Die Text-Bilder sind zu seinem Markenzeichen geworden. Seit den späten 1950-er-Jahren schlingt sich Benjamin Vautiers Schnürlischrift meist weiß auf schwarzem Grund. Ihren ersten großen internationalen Auftritt hatte sie 1972 auf der legendären documenta 5 Harald Szeemanns. Der Künstlername „Ben“ oder Schlagworte wie „oeil/ Auge“ „liberté/ Freiheit“, „beau/ schön“, „vrai ou faux/ wahr oder falsch“ drängten sich seither in die Erinnerung des Publikums, oder Slogans wie „Je suis un con/ Ich bin ein Idiot“, „alles ist Kunst“ oder gleich „à qoui sert l´art/ Wozu dient Kunst?“
Der Schriftmaler, Dichter, Installations- und Performancekünstler und treibendes Mitglied der Fluxus-Bewegung setzt dabei vor allem auf die Einbildungskraft seiner Betrachter-Leser. Dem eleganten Wortspiel und gesuchter Mehrdeutigkeit zeigt sich seine Bild-Poesie abhold. Dennoch ist die Frage im Titel der Ausstellung zum 80. Geburtstag des in Neapel geborenen und seit 1949 in Nizza lebenden französisch-schweizerischen Künstlers „Ben Vautier. Ist alles Kunst?“ – und damit auch das Kerngeschäft seiner künstlerischen Arbeit – nicht bloß rhetorisch zu lesen. Demnach wäre sie in ihrem universellen Anspruch einerseits nur mit „nein“, doch andererseits mit dem Faktum der Ausstellung in einem Museum nur positiv zu beantworten.
Diese Lesart blendet jedoch den historischen Hintergrund wie ihren konkreten Bezug aus. Bereits mit „Porte bouteilles“, dem Flaschentrockner als Ready-Made, 1914, war durch Marcel Duchamp die Losung in die Welt gesetzt: Alles ist Kunst. Dreißig Jahre später, so will es die Fama, sitzen die in Nizza geborenen Yves Klein und Armand Fernandez am Strand der Côte-d’Azur-Metropole. Während der eine in Duchamps Sinne den Himmel signiert und für sein Kunstwerk erklärt, reklamiert der andere die Erde für das seine. Vautiers Frage, „ist alles Kunst?“, darf daher ohne Umschweife als Reflex des Nachgeborenen verstanden werden, – als einem, dem nur noch der Zweifel bleibt. „Ben doute de tout/ Ben zweifelt an allem“, heißt es bei ihm 1959 auf einer seiner Tafeln konsequenter Weise. Doch statt die Kunst an den Nagel zu hängen, legt Ben Vautier erst richtig los. Ein kleines Ladengeschäft, in dem er Trödel und Schallplatten verkaufte, wurde Ende der 1950er-Jahre zum artistischen Basislager, Künstlertreffpunkt und Galerie, bis die Einrichtung und die über und über mit selbstgemalten Schildern und Nippes bedeckte Front 1972 an das Centre George Pompidou ging. Das Objekt ist ein beeindruckender Höhepunkt der Basler Ausstellung. Damit nicht genug. Vautier signiert nun manisch unter dem Motto „Ben ist Kunst“ Gott und die Welt. Oder eben nichts. „Je signe rien/ Ich signiere nichts“, heißt es auf einem Acrylbild 1966; auch das dokumentiert eine der acht Abteilungen des retrospektiv angelegten ersten Teils der Ausstellung unter dem Titel „Appropriationen“ eindrücklich.
Im Essay „Das Chaos des Fleisches“ hatte Elias Canetti 1973 zwei Künstlertypen gegenübergestellt, den Chaotiker und den Destillierer. Mit dem leidenschaftlichen Graffito am Eingang der Ausstellung, das Vautier noch kurz vor Eröffnung anbrachte, würde ihn der Besucher gerne zu den Chaotikern rechnen. Doch schon der erste Saal belehrt ihn eines Besseren. Hier sind die Anfänge des Autodidakten zu sehen, auch hier die Suche nach einem „brand“, nach einer unverwechselbaren Signatur, Variationen eines phallischen Objektes „Banane“, 1958-1959, Arbeiten auf Papier in Tusche und Acryl, die sich in die Köpfe der Betrachter setzen möchten. Wohl auf Empfehlung Yves Kleins gibt er diese Form auf und widmet sich dem Text-Bild, dessen Grundtypus rasch gefunden wird und bis heute in unzähligen und ab und an überraschenden Variationen in Permanenz auftaucht. Dies ist sicher der Grund, dass die Ausstellung ihren retrospektiven Teil 1977 beendet, dem Jahr, in dem Vautier im fernen Paris endgültig museale Weihen erhielt.
Ist alles Kunst? Nach außen, auf dem Katalog und Plakaten, appelliert die Frage in der Öffentlichkeit nicht unproblematisch an einen Common Sense, der meint, eine scharfe Trennlinie zwischen Kunst und Nichtkunst ziehen zu können. Auch wenn sich der Künstler sicher nicht mit dieser Haltung gemein machen will, kommt er ihr in Basel zumal ein Stückweit entgegen. Für den Besucher lautet die Parole möglichst naiv und unvorbelastet in das Universum Vautier einzutauchen. Das betrifft vor allem nach dem retrospektiven ersten, den zweiten Teil der Basler Schau, in dem der Künstler mit einer Carte blache ausgestattet, sich ungehindert präsentieren kann. In achtzehn Kabinetten breitet Vautier seine Welt aus – vital, anarchisch, unterhaltend und verspielt im Geist seiner performativen „Gestes/ Gesten“ der 1960er-Jahre. Aber leider auch altklug und redundant mit Anleihen bei Robert Rauschenberg und Ed Kienholz. Die an Bildern und Objekten überbordenden Themenräume von „Tod“ bis zu „Kleine Ideen“ werden in kurzen Filmen auf kleinen Monitoren an den Kojen selbstironisch schwadronierend vom Künstler kommentiert, als bedürfe es immer noch seiner ubiquitären Beglaubigung. Ist alles Kunst? Im Sinne Vautiers ist jeder bei der Antwort auf sich selbst zurückgeworfen.