Katrin Henkel inszeniert Bernard-Marie Koltès´ „Roberto Zucco“ im Pfauen des Zürcher Schauspielhauses gleich zwei Mal – einmal von vorn und einmal rückwärts.
Die Benchmark beim Berliner Theatertreffen, der selbsterklärten Leistungsschau des deutschsprachigen Theaters, wird gegenwärtig immer noch von den Regisseuren Peter Zadek, Claus Peymann und Peter Stein mit 21, 19 und 18 Einladungen gesetzt. Das Feld blieb weit dahinter zurück. Eine bemerkenswerte Ausnahme macht die 1970 in Köln geborene, in Lübeck aufgewachsene und bei Claus Peymann am Wiener Burgtheater ausgebildete Karin Henkel. Ohnehin eine der wenigen Regisseurinnen in der männerdomminierten Domäne, bringt sie es auf fünf Einladungen und davon seit 2011 bis ins letzte Jahr vier hintereinander. Mit ihrem „Roberto Zucco“ am Schauspielhaus Zürich, Premiere am Donnerstag vergangener Woche, könnte sie diese Serie fortsetzten, doch nicht darum, weil sie innovatives, berauschendes Theater vorgelegt hätte, sondern, weil sie Konzeption und Konvention ansprechend in Einklang brachte, wie schon bei ihrem Züricher „Amphitryon“, der 2014 zum Theatertreffen eingeladen wurde. Hatte sie bei Kleist den Einfall die Protagonisten zu verdoppeln und zu verdreifachen, so stand bei ihrem Koltès die Idee am Anfang, das Stück wie einen Film einmal im Schnelldurchlauf abspulen zu lassen und ohne Pause im Rewind-Modus zu wiederholen. Mit der letzten Arbeit des 1989 an den Folgen von AIDS verstorbenen Franzosen findet Henkel eine geeignete Vorlage. Denn die Verdichtung der Geschichte des italienischen Serienmörders Roberto Succo, der sich nach mindestens sechs Morden 1988 im Gefängnis das Leben nahm, zeigt in fünfzehn Stationen kaum dramatische Entwicklung. Von vorn nach hinten, oder von hinten nach vorn gelesen, ist einerlei. Die ewige Wiederkunft des Gleichen ist bei Koltès schon in der Parusie der blonden Bestie, die ohne Motiv mordend, gottgleichen Status beansprucht, angelegt. Bei Henkel soll der Zucco zuerst im Kopf der Zuschauer entstehen. In der ersten Szene versucht das Ensemble im Chor vor der abgedunkelten Bühne den Ausbrecher Zucco zu erspähen. Im ersten Durchlauf wird er als Stichwortgeber, wie eine Stimme Gottes aus dem Off vernehmlich. Zu sehen bekommt man ihn nicht. Die Morde finden nur angedeutet statt, wie die Geschichte des Mädchens, das von Zucco entjungfert, durch den Bruder im Bordell verhökert wird, Zuccos Begegnung mit dem Alten in der U-Bahn, die somnambule Dame im Park, deren Sohn von Zucco erschossen wird. All das wird in Chiffren erzählt. Der schwarze Bühnenkasten, samt vier angedeuteter Sets, Tisch, Bett, Bad und Grab auf der Drehbühne (Stéphane Laimé) machen klar, dass die Figuren in einem Totenhaus agieren. Damit der Abgrund noch weiter gähnt, greift die Regie ordentlich in die sakrale Kiste. Sie zeigt die aggressiv-bigotte Gesellschaft mit Kruzifixen in der Hand und „Kyrie eleison“ im Mund beim Lamentieren. Henkels Ensemble steuert dabei leidlich zwischen Pathos und Burleske und rettet sich von den Abbreviaturen überfordert in Posen. Einzig mit der großartigen Lena Schwarz in den Rollen Zuccos Mutter, der Patronne, der Nutte und der Dame und Lisa-Katrina Meyer als trotzig-selbstbewusstes Mädchen ahnt der Zuschauer das avisierte Format der Produktion. Mit der Anwesenheit Jirka Zetts als Zucco im zweiten Durchlauf hätte die Inszenierung an Sog gewinnen können. Die Bühne wird bunter, das Totenhaus wandelt sich zur Fabriketagenmördergrubenphantasie mit abgerissenen Tapeten und Plakaten neben blutverschmierten Kachelwänden. Das ist Zuccos Welt. Doch mit seiner Präsenz gewinnt die Moritat keine Dichte. Kalkulierte Tableaus und routiniertes Spiel liegen wie Mehltau über dem Konzept. Damit rettet Henkel das Theater der Altvorderen, Stein, Peymann, Zadek, mit einer Prise postdramatischem Pepp gerade so ins 21.-Jahhundert. Die redaktionell leicht überarbeitete Fassung erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe von Der Freitag Nr. 4 am 22. Januar 2015, https://www.freitag.de/