Enigma – Fotomuseum Winterthur

Mutter und Knabe mit Kugelblitz (1928); Oskar Pastior 1985.png

Oskar Pastior, Mutter und Knabe mit Kugelblitz (1928), 1985

Der Dichter Oskar Pastior veröffentlichte 1985 eine Fotografie aus Familienbesitz samt ihrer kaum minder merkwürdigen Ekphrase, der Bildbeschreibung „Mutter und Knabe mit Kugelblitz (1928)“: In einem Hanomag sitzend präsentiert die stolz lächelnde Mutter das herausgeputzte Kleinkind, den späteren Poeta laureatus. Doch Pastiors Interesse richtet sich nicht auf die rührende Szene, sondern auf die Lichterscheinung, die sich mirakulös über den Köpfen der Abgebildeten zeigt. Sie treibt ihn zu einer irrwitzigen Reflexion über die Fotografie und das Fotografische hinaus, die er mit den Worten beschließt: „Die Schwierigkeit für Rezensenten einer Lichterscheinung ist unbedeutend angesichts der Ansicht, daß sie da ist.“

Pastiors Bildbetrachtung hätte ohne weiteres am Anfang einer bemerkenswerten, so unterhaltsamen wie unterrichtenden Ausstellung stehen können, die noch bis Mitte Februar im Fotomuseum Winterthur in ihrer letzten Station nach Paris und Chalon-sur-Saône zu besichtigen ist und von da an in dem herrlichen Katalog „Toute photographie fait énigme“ weiterleben wird. Ausstellung und Publikation wurden vom Doyen der französischen Fotografiegeschichte Michel Frizot gestaltet, der damit auch die Summa seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Medium präsentiert. Und diese überrascht. Denn nicht das Wohlgestaltete, künstlerisch Gesuchte und Geformte wird hier zur Anschauung gebracht, sondern das Abseitige, scheinbar Missratene und Kuriose der Fotografiegeschichte, die hier auf der Suche nach dem „Wesen des Fotografischen“ einen ganz eigenen, originellen Zugang und Kanon erfährt.

„Tout photographie fait énigme“, – dass jede Fotografie nicht nur ihr Geheimnis habe, wie in der englischen und deutschen Übersetzung des Ausstellungstitels unterstellt wird, sondern ihr Geheimnis selbst herstellt und hervorbringt, ist der Leitgedanke des Ausstellungsmachers. Frizot bietet dabei seinem Publikum elf Kategorien an, unter die er seine Sammlung ordnet. Die ältesten Fotografien stammen aus den 1860er-Jahren, die Jüngste aus dem Jahr 1991, allesamt also analog, meist von anonymen Fotografen produzierte, schwarz-weiße Bilder in Gelatin-Silver-Abzügen, die vor der digitalen Bilderflut entstanden sind. In diesem Kosmos leiten die Abteilungen von „Der Geist des Ortes“ über „Der Sehraum“ bis hin zu „Rätselhafte Anordnungen“, die in Winterthur aufgrund der beengten Verhältnisse bedauerlicher Weise keinen Platz mehr fand, vielleicht auch darum, weil ihre Exempel allzu eskapistisch anmutend, das seriöse Anliegen unterlaufen, wie die Hitler-Beelzebub-Collage von M.J. Kjelgaard oder ein Agenturfoto des vom Krebs gezeichneten Sigmund Freud, beide aus dem Jahr 1939.

Wo hätte man Pastiors „Mutter und Knabe mit Kugelblitz (1928)“ wiedergefunden? In der Abteilung „Außergewöhnliche Konfigurationen“, in der die Aufnahmen Effekte erzielen, die nur bedingt durch den Fotografen gesteuert werden, und, wie es im Katalog heißt, „formale Archetypen hervorbringen“? Elf Aufnahmen stehen dafür in der Ausstellung, siebzehn im Katalog. So erstarrt auf einem anonymen Pressefoto aus dem Jahr 1930 explodierender Staub und Geröll zu einer anmutigen Dolde, der platzende Schneeball auf einer Amateuraufnahme aus den 1930er-Jahren zur surrealen Defiguration. Oder der Betrachter kann die Gleisanlagen und Felder der Umgebung Mannheims in einer Luftaufnahme aus dem Jahr 1917 als abstraktes Bildmuster goutieren. Und das winterliche Foto „Warteschlange am Bus“, 1958, scheint von Kugelblitzen durchsiebt, die „in Wirklichkeit“ Reflektionen von Schneeflocken darstellen. Doch wo die „Schneeflocke“ zum „Kugelblitz“ kristallisiert, wohnt der Fotografie ein Eigenleben inne. Es entzieht sich ihrem Produzenten und entfaltet sich im Auge des Betrachters.

So nimmt es nicht für Wunder, dass sich das Geheimnis gerade dort sichtbar wiederfindet, wo die Fotografie wie in der Amateuraufnahme außer Kontrolle gerät oder professionell der Kontrollverlust mit ins Kalkül gezogen wird, wie die Sektionen „Die Option des Fotografen“ oder „Die ästhetische Entscheidung“ zeigen. Die Entscheidung, eines anonymen Agenturfotografen seine Kollegen dabei abzulichten, wie sie 1974 nach einer Demonstration Vietnamveteranen im Rollstuhl vor dem Washingtonmonument fotografieren – sie liegen allesamt am Boden –, sorgt nicht nur für Komik, sondern gibt vor allem auch Auskunft über die Gemachtheit der Bilder. Natürlich weist das anonyme Agenturfoto von der Börse in Paris 1936 mit seiner bewegten Masse auf Arbeiten von Andreas Gursky voraus, oder die kleinformatige anonyme Nachthimmelaufnahme „Nébuleuse du Cygne. NGC 6960 et 6992“ (1950) auf die monumentalen Sternenbilder eines Thomas Ruff. Doch der Betrachter ist in der Ausstellung ihren Ursprüngen näher. Die gezeigten Fotografien erscheinen noch ungesättigt von Geschichte und vital in ihrem Eigenleben. So tritt in einer Aufnahme Paul Guillaumes eine Holzmaske von der Elfenbeinküste durch das inszenierte Spiel von Licht und Schatten nicht nur aus ihrem schwarzen Hintergrund plastisch hervor, sondern die Fotografie scheint die Maske erst in ihrem dämonenhaften Wesen zu erwecken.

Diese magisch-animistische Seite der Fotografie begegnet dem Betrachter in der Ausstellung immer wieder, auch wenn ihr nicht eigens ein Kapitel gewidmet ist: Die Schatten der Fotografen im Bild etwa – der Künstler Peter Piller hatte ihnen in seinem Archiv seit Anfang der 2000er-Jahre eine eigene Rubrik „überschattete aufnahmen“ eingeräumt. Dazu kommen vor allem Spiegel-, Licht- und Leuchterscheinungen ungewisser oder zumindest irritierender Herkunft wie in einem Pressefoto Roger Pillards aus dem Jahr 1938, einem Blick in ein PKW-Inneres, bei dem die Umstehenden in den Scheibenfenstern zu Geistern gefrieren. Wundert es nach dieser Parade, dass sich das „Fotografische“, die Magie des Blicks gerade im menschlichen Antlitz wiederfindet? Die letzte Station der Ausstellung ist dann auch dem „Enigma der Beziehung“ gewidmet. Sie schließt Frizots anregende Schule des Sehens in Zeiten von Selfie und Digitalfotografie so wunderbar anachronistisch ab, wie sie begonnen hat.

IMG_2841Katalog: Michel Frizot, Tout photographie fait énigme. Every Photograph is an Enigma. Maison Européenne de la Photographie, Paris, 12.11.2014 – 25.1.2015, Musée Nicéphore Niépce, Charlon-sur-Saône, 14.2. – 17.5.2015, Fotomuseum Winterthur, 24.10.2015 – 14.2.2016, fr./engl. mit deutschem Beiheft, 224 Seiten, Hazan 2014.

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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