Post-Performance II

Live-Acts und Partizipation des Publikums behaupten zunehmend feste Plätze im Kanon der bildenden Kunst. Mit der 56. Venedig Biennale ist man endgültig ins Zeitalter des Post-Performativen eingetreten.

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I. Die Arena

Hat die bildende Kunst heute nichts mehr Substantielles zur Welt zu sagen? Die Frage drängt sich dem Besucher des Zentralen Pavillons in den Giardini unwillkürlich auf. Im Zentrum der von Okwui Enwezor kuratierten Hauptausstellung „All the World`s Futures“ ist kein Kunstwerk ausgestellt. Stattdessen vermerkt der Lageplan eine „Arena“, in der über die gesamten sieben Monate der Biennale Veranstaltungen durchgeführt werden sollen, Vorträge, Lecture Performances, Filme und Musikveranstaltungen. Auch das Publikum ist aufgerufen in Absprache mit den Organisatoren Darbietungen beizutragen. Vor allem aber wird unter dem Titel „Das Kapital Oratorio“ das gesamte Hauptwerk Karl Marx` täglich in vier 30-Minuten-Sessions in der Inszenierung des britischen Künstlers Isaac Julien zu Gehör gebracht.

Also Nachsitzen und Mitmachen für alle? Und schlimmer noch, ist das nicht die explizite Kampfansage an die Kunst und ihr Publikum? Wer es ausschließlich so lesen möchte, hält die Kriegserklärung bereits in der Hand. Der Begriff „Arena“ lässt freilich zuerst an agonale Veranstaltungen, Zirkus-Kunst-Stücke und Leichtathletik denken. Doch für nichts dergleichen eignet sich der große rot ausgeschlagene, vom ghanaisch-britischen Architekten David Adjaye entworfene Veranstaltungssaal, der mit Sitzpolstern auf breiten Stufen rechts und links des rechteckigen Podiums und einer Empore über dem Publikumsdurchgang zum Zuhören und Zuschauen einlädt.

Konzentration fällt hier nicht leicht. Der Durchgang bildet die Hauptpassage zwischen den westlichen und östlichen Sälen des Zentralen Pavillons. Jeder muss hier vorbei, kann entscheiden, ob er bleibt, oder weitergeht. Für den Theatermann wäre der dauernde Wechsel der Zuschauer, der Lärmpegel aus den angrenzenden Räumen ein Graus, für jeden Performer eine Herausforderung. Auch ein Mikrofon ändert daran wenig.

Stoisch stehen dann auch die beiden mit Headsets ausstaffierten Schauspieler am Pult, die am Eröffnungstag die ersten Marx-Passagen lesen. Die Kapitelüberschriften und Namen der Beteiligten werden an die Stirn- und Seitenwände projiziert. Der Rezensent folgt ihnen zwei, drei Seiten und erinnert sich wehmütig an die Einführungskurse zum „Kapital“ bei Wolfgang-Fritz Haug an der FU-Berlin in den 1980er-Jahren.

P1240169Bereits am zweiten Tag hat sich Alexander Kluge auf die Bühne gewagt. Von einer Philosophin und einem Philosophen rechts am Tisch sekundiert doziert er auf Englisch eine knappe Stunde lang über seine Marxlektüre. Für den optischen Gimmick sorgt ein veritables Karl-Marx-Double, das Texte in den Videobeamer halten oder schreiben darf. Wie sein Kollege Isaac Julien („KAPITAL“, 2013) zeigt auch er nebenan eine Videoarbeit, „Nachrichten aus der ideologischen Antike“ (2008-2015), der man, wie seinem Vortrag in der Arena, durch die synästhetischen Überlagerungen nur ungern folgen möchte.

Kurz vor sechs Uhr Abends folgt die letzte Darbietung des Tages: Vier Flügel werden auf die Podiumsmitte geschoben und mit Computern ausstaffiert. Das Quartett wird mit „Crazy Nigger“, 1980, des 2009 verstorbenen Afroamerikaners Julius Eastman für einen tobenden Saal sorgen.

Es lässt sich streiten, wie diese „Arena“ treffend zu bezeichnen sei. Ist sie ein Forum, eine Plattform, eine Bühne, ein Theater oder Auditorium? Wahrscheinlich kommt ihr, will man das antike Erbe bemühen, die Bezeichnungen „Odeion“, oder zeitgenössisch hip „Pop-up-store“ am nächsten. Abjaye und Enwezor setzen in jedem Fall einen Hybrid. Nicht nur, dass hier unterschiedliche performative Formen zur Aufführung kommen. Es überkreuzen sich zwei grundsätzlich unterschiedliche Publika, Rezeptionshaltungen und Aktionsmöglichkeiten. Zum Einen sammelt sich die sonst zerstreute Betrachter-Schaar in einer mehr oder weniger definierten Zeitspanne zu einer Zuschauergemeinschaft, zum Anderen steht es jedem frei sich jederzeit wieder aus dieser zu lösen. Und nicht zuletzt bietet sich potentiell für jeden die Möglichkeit, sich seinen „All-the-World`s-Future“-Biennale-Auftritt zu verschaffen – “In the future, everyone will be world-famous for 15 minutes.”

Bis dahin kann er sich auch an der Wand der Passage zwischen Podium und Empore einen Rucksack abholen, um damit als Kollaborateur des Berliner Künstlers Olaf Nicolai in die Ausstellungssäle zu gehen. Nicolai hat in die 16 Rucksäcke Lautsprecher montiert, die es ihren Trägern ermöglicht, zwei Radiosender und Luigi Nonos „Non Consumiamo“ aus dem Jahr 1968 hörbar werden zu lassen. Die Lautstärke regelt jeder Träger selbst und erlebt so die Räume und ihre Besucher, die die Sounds irritiert wahrnehmen, auf einer partizipativ und rezeptiv neuen Ebene.

Noch hat sich Enwezors Odeion nicht bewährt. Es wird sicher Veranstaltungen geben, die funktionieren und andere nicht. Die Laien-Auftritte werden sich zwischen Speakers-Corner und Casting-Show bewegen und bergen durch ihr Format ein gewisses Risiko, das jedoch durch Professionell-Einstudiertes wieder abgefedert wird: Unter anderem lässt der britische Künstler Jeremy Deller regelmäßig „Broadsides and Ballads oft the Industrial Revolution“ (2015) absingen, das Künstlerduo Jason und Alicia Hall Moran aus New York bringt „Work Songs“ (2015) zur Aufführung und die kroatische Choreographin und Künstlerin Ivana Müller animiert Donnerstags und Sonntags mit „We Are still Waching“ (2015) das Publikum zum Performen. Dass die Lesung des Kapitals dabei einen roten Faden bildet, macht Sinn, denn hier geht es weniger um eine inhaltliche Auseinandersetzung, als um ein Oratorium, das eine vergleichbare Durchdringung der ökonomisch- politischen Verhältnisse heute anmahnt.

Es geht hier also nicht darum, den Besucher der Biennale für den Kunstbesuch zu munitionieren oder gar zu bevormunden. Vielmehr werden mit diesem Forum performative Formate und ihre Diskursgemeinschaft als ernstzunehmende Ausdrucksform neben anderen ins Zentrum gerückt. Mit der 56. Biennale ist man endgültig ins Zeitalter der Post-Performance eingetreten.

II. Post-Performance

Ebenso wie der Begriff der Post-Moderne oder die Rede von einer Post-Internet-Generation indiziert der Begriff Post-Performance, den Umstand, dass Aktionen oder theatrale Situationen heute kaum mehr dafür Aufmerksamkeit sorgen, weil sie als Aktion oder Situation zu erkennen sind. Sie sind selbstverständlicher und anerkannter Bestandteil der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten geworden. Künstler und Kuratoren sehen die Performance ebenso als eine ernstzunehmende Form, wie sie von einem größeren Publikum als solche angenommen und rezipiert wird. Da Performances sich als ephemere Kunstform Verwertungskreisläufen zunächst entziehen, gelingt es Biennalen und Festivals sich durch ihre Präsentation von kommerziellen Kunstfeldern und Messen abzugrenzen, auch wenn diese die Performance als Produkt und Event entdecken, wie die vergangene 45. Art Basel nicht nur mit den Aktionen in „14-Romes“ gezeigt hat. Diese Entwicklung kam nicht überraschend. Die letzten drei Venedig Biennalen waren dafür Indikatoren. Mit Nikhil Chopra, William Forsythe, Joan Jonas, Yoko Ono und Rirkrit Tiravanija waren bereits in der von Daniel Birnbaum kuratierten Hauptausstellung „Making Worlds“ 2009 auffällig viele performativ arbeitende Künstler vertreten. Sie präsentierten jedoch durchweg Installationen oder Videoarbeiten. Lediglich Yoko Ono interagierte über ausgelegte Handzettel mit dem Publikum. Anders in den Länderpavillons und Collateral Events. Hier waren zumindest in der Eröffnungswoche Live-Acts Höhepunkte. Lapidar und eindrücklich, die Arbeit der mexikanischen Künstlerin Teresa Margolles, „What Else Could We Talk About“ (2009). Angestellte reinigten den Steinboden eines Palazzo regelmäßig mit Leichenwaschwasser. Der isländische Künstler Ragnar Kjartansson inszenierte sich in der Souterrainhalle eines Palazzo als Maler mit Modell, „The End-Venice“ (2009), während die Mediengruppe Blast Theory den Besucher in einem interaktiven Audiowalk durch Dorsoduro mitnahm, „Ulrike and Eamon Complaint“ (2009); und ebenso zu einer Begehung der anderen Art lud das Künstlerduo Elmgreen & Dragset in „The Collectors“ (2009). Zwei Makler, ein gut aufgelegtes Schauspielerduo, bot in einer Dreißig-Minuten-Besichtigung die nordischen Pavillons samt der darin ausgestellten Kunst zum Verkauf an.

Während in der von Bice Curiger verantworteten Hauptausstellung „Illuminations“ zur 54. Ausgabe 2011 performative Formate mit Philippe Parreno, Elad Lassry oder Marinella Senatore nur am Rande eine Rolle spielten, waren sie in den Länderpavillons allgegenwärtig. „Speech Matters“ hieß es zum Beispiel im Dänischen Pavillon. Der ägyptische erinnerte an den Aktionisten Ahmed Basiouny, der kurz zuvor von einem Heckenschützen erschossen worden war, und Mike Nelson ließ den Besucher durch den Einbau eines orientalischen Hauses im Britischen Pavillon in fremde Welten und ihre Geschichten eintauchen, „), Impostor“ (2011). Dennoch war es für viele eine große Überraschung, als der Goldene Löwe für den bemerkenswertesten Länderpavillon an Deutschland ging und damit an die immersive Installation des kurz zuvor verstorbenen Christoph Schlingensief, den bis dahin viele noch als einen Autorenfilmer und Theatermann wahrgenommen hatten. Mit der Preisverleihung an Schlingensief war nun auch eine Konsekration des einstigen Schmuddelkindes Performance durch den Kunstbetrieb verbunden.

Wer glaubte, dass die Präsenz performativer Formate eine vorübergehende Erscheinung sei, wurde zwei Jahre später eines Besseren belehrt. Während zum Beispiel im ausgeräumten Rumänischen Pavillon in der Regie von Alexandra Pirici und Manuel Pelmus mit „An Immaterial Retrospective of the Venice Biennial“ (2013) täglich die größten Kunstwerke der Biennalen in Tableaux vivants nachgestellt wurden, ging ein Goldener Löwe wieder an eine performative Position: Der deutsch-britische Künstler, Tino Sehgal, bereits 2005 mit Thomas Scheibitz auf der 51. Biennale im Deutschen Pavillon, bekam ihn für die «Klasse und Innovation, mit der seine Arbeit zur Öffnung der künstlerischen Gattungen beigetragen hat,» wie die Jury vermerkte.

Die Türen waren 2015 also schon weit aufgemacht. So konnte die inzwischen 79-jährige Pionierin der Performancekunst, die New Yorkerin Joan Jonas mit der idyllisch-schamanischen Mixed-Media-Installation „They Come to Us without a Word“ (2013-15) den U.S.-amerikanischen Pavillon bespielen.

Und auch die Auszeichnung für die hervorragendste künstlerische Arbeit konnte nun keinen mehr verwundern. Mit der U.S.-Amerikanerin und Wahlberlinerin Adrian Piper wurde eine wichtige Theoretikerin, Aktivistin, Konzept- und Performancekünstlerin der zweiten Generation geehrt. Während im Zentralen Pavillon der Spruch „Everything will be taken away“ auf vier Tafeln wie zur Strafarbeit dutzend Mal abgeschrieben steht – ein Arrangement, das auf eine frühere Performance Pipers zurückgeht – warten in den Arsenalen drei kreisrunde Empfangstische auf ihre Kunden. Hat man bei Enwezors Ausstellung ohnehin den Eindruck einer Counter Fair, sucht Piper mit „The Probable Trust Registry“ (2013) den Messe-Appeal bewusst: Nach einem Informationsgespräch mit den freundlichen Hostessen kann der Besucher ein Dokument unterzeichnen, in dem er sich verpflichtet, fürderhin sich und seinen Mitmenschen gegenüber aufrichtig zu sein. Partizipative Gesinnungskunst in Reinkultur. Während das Papier in Pipers Archiv wandert, geht der Teilnehmer auf seinen ethischen Kern verpflichtet von dannen. Nun darf der Besucher die teerschwarzen Stoffbahnen des jungen Kolumbianers Oscar Murillo in den Interkolumnien der Fassade des Zentralen Pavillon auch als einen Theatervorhang deuten. Er setzt in seinem morbiden Kontrast zur weißen Fassade aus der Mussolinizeit Dynamik gegen Statik und stimmt auf die Gegensätze dahinter ein.

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III. Formen des Performativen

Noch nie waren auf einer Biennale performative Formate so präsent und in einer so diversifizierten Bandbreite vertreten wie in diesem Jahr. Sie reicht von Christoph Büchels skandalumwitterten Isländischem Pavillon, „The Mosque“,in Cannaregio (s.u.), bis zu Saâdane Afifs „The Laguna`s Tribute. A Corner Speaker in Venice“ am Ufer von Zattere, von Bühnen und Objekttheatern wie Qiu Zhijies interaktives „Jing Ling Chronicle Theatre“ (2000-2015) bis hin zu immersiven Installationen wie „Canadassimo“ (2015) des Kollektivs BGL im Kanadischen Pavillon.

Auch die Spannung zwischen Formalismus und Aktionismus, die von den Anfängen bis heute Positionen und Diskurs um Performance und Partizipation bestimmt, bildet sich in allen Schattierungen ab. Die Pole markieren einerseits Arbeiten wie die komplexe chorische Choreografie „In the Midst of Things“ (2015) für ein Duzend Sängerinnen und Sänger in der Regie Jennifer Allora & Guillermo Calzadilla in den Arsenale, oder ebenda die introvertierte Versuchsanordnung Ernesto Ballesteros „Indoor Flights“ (2014), in der ein Assistent Leichtbauflieger durch den Raum schweben lässt.

Die Seite, auf der das performative Format in politische Aktion und Veränderung der Gesellschaft umschlagen soll, ist neben Adrian Piper, zum Beispiel bei „Crossing the Tide“ des taiwanesischen Künstlers Vincent J.F. Huang im Länderbeitrag des Inselstaates Tuvalu zu finden. Er will auch in seinem zweiten Auftritt in Venedig mit einer Flutung der Installation und folglich nassen Schuhen der Besucher deutlich machen, dass es Tuvalu durch die Erhöhung der Meeresspiegel bald nicht mehr geben wird. Die Grenzen zu Manipulation, Kitsch und Propaganda sind dabei oft fließend.

So wurde der Besucher des Russischen Pavillon angesichts eines monumentalen Kampfjetpilotenkopfes der Künstlerin des „Green Pavilion“ Irina Nakhova erst einmal zum Winzling gemacht, um dann im folgenden Raum wieder erhöht zu werden, indem er in KGB-Perspektive unbeobachtet durch eine gläserne Decke auf die wuselnden Besucher des darunterliegenden Raums blicken durfte. Der Rezipient wurde zum Performer einer kruden Inszenierung, in der weder Adressat noch Botschaft deutlich werden sollten.

Dagegen schenkt die Performancekünstlerin Tania Bruguera dem Besucher ihrer Arbeit „Untitled (Havana)“ in der Durchkreuzung formaler und politischer Ansätze eine eindringlich-dichte Erfahrung. Die Kubanerin mit Wohnsitz in New York hat sie zum ersten Mal auf der 7. Havanna Biennale 2000 in den Katakomben eines ehemaligen Gefängnisses gezeigt. Nun ist sie in einem verlassenen Lagerhaus der Arsenale zu erleben.

Nur eine Handvoll Besucher darf den vollständig abgedunkelten, nur durch einen alten Fernsehschirm notdürftig erhellten Raum betreten. Das Auge gewöhnt sich langsam an die Dunkelheit. Das Gehen fällt schwer. Der Raum ist mit einer dicken Schicht Lavakiesel ausgelegt. Jeder Schritt verunsichert, lässt die Steine verräterisch knirschen. Der Besucher bleibt irgendwo stehen und hört ein Klatschen von Händen gegen Haut und Körper, bis das Auge die Umrisse dreier nackter Männer im Halbdunkel gewahr wird. Sie sind mit einem seltsamen fast zwanghaften Ritual beschäftigt. In einer Mulde stehen sie und klatschen mit den Händen gegen ihre Körper. Reinigung, Geißelung, Hospitalisierung? Sie sind nicht ansprechbar. Der Besucher wird es von ihnen nicht erfahren. Eine vierte Mulde ist frei. Der Besucher könnte sich hineinstellen und es ihnen nachtun.

In der ohnehin beklemmenden Situation, erlebt nun der Betrachter die Identifikation der Lichtquelle sowohl als Zuwachs und Ursache der Beklemmung, als auch als deren Erlösung. Die Künstlerin zeigt hier schwarz-weiße Propagandafilme, die einen gut aufgelegten Máximo Líder Fidel Castro beim Schwimmen, Scherzen und Zigarrerauchen inszenieren. Macht und Ohnmacht, existenzielle Dignität und herrschaftliche Supreption stehen bei Bruguera in einem Abhängigkeitsverhältnis, das nun unmittelbar thematisch und erfahrbar geworden ist. Brugueras Arbeit ist zugleich ästhetisch überzeugend und vermittelt eindrücklich gesellschaftlich-politische Zusammenhänge.

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IV. The Mosque

Rezeptionsästhetisch und formal auf einer gänzlich anderen Ebene als Bruguera, gelingt dem Schweizer Christoph Büchel mit seiner Arbeit „The Mosque“ (2015) eine ähnlich dichte Setzung. In seinem Projekt für den Länderpavillon Islands, erhält die Frage nach den Grenzen von Kunst und Leben, künstlerischer Intervention, Partizipation und Politik neue Nahrung.

In Wien hatte der Künstler 2010 mit der partizipativen Installation „Raum für Sexkultur“ Skandal gemacht, indem er einem lokal bekannten Swinger-Club temporär im Allerheiligsten der Donaustadt-Moderne, dem Secessionsgebäude, Obdach gab. Während nachts buntes Treiben herrschte, konnte das Publikum tagsüber seine Phantasien im schwülen Ambiente schweifen lassen.

Nun sollte Venedig mit unzähligen Kirchen und fünf Synagogen nach dem Willen des Künstlers in Kooperation mit dem Icelandic Art Institute (IAC), seine erste Moschee erhalten. Bis kurz vor der Öffnung, stand die Genehmigung für das Projekt von Seiten der venezianischen Behörden aus. Am 8.Mai, dem 60 Jahrestag des Kriegendes in Europa, wird sie jedoch planmäßig mit Ansprachen, dem Freitagsgebet und einer ausgelassenen Feier in der einstigen Klosterkirche Santa Maria della Misericordia im Stadtteil Cannararegio eröffnet.

„Partizipation ist doch da, wo man die Schuhe ausziehen muss;“ dieses gängige Vorurteil gegenüber Kunst, die auf Teilhabe setzt, wurde hier aus den rituellen Gegebenheiten bis auf wenige Ausnahmen mit Selbstverständlichkeit und Vergnügen bestätigt. Zwar konnte der Raum hinter einer Schranke auch Beschuht betrachtet werden, doch Details und Schönheit des Baus, die Freude der Gemeinde am Zusammensein und an den Melodien einer maghrebinischen Musikergruppe erschlossen sich erst durch eine eingehende Besichtigung und distanziert freundliche Teilhabe an der freundlichen Gemeinschaft.

Büchel hatte die schlichte, pfeilerlose Kirche aus dem 13. Jahrhundert mit ihrer barocken Fassade und Ausstattung architektonisch behutsam umgebaut. Die Kirchenbänke hatten einem Gebetsteppich Platz gemacht. Ein Mihrāb, die Gebetsnische ragt als mit Stuckmarmor kaschierter Holzeinbau aus der Ostwand, daneben steht der Minbar, die Kanzel, angenehm erleuchtet von sechs tief in den Raum gehängten Lampen und einem achteckigen Lüster, wie es in einer Moschee üblich ist. Selbst noch die kreisrunden Kartuschen mit Koran-Sprüchen in den gesprengten Giebeln der Altäre fügten sich in die historische Architektur, als wären sie in der Hagia Sophia installiert. Während im Vorraum nicht nur Regale für die Schuhe bereitgestellt sind und Getränkeautomaten Wasser und Mecca-Cola spenden, bietet der Shop in der Nebenkapelle Devotionalien und allerlei Nützliches für das Geistige und körperliche Wohl für jedermann. Und auch für das Wuḍūʾ, die Gebetswaschung, ist gesorgt. Büchel installierte dazu große Metallbecken mit fließendem Wasser in der ehemaligen Sakristei.

Der organisatorische Aufwand, den Büchel und das IAC hierfür betrieben haben ist kaum auszudenken. Obwohl substanzieller Teil der konzeptuell-künstlerischen Arbeit wird er nicht öffentlich dokumentiert. Die Nutzung des einstmals christlichen Hauses, das 1967 den letzten Gottesdienst erlebte und 1973 von kirchlicher Seite profaniert wurde, konnte nur in Kollaboration mit verschiedensten Akteuren vonstattengehen, von den bis zuletzt widerstrebenden kommunalen Behörden bis zu kirchlichen Instanzen, denen das Konzept einer Kunstinstallation, die auch partizipative Religionsausübung ermöglichen sollte, seit Februar 2015 vorlag. Aber auch die Dachorganisationen der Muslimgemeinschaften Islands und Venedigs waren dafür zu gewinnen. Keine leichte Arbeit. Auch wenn die ungleichen Islamgemeinschaften schnell an einem Strang zogen. Zählt Island gerade 800 Menschen, die sich zum Islam bekennen, 0,24 % der Gesamtbevölkerung, schätzt man in Venedigs historischem Zentrum rund 3000 Muslime, vorwiegend aus Bangladesch und Nordafrika, die hier einen Bevölkerungsanteil von 5 % ausmachen. Sie bekamen jedoch vor Ort bis heute trotz Mühen keinen Raum zur Versammlung und Religionsausübung zur Verfügung gestellt. Dazu musste man aufs Festland reisen. Nach Ablauf der Biennale soll die Installation, respektive der Gebetsraum wieder geschlossen werden.

Die Fragen, die sich an dieses erste Narrativ anschließen, lassen sich an der Konfliktlinie Kunst und Leben, grob in zwei Gruppen teilen. Erstens die Fragen aus der Perspektive der Kunst: Seit dem Diktum Hegels Kunst sei, wo wir vor einem Marienbildnis kein Knie mehr beugen, gilt, dass Kunsterleben und Religionsausübung strikt geschieden seien. Verrät Büchel willfährig eine Errungenschaft abendländischer Aufklärung und Kultur? Und weiter, verwechselt „The Mosque“ vor dem Hintergrund radikalisierter Gesellschaftsformationen Kunst mit falsch verstandener interkultureller Sozialarbeit? Wird die islamische Gemeinde für einen Kunst-Event instrumentalisiert, und den kunsthungrigen Biennale-Besuchern als Happening mit exotischem Surplus vorgeführt?

Zweitens wurden aus der gesellschaftspolitischen Perspektive folgende Fragen aufgeworfen: Begibt sich die Kunst hier auf ein Terrain, auf dem sie nichts zu suchen hat und die Akteure notgedrungen überfordert? Mahnt das Projekt zu viel Toleranz ein? Spielt Büchel „frivol mit dem Feuer“, wie schnell getitelt wurde? Instrumentalisiert er Kunst und Medien für einen maximalen Aufmerksamkeitswert, der „The Mosque“ für rechte wie islamistische Terroristen zu einem Anschlagsziel erster Güte werden lässt?

Die Fragen wären einhellig mit Nein zu beantworten. Neben der ästhetischen Begründung, dass hier ein schöner, lebendiger Raum geöffnet wurde, träte vor allem die sozial-politische. Denn Büchel und seine Akteure setzten ein Zeichen für praktizierte Toleranz in zunehmend intoleranten Zeiten.

Doch seit Freitag, dem 22. Mai, trat zu diesem ersten ein zweites Narrativ in Konkurrenz. Noch vor dem dritten Freitagsgebet schloss die venezianische Staatsanwaltschaft aufgrund einer einstweiligen Verfügung der Stadtverwaltung den Isländischen Pavillon für den Publikumsverkehr mit der Begründung, dass sich zeitweilig mehr als die genehmigten 90 Personen in dem Gebäude aufhielten und eine Nutzungsgenehmigung zur Religionsausübung nicht eingeholt wurde. Der unvoreingenommene Beobachter darf vermuten, dass Christoph Büchel und seine Kuratorin Nina Magnúsdóttir die Differenz zwischen Kunst und Leben, Happening und Hadsch, behördlichem Biennale-Konformismus und Amtshuberei ins Kalkül gezogen und instrumentalisiert hatten. Nicht umsonst hatte Büchel in den Biennale-Katalogen lediglich den „Gebetszeiten-Kalender“ “ der Muslimischen Weltliga für das Jahr 2015 abgedruckt.

Der Einspruch durch das IAC, das die Schließung offensichtlich ahnte, kam postwendend mit einem massiven Vorwurf gegen die Biennale-Leitung, die sich zu passiv für das Projekt eingesetzt habe: „With the closing oft the Icelandic contribution, it has also become clear that the Biennale itself is not a venue for truly free artistic expression“, heißt es in der ersten Stellungnahme, „it will now become the task oft he IAC to resolve the current state.“ Wie aus einer Erklärung des IAC vom Mittwoch 27. Mai hervorgeht, in der noch einmal deutlich unterstrichen wurde, dass es sich bei „The Mosque“ primär um ein Kunstprojekt handelte, wurde der Vorwurf gegen die Biennale noch einmal erneuert. Auf Anfrage von Kunstforum International sandte deren Pressesprecherin eine Stellungnahme zu, datiert auf den 21.07., in der festgestellt wird, dass man sich in den Konflikt unabhängiger Entscheidungsträger nicht einmischen könne und wünscht „that assented solutions will be found in order to allow the reopening of the pavilion, expression of Iceland’s participation to Art Biennale 2015.“ Man kann sicher nicht erwarten, dass die Biennale- jedem Länderpavillon organisatorisch zu Seite steht. Immerhin hatte sie dem IAC zu zwei Terminen einen Anwalt geschickt. Dass jedoch nach der tatsächlichen Schließung keine öffentliche Stellungnahme für das Projekt erfolgte, lässt sie in keinem guten Licht erscheinen und bestätigt den Vorwurf des IAC.

Christoph Büchels „The Mosque“ wollte ein Zeichen für Toleranz setzen. Nun war eine kontroverse bis hysterische Debatte über ihre Umsetzung entfacht. Im schlimmsten Fall realisiert sie sich im Konzept. „´The Mosque`is the type of artwork that can be experienced simply by hearing or even reading about it,“ schreibt der IAC einen Tag vor der Schließung, Im minder schlimmen Fall wird der Pavillon mit Auflagen und Verbot der Religionsausübung zum ästhetischen Relikt, zugänglich für Kunsttouristen. Im besten Fall diente sie wieder wie intendiert als ein temporäres Obdach zur performativen Religionsausübung und partizipativer Besuchermagnet der Biennale. Gänzlich utopisch erscheint jedoch, dass sie über diese Zeit hinaus als Kunstwerk und Gotteshaus genutzt werden kann.

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IV. Agonale Kumulation

Die partizipativen Installationen von Bruguera und Büchel gehören sicher zu den spektakulärsten Arbeiten dieser Biennale. Daneben finden sich einige Performances die ihnen an Tiefe und Durchdringung der Materie kaum nachstehen. Atelier, Baustelle, Shop? Genau lässt sich Rirkrit Tiravanijas Installation „Untitled 2010 (14.086)“ in den Arsenalen, die er zuerst 2010 in einer Galerie in Beijing zeigte, nicht bezeichnen. Zwei Assistenten produzieren gemächlich Ziegelsteine, versehen sie mit dem schönen Stempeldruck auf Chinesisch, „Ne travaillez jamais“, eine Losung der Situationistischen Internationale, und lassen sie an der Luft trocknen. Die ansprechend gestapelten Ziegel werden für 10,00 Euro für einen guten Zweck verkauft. „Ne travaillez jamais“ – bezieht sich die Parole auf das Heer fleißiger Arbeiter in China oder die freundlichen Assistenten Tiravanijas, die hier ab und an die Hand rühren müssen? Der Sinn der Aufschrift kehrt sich für den Käufer nach wenigen Metern in sein Gegenteil. Tiravanijas Ziegel wiegt schwer. Der Träger spürt mit seinem Gepäck am eigenen Leib, was körperliche Arbeit bedeutet.

Auf globale Arbeitsverhältnisse und Missstände macht auch die Installation „NoNoseKnows“ (2015) des Argentiniers Mika Rottenberg in den Arsenalen aufmerksam. Nachdem der Besucher durch einen Laden mit Säcken voll Zuchtperlen gegangen ist, sieht er ein Video, das der Produktion dieser künstlichen Naturprodukte gewidmet ist und merkt schnell, dass hier etwas nicht stimmt. Mit Rauch gefüllte Seifenblasen wabern durch unansehnliche Flure, der korpulenten Geschäftsführerin wächst eine Nase, während die angestellten Chinesinnen im Keller neben ihrer Arbeit an den Muscheln einen Holzventilator via Treibriemen in Bewegung setzen müssen, der die Chefin zum Niesen bringt, was wiederum eines jener pappigen Tellergerichte produziert, die sich bereits neben der niesenden Dame stapeln. Ebenso wie man die Perlen in Rottenbergs Laden nicht kaufen kann, werden scheinbar funktionierende Arbeits- und Verwertungskreisläufe unterbrochen und ins Absurde gekehrt. „Ne travaillez jamais,“ die Losung erfüllt sich hier im Kopf des Betrachters.

Wie sehr Enwezor auf Dramaturgie und Orchestrierung gerade der performativen Arbeiten wert legte, wird besonders im hinteren Teil des Arsenale-Rundgangs im Giardino delle Vergini deutlich. Zwei Arbeiten scheinen sich auf den ersten Blick in ihrem Sound unangenehm zu stören. Da kämpft auf einmal das Deutschlandlied gegen polynesischen Gesang und Kriegsgeschrei. Doch beim Nähertreten, länger Hören ergänzen sich die Arbeiten in ihrer Fremdheit auf wunderbare Weise. Der in Berlin lebende Ghanaer Emeka Ogboh ließ die deutsche Nationalhymne von nach Berlin emigrierten Landsleuten einsingen. Nun sind sie mit „The Song of the Germans (Deutschlandlied)“ (2015) in ihren Muttersprachen über eine Mehrkanalinstallation im Turm der Schiffseinfahrt zu hören.

Ihm gegenüber lässt der samoanische Choreograph und Theaterleiter Lemi Ponifasio zwei Performerinnen Ausschnitte seines Stücks „Lagi Moana: The Preparation“ aufführen, das in ritualisierten Kampf und Tanzbewegungen, Gesängen und Anrufungen eine Beschwörung der Ahnen und die Vereinigung mit einem spirituellen Raum herstellen soll. „The performers are servants to activate the space, beyond language and our daily live,“ kommentiert der Künstler im Gespräch. Auch wenn Gesang und Tanz den meisten unverständlich bleiben, wirkt die Darbietung Ponifasios durch die Präsenz der Darstellerinnen faszinierend. Sie erhält in der Inbrunst der Sänger in Ogbohs Arbeit nicht nur ein ebenbürtiges Gegenüber, sondern sie entfalten im gemeinsamen Konzert einen ganz eigenen Zauber. An den Setzungen der 56. Venedig Biennale wird keine Veranstaltung für zeitgenössische Kunst mehr vorbeikommen.

Ende

Vortrag zu „Die Geschichte der Performance“, Prof. Stephan Müller, DDK, Zürcher Hochschule der Künste. Veröffentlicht in Kunstforum international, Bd.233,  2015.

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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