäre ausreichend Sauerstoff für die Entwicklung höherer Lebewesen anreicherte, zauberten sie einen betörenden smaragdgrünen Teppich in den aseptisch weißen Raum.
Auch er gehorcht Waldvogels Prinzip der aus dem Chaos geborenen Perfektion, dem die Installation „Planetarium“ (2013) im dritten Saal nur mehr allegorisch huldigt. Eine Armillarsphäre aus Aluminiumringen und Stahlreifen, in der die Wachskugeln der „RPPM“ als Planeten eines fiktiven Sonnensystems fungierten, füllte den hohen Raum. Im Rahmen dieser szientifischen Allegorie las sich der Findling in der Krypta als versprengter Abkömmling der waldvogelschen Himmelskörper und nicht nur aus religiöser Perspektive als extraterrestrisches Material.
Der Artikel erschien in redaktionell überarbeiteter Fassung in frieze.de, Ausgabe 15, Juni – August 2014: http://frieze-magazin.de/archiv/kritik/christian-waldvogel/