Im Auftrag von DADA, auf dem Weg zum Situationismus – Pariser Künstlerfreunde machen sich in den 1950er-Jahren daran, in abgerissenen Plakaten ein neues Medium zu erproben – eine Basler Ausstellung zeigt die „Affichisten“
Das Statement des Surrealisten, Trotzkisten, Schriftstellers und Kriminalautors Léo Malet hätte eine gute Steilvorlage abgegeben. Mit Arbeiten von Braque, Picasso, Höch, Hausmann oder Schwitters im Rücken formuliert er 1930: „Die Collage der Zukunft wird ohne Schere, Messer oder Leim ausgeführt. (…) Sie verlässt den Arbeitstisch des Künstlers und die Oberflächen des Kartonpapiers und nimmt die Mauern der Großstadt in Beschlag, das unbegrenzte Feld poetischer Taten.“
Dazu kam es nicht mehr. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg unterbrachen das détournement der Avantgarden, das der Großstadt eine künstlerische Praxis hätte abgewinnen können. Malets Prognose bewahrheitet sich erst knapp 20 Jahre später. 1949 schaffen die jungen Bretonen in Paris, beide Jahrgang 1926, Raymond Hains und Jacques de la Villeglé gemeinsam die friesartige Collage „Ach Alma Manetro, février 1949“, gut 60 cm hoch, 260 cm lang. Noch ist sie aus Abrissen von Reklamen, Anzeigen, Annoncen, französisch, „Affiches“, auf Karton zusammengeklebt. Links von Villeglé, rechts von Hains. Ein Gewitter aus schwarzen und roten Wort- und Buchstabenfetzen, mal wild, in sich überlagernden Schichten verdichtet, mal ruhig in der Horizontalen gelagert, auf angegilbtem Papier und roten Balken. Nichts Figuratives zeigt sich da, – lediglich die fragmentierten Botschaften der Straße, mimetisch nur insofern, als die künstlerische Ordnung die Arbitrarität der Wirklichkeit neu arrangiert und in den Kontext Kunst überführt.
„Ach Alma Manetro“ markiert einen ersten, entschlossenen Schritt aus dem Stupor der Nachkriegsjahre, ein erstes selbstbewusstes Dokument einer unbekümmerten Appropriation und Übersetzung der gauloisen Metropolenrealität. Nun steht es programmatisch am Eingang der Ausstellung „Poesie der Großstadt. Die Affichisten“ im Basler Museum Tinguely. Im Verein mit dem Frankfurter Schirn ist Basel eine beindruckend schöne Ausstellung und ein lesenswerter Katalog gelungen. Sie rücken mit den „Affichisten“ – wie es wohl ohne Ironie nur im deutschen und angelsächsischen Raum heißen kann – eine hierzulande lediglich im Windschatten der stärkeren Strömung des „Nouveau réalisme“ beachtete künstlerische Praxis in den Vordergrund, die dem Erscheinungsbild der Großstadt durch unmanipulierte Plakatabrisse, „Décollagen“ – lediglich das gefundene Objekt und sein Ausschnitt wird vom Künstler festgelegt – einen unmittelbaren und unwiderstehlichen Reiz abringt. Dazu baut das Museum Tinguely in den großen Erdgeschossraum eine museale Saalfolge, in der die fragilen, vom Kleinformat bis ins ausgreifend Monumentale reichende Arbeiten unter sechs Aspekten wie „Prozess“, „Abstraktion“, „Pop“ und „Politik“ thematisch-chronologisch gezeigt werden, und eine Reihe Kabinette, in denen die französischen Protagonisten der Bewegung Raymond Hains, Jacques Villeglé, François Dufrêne, und deren zeitweisen Mitstreiter, der Italiener Mimmo Rotella und der Deutsche Wolf Vostell einzeln zu Wort kommen. Da begegnen einem der skeptisch-traurige Gnom aus Hains` und Villeglés gemeinsamem Abriss „Avenue Mozart `Nicolas`“ (1951), die nervöse Geometrie einer Plakatrückseite Dufrênes „1/8éme du plafond pour la 1ére Biennale de Paris“ (1959), oder Mimmo Rotellas Ikone „La tigre“ (1962) ebenso wie der Plakatabriss Vostells aus dem Jahr 1957 „Bon Danseur“ oder das Konzept zu seinem ersten Happening, „Das Theater ist auf der Straße“ von 1958, zugleich das erste in Europa, in dem Passanten aufgefordert werden, Plakate abzureißen und vorzulesen. Und wie ein Paukenschlag wird an der Stirnseite des letzten Saals Jacques Villeglés großformatiger Abriss, fast 3 x 4,5 m, „Rue René Boulanger/ Boulevard Saint-Martin, juin 1959“ (1959) aus der Collection Mamac in Nizza serviert, bei dem ein schwarz-blauer Grund aus monochromen vertikalen Streifen dem Betrachter eine flirrende Wolke aus Farb- und Wortfetzen entgegenschleudert.
Der ausgebildete Fotograf Hains und Villeglé, kurzzeitig in Nantes in Architektur eingeschrieben, kannten sich vom Kunststudium in Rennes. Neben ihrer Faszination für die Piktografien der Großstadt verfolgten sie bis 1954 das gemeinsame Filmprojekt „Pénélope“, das jedoch durch die unterschiedlichen Arbeitshaltungen zum Scheitern verurteilt war. Ein eigenes Kabinett dokumentiert die unzähligen, pedantisch erstellten Animationszeichnungen, die als bewegte Bilder den Reizüberflutungen der Großstadt näherkommen sollten, nachdem Hains „Hypnographien“, psychedelische Schwarz-Weiß-Fotografien, den Takt vorgegeben hatten. Erst 1957 gelingt den Freunden unter dem Titel „Le lyrisme à la sauvette“ eine erste Galerieausstellung ihrer Plakatabrisse, ihrer „affiches lacérées“ oder „lacéré anonyme“, wie das neue Medium ein Jahr später mit dem Manifest Villeglés „Des réalités collectives“ und durch eine weitere Ausstellung in der Wohnung des Dichters und Lettristen François Dufrêne etabliert wird. Dieser hatte in den bretonischen Freunden Geistesverwandte und in den Rückseiten von Plakatabrissen palimpsestartige Libretti einer sinn- und ideologiefreien Lautpoesie gefunden – in Basel ein schönes Beispiel aus dem Musée des Baux-Arts in Nantes: „Hommage à Camille Bryen“ (1959). 1959 treten die drei zur ersten Biennale für junge Kunst im Musée d`Art Moderne de la Ville de Paris an. In der Sektion informelle Malerei sorgen sie für Aufregung und ernten erste Meriten: Während Dufrêne seine Arbeiten aus Platzmangel unter die Decke hängt, stellt Villeglé 27 Holzbretter eines Bauzauns mit Plakatzetteln in die Ausstellung.
Und Vostell und Rotella? Auch der Deutsche entdeckt Ende der 1950er-Jahre in Paris die Plakatästhetik, müht sich um Aufnahme in die Peergroup der urbanen Trouvaillensammler, – vergebens. Dennoch oder gerade darum reklamiert er den Begriff der „Décollage“ für sich und schafft wie in „Große Sitzung mit da“ (1961) oder „Ihr Kandidat“ (1961) beeindruckende Arbeiten, zumal sie explizit politisch Stellung nehmen. Unabhängig von den Franzosen hatte der zum Künstler ausgebildete Mimmo Rotella bereits 1955 Décollagen, im Atelier manipulierte Plakatabrisse, in Mailand gezeigt, ein Medium, in dem er wie in „Ricerca flaminia“ (1948) die anonyme Abstraktion sucht. Erst unter dem Eindruck der Amerikaner wie Robert Rauschenberg oder Ray Johnson findet er zu seinem unverwechselbaren Pop-Art-Appeal mit Arbeiten wie „Una pelliccia di visone“ (1958), in der dem Betrachter eine zerfetzte Werbeblondine entgegenstrahlt. 1961 gelingt ihm, was Vostell verwehrt bleibt, die Aufnahme in die Vereinigung der im Oktober 1960 gegründeten „Nouveaux Réalistes“.
Die Künstler Arman Fernandez, Martial Raysse, Daniel Spoerri, Jean Tinguely, François Dufrêne, Raymond Hains und Jaques de la Villeglé unterzeichneten in der Wohnung Yves Kleins ein Gründungsmanifest des Kunstkritikers Pierre Restany, dessen Kernthesen aus Villeglés Text aus dem Jahr 1958 stammten. Auch wenn wichtige Arbeiten der „Affichisten“ bis weit in die 1960er-Jahre entstehen, ist hier die These naheliegend, dass mit der Gründung dieser Vereinigung Hains und Villeglés Arbeit im Grunde abgeschossen ist und nicht erst 1968, wie es die Ausstellung etwas verschwommen und willkürlich festlegt. Villeglé arbeitet bis heute an seinem Projekt. Und in Arbeiten wie Teresa Margolles „La búsqueda“ (siehe Band 228, S.305) finden sich würdige Nachfolger.
Poesie der Großstadt. Die Affichisten, Museum Tinguely, Basel, 22. 10. 2014 – 11. 01. 2015; die Ausstellung geht vom 5. 02 – 25. 05 2015 an die Schirn Kunsthalle Frankfurt.
Zuerst erschienen in Kunstforum International Bd. 230, Dezember 2014 – Januar 2015, S.283-285