Am vergangenen Wochenende ging die Ausstellung der mexikanischen Künstlerin Teresa Margolles «La búsqueda/die Suche» im Migros Museum Zürich zu Ende. Die Epitaphe ihrer beklemmenden Installation bleiben in Erinnerung.
In November, on the second floor of a building under construction, some workers found the body of a woman of about thirty, five feet tall, dark-skinned, bleached blond, two gold crowns on her teeth, dressed in only a hot pants or shorts. She had been raped and strangled. No identification was found on the body. (…).” Die kurze Passage findet sich im 4. Kapitel Roberto Bolanos Roman 2666. 100 Seiten davor und 200 weitere danach protokolliert der chilenische Autor Frauenmorde in einer südamerikanischen Grenzstadt zu den U.S.A. und erzählt von den halbherzigen Aufklärungsversuchen. Bolanos fiktives Santa Teresa entspricht dem mexikanischen Ciudad Juárez. Nachdem 1994 ein Freihandelsabkommen zwischen den U.S.A. und Mexiko Steuervorteile und Billiglöhne saftige Profite versprachen, wurde dort im großen Stil in Montagebetriebe investiert, die ein Heer von meist schlecht ausgebildeten Zuwanderern anlockten. Die Stadt wuchs in kurzer Zeit zu einer 1,5-Millionen-Agglomeration, ohne dass die dadurch entstehenden sozio-ökonomischen Probleme gelöst wurden. Durch den Drogenkrieg liegt heute die Mordrate mit sieben Gewaltopfern täglich an der Landesspitze. 1993 beginnt dazu eine Serie bestialischer Morde an jungen Frauen. Bis 2005 fallen ihr mindesten 370 zum Opfer – über 400 gelten als vermisst. Bis heute hat sich die hohe Gewaltrate an Frauen ebenso wenig verändert wie die nachlässige und korrupte Aufklärung der Fälle.
Nun führt die mexikanische Künstlerin Teresa Margolles die Besucher des Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich mit ihrer Installation La búsqueda (2014), Spanisch für „Suche“, „Fahndung“, an diesen Ort der Gewalt. Es geht vom neuen Foyer durch den Saal für Wechselausstellungen die schmale Treppe hinauf in den ersten Stock. Dort wird der Besucher durch eine Wand vor dem direkten Zugang in den dahinter liegenden Saal gehindert und muss sich für seinen Weg nach links oder rechts entscheiden. Schon hier empfängt ihn ein dumpf wummerndes Geräusch, das beim Eintritt in den großen abgedunkelten Ausstellungssaal bedrohliche Ausmaße annimmt. Es übersetzt technisch überarbeitet Margolles` Tonaufnahmen der heute noch betriebenen Schmalspurbahn, die Ciudad Juárez durchquert und mit der Schwesterstadt El Paso in Texas verbindet. Mit vier Brücken über den Rio Bravo für den Automobilverkehr sichert sie die Verbindung zwischen den mexikanischen Industriebetrieben und den nordamerikanischen Abnehmern. Auch wenn dem Ausstellungsbesucher diese Informationen fehlen, sieht er sich schon durch diese akustische Setzung immersiv auf einen spezifischen Ort verpflichtet, einbezogen, angezogen, oder aber auch abgestoßen.
Teresa Margolles wie Roberto Bolano war es nie darum zu tun, Skandal zu machen. Zynismus ist ihren Arbeiten fern. Sie überlassen es ihren Lesern die Lektüre abzubrechen, oder fortzuführen ihren Betrachtern die Ausstellung zu verlassen, oder sich darin zu vertiefen. In jedem Fall sind Leser und Betrachter auf sich selbst zurückgeworfen. Sie müssen fragen, wie weit sie gerade in der Lage und willens sind, Grenzsituationen, Erschütterungen der Existenz und Fragen an die Zivilgesellschaft anzunehmen. Das heißt bei Margolles, starker Tobak. Die Künstlerin, die vor Jahrzehnten ihren Lebensunterhalt in einem Gerichtsmedizinischen Institut in Mexiko Stadt verdiente, hängte bei der 53. Venedig Biennale 2009 eine Menschen-Blut getränkte Fahne vom Balkon des Mexikanischen Pavillons, ließ die Böden des Palazzo mit Leichenwaschwasser wienern (?De qué otra cosa podríamos hablar? (Worüber könnten wir sonst noch reden?), 2009), goss einen totgeborenen Fötus in Beton (Entierro (Begräbnis), 1999) und bot ihren Besuchern Sitzgelegenheiten aus Beton, die Substanz gewaltsam zu Tode Gekommener enthalten. Auch in Zürich ist ein Tisch mit Bänken als Ankauf des Migros Museum auf der Terrasse des Hauses zu sehen (Mesa y dos bancos (Tisch und zwei Bänke), 2013). „Hergestellt aus einer Mischung aus Zement und vom Boden aufgehobenem Material, auf dem der Körper einer an der nordmexikanischen Grenze ermordeten Person lag,“ steht spanisch auf der Wange des Tisches geschrieben.
Es macht keinen Sinn, zu fragen, ob das verarbeitete Material wirklich menschliche Überreste birgt. Dem konzeptuellen Ansatz Margolles` geht es vielmehr darum, dass der Betrachter die Erzählung annimmt und zu seiner Geschichte, wenn nicht zu seiner Sache macht. Auch hier ist er auf sich zurückverwiesen. La búsqueda im ersten Stock kommt ohne die indexikalische Referenz an Menschenkörper aus, wie man es aus früheren Arbeiten kennt. Mag sein, dass sie darum die ratternde Eisenbahn-Atmo, die den abgedunkelten Raum erfüllt, gewählt hat: Sie stellt das Werk emphatisch zur Disposition, fragt, ob sich der Besucher auf das memoriale Display einlässt, oder nicht. Es dauert lange, bis sich der Betrachter an das Geräusch, das Halbdunkel, aus dem sich acht hohe Stelen inmitten des Raums abzeichnen, gewöhnt hat. Die Stelen, eine breite (ca. 2m), eine schmale (ca. 1.20) im Wechsel, bestehen aus massiven Stahlrahmen mit einer gleichmäßigen Höhe von ca. 2,5m, in denen offensichtlich gebrauchte, verdreckte, von Graffito gezeichnete und mit DinA-4-Blättern beklebte Glasplatten eingefügt sind. Die teilweise stark verwitterten Zettel sind Suchanzeigen von Angehörigen und Hilfsorganisationen, die nach vermissten Frauen in Ciudad Juárez suchen – stumme Schreie der Verzweiflung: „!AYÚDANOS! (Hilf uns!)“ steht da auf einem. Darunter ein Bild und knappe Angaben zu einer Vermissten: Perla Ivonne Aguirre González, 15 Jahre, Größe, Statur, Wohnort, der Tag ihres Verschwindens. Viel mehr erfahren wir auch von den Hunderten anderen Mädchen nicht. Die ausgestellten Glasscheiben demontierte Margolles im Erdgeschoss eines Ladengeschäfts im Zentrum der Stadt. Sie arbeitet also auch hier mit indexikalischen Zeichen, nur dass das authentische Material, die beklebte Fensterscheibe, repräsentativ für das unsagbare Leid hinter den Bildern steht.
Ebenso wie Bolanos Protokolle auch als Nekrologe auf die Ofer zu lesen sind, können Margolles` Stelen als deren Epitaphe gedeutet werden. Welchen Text und welche Handlungsanweisung der Betrachter sich daraus entwirft, bleibt offen. Doch jeder auch noch so subkutanen Form der Gewalt wird er nicht mehr gleichgültig gegenüberstehen.
Der Text wurde zuerst veröffentlicht in Kunstforum International Band 228, 2014 http://www.kunstforum.de