Der Künstler Rick Lowe strahlt übers ganze Gesicht. Er empfängt jeden Gast einzeln, „good to see you!“ Der charismatische Afroamerikaner, Jahrgang 1961, hat zur Eröffnung seines „Victoria Square Project“ geladen. Im Rahmen der documenta 14 hat er mit seinen Helfern ein helles Ladengeschäft in der Nähe des Archäologischen Nationalmuseums in einen Nachbarschaftstreff umgewandelt. An einer Maschine werden jetzt bunte Überzüge für Stofftiere aber auch Pistolen gestrickt, Stifte und Papier auf einem langen Tisch fordern unter dem Motto „Mein-Victoria-Platz“ den Besucher auf, der Phantasie freien Lauf zu lassen, und Karten an der Wand informieren über die sozio-kulturelle Struktur des Viertels, während draußen Kulinarisches fürs Leibliche Wohl sorgt. Der Kneipenwirt gegenüber hat sich mit Lowe längst angefreundet und versichert, dass das „Victoria Square Project“ eine prima Sache sei. Nicht erst seit der Platz vor zwei Jahren durch ein improvisiertes Flüchtlingscamp in die Schlagzeilen geriet, habe sich viel verändert. Die Solidarität der Anwohner war damals überwältigend. Aber der spekulative Leerstand, der Wegzug Alteingesessener, wilde Mietverhältnisse in Flüchtlingsunterkünften und die gleichzeitige Gentrifizierung hatten die Nachbarschaftsgemeinschaft schon vorher unterminiert. Heute bereiten Drogendealer und minderjährige Flüchtlinge, die sich prostituieren, Sorgen im Kiez. Da sei es gut, dass Alteingesessene und Zugezogene über Lows Initiative ins Gespräch kämen. Wie das konkret zustande kommt, soll sich nach einer Orientierungsphase zeigen. Lowe will seinen 100-Tageaufenthalt in jedem Fall verlängern.
Der Künstler wurde durch sein „Project Row House“ bekannt, das er 1993 in Huston ins Leben rief, eine Nachbarschaftsinitiative, die mit künstlerischen Mitteln Reihenhäuser vor dem Verfall rettete und neu bewirtschaftete. „Art is a social culpture,“ so sein bei Joseph Beuys entlehntes Credo. Rick Lowes Arbeit ist angreifbar. Die einen werden dagegen ins Feld führen, Kunst könne keine Sozialarbeit ersetzen; die anderen werden sagen, soziales Engagement dürfe nicht mit Kunst verwechselt werden. Was als Einwand schwerer wiegt, das Motto der documenta 14, „Von Athen lernen“, wird hier umgekehrt. Im Sinn ihres künstlerischen Leiters Adam Szymczyks fordert es von den Teilnehmern, den Künstlern wie Besuchern gleichermaßen, Teilhabe, sprich Partizipation an den verschärften Lebensverhältnissen von der Schulden- bis zur Flüchtlingskrise der 3,5-Millionenstadt Athen. Damit dies möglich sei, so Szymczyks Überlegung, bedarf es einer fundamentalen Epoché, einer Urteilsenthaltung und vorurteilsfreien Wahrnehmung. Soweit die Theorie. Die Praxis am Victoria-Platz spricht eine andere Sprache. Nach Auskunft von Lowe sollen die Kiez-Bewohner mit dem Projekt lernen, was ihnen abhanden kam, ihre Kommunikationsfähigkeit. Sieht man genauer hin, haben sie dies aber nicht nötig. Allein im benachbarten Szene- und Studentenviertel Exarchia dementieren duzende von Stadtteilinitiativen diesen Eindruck und so setzt sich die documenta 14 einem Vorwurf aus, dem sie sich rhetorisch vielstimmig entronnen glaubte, der des Kulturkolonialismus.
Dieser Verdacht geht nicht allein an Lowe. Da wären zum Beispiel der Pakistaner Rasheed Araeen oder die Kroatin Sanja Iveković, die wie Lowe in den Problemvierteln der Innenstadt nördöstlich des Omonia-Platzes ihre Zelte aufgeschlagen haben. Bei dem in London lebenden Rasheed Araeen, Jahrgang 1935, ist das wörtlich genommen. Auf dem einst trubeligen, heute verwaisten Kotzia-Platz aktiviert er mit „Shamiyaana – Food for Thought: Thought for Change“ (2016–2017) das Kochen und Essen als gemeinschaftsstiftende Idee. Zu festen Zeiten für eineinhalb Stunden um ein und drei Uhr mittags werden hier an Tisch unter einem großen bunten Zelt Mahlzeiten ausgegeben. Bedürftige Anwohner und documenta-Besucher sollen sich solchermaßen gelockt und von eifrigen Hostessen bedient und angeleitet der kapitalistischen Tauschökonomie enthoben über ihre Zukunftspläne und –ängste unterhalten. Ein wohlfeiles Konzept, das an Veranstaltungen zwischen Schulspeisung und Heilsarmee erinnert, aber für die Teilnehmer leider unverbindlich und folgenlos bleibt. Nachdem das Essen vorüber ist, liegt die Zelt-Installation so öde brach wie ihre Umgebung.
Das gilt auch für die Installation der Künstlerin und Aktivistin Sanja Iveković, 1949 in Zagreb geboren. Sie ließ ein Ziegelsteinsockel errichten, der dem des 1935 in Berlin zerstörten Luxemburg-Liebknecht-Denkmals Ludwig Mies van der Rohes entspricht. Ist das ein Podest, eine Plattform, eine Bühne? Für wen oder was? „Das Denkmal wird zu einem Vorwand für neue Formen des politischen Handelns, basierend auf der Treue zu historischen Kämpfen und gleichzeitig der Zukunft eine Bühne bietend. In einer Zeit, in der Faschismus, neoliberal-kapitalistischer Imperialismus und finanzielle Kriegsführung immer mehr an Terrain gewinnen ist Sanja Ivekovićs Monument to Revolution mahnende Erinnerung an die Vergangenheit, kontroverses Objekt und dinghafte Anrufung zugleich,“ heißt es dazu vollmundig im Katalog. Dabei vergisst die Autorin und ihre Künstlerin, dass ihr Steinklotz an einem der widersprüchlichsten Orte der Stadt gebaut ist: dem Avdi-Platz. Mit zwei Cafés ist er Treffpunkt der örtlichen Schwulen- und Lesbenszene. Doch während er nach Westen an schicke neue Wohngebäude grenzt, befindet sich in den halb verfallen Straßenzügen nach Osten hin eines der düstersten Bordellviertel Europas. An den Eröffnungstagen ließ sich eine Schaar documenta-Besucher auf dem Denkmalsockel nieder und lauschte den aufgezeichneten Reden feministischer Aktivistinnen, die die Künstlerin über Lautsprecher aus über den Platz schallten ließ. Die Zuhörer dürften allerdings von der heimlichen unheimlichen Nachbarschaft ebenso wenig mitbekommen haben, wie die Sex-Arbeiterinnen von der wohlmeinenden Botschaft einer weiblichen Solidargemeinschaft, die über die Denkmalsgeschichte aktiviert werden sollte.
Mit annähernd dreißig Live-Acts an unterschiedlichen Veranstaltungsorten in der ganzen Stadt wurde zu den Eröffnungstagen der Stellenwert von Performances und Aktionen deutlich – viele werden bis zum Ende der Athener documenta zu sehen sein, was die Veranstalter vor einige Herausforderungen stellt. Bereits bei der Eröffnung im Megaron Theater unterstrich ein vielstimmiger Chor aus Mitarbeitern der documenta mit einer aleatorischen Glossolalie das Versprechen einer demokratischen Gegenöffentlichkeit, das dem Performativen und Partizipativen innewohnt.
Doch löst sich das nicht automatisch ein. Immerhin geriet der kritische Besucher durch sie an Orte, die er sonst nie besucht hätte. Wer kennt schon das Archäologische Museum von Piräus? Zur Eröffnung lockten unter dem Titel „Collective Exhibition for a single Body“ Tänzer in die Museumsräume und boten von dem Griechen Kostas Tsioukas Choreografien à la Sasha Walz & Guests. Zwar hatten die Tanzdarbietungen mit dem Haus wenig zu tun, aber man bekam im Obergeschoss vier überlebensgroße 2.500 Jahre alte Bronzestatuen, eine Athene, zwei Artemisien und einen Kouros-Apollon in atemberaubender Schönheit zu sehen. Der Besucher war den Veranstaltern dankbar, vom Trott der Karawanen abgewichen zu sein.
Ähnliches gilt für die beiden allerdings ungleich stärkeren Arbeiten, die in der neoklassizistischen Gennadius Library unter dem Hausberg Athens, dem Lykabettus, gezeigt werden, einerseits Ross Birrells Video „A Beautiful Living Thing“ (2015), das die ausgebrannte Bibliothek der Glasgow School of Arts dokumentiert und künstlerische Überhöhung und Anteilnahme über einen Violinisten im verkohlten Gemäuer herstellt. Andererseits die Faksimiles, Schriftbahnen und Fotos der Arbeit „Learning from Timbuktu“ eines Künstlerkollektivs, das die beschädigten und angekokelten Schätze der Bibliotheken der westafrikanischen Wüstenstadt wiederspiegelt. Angesichts solcher Zerstörung und der Tatsache, dass Temporalität und Vergänglichkeit eh längst im Repertoire zeitgenössischer Kunst angekommen ist, macht sich der Hinweis, die beeindruckenden Masken des inzwischen verstorbenen indigenen Künstlers Beau Dick (1955-2017) würden noch während der documenta 14 nach Kanada, ihrem Ursprungsland, zurückgebracht, um dort rituell verbrannt zu werden, als performativer Ethnokitsch aus, der auf Breitenwirkung zielt.
Davon gab es am Ende doch sehr viel. Emegh Ogbos mehrstimmiger Chor zum Lichtflackern ausgewählter Aktienkurse im Rohbau des Theaters des Konservatoriums gehört noch zu den starken Arbeiten oder die dem Blick vollkommen entzogene Tanz-Performance „Géographie-Athéns“ im Innern von expressiv zusammengestellten Ausstellungswänden im Nationalmuseum für Zeitgenössische Kunst, EMST, durch eine Truppe um die Griechin Stella Dimitrakopoulou. Aber schon die von Ross Birrell angeregte Pony-Tour von vier Reitern über die Balkanroute nach Kassel bedient einen viral gesteuerten Eventcharakter, der die politische Intention – die Flüchtlingsproblematik und das zerrüttete Europa im Bewusstsein zu halten – zu konterkarieren droht. Für ein paar Stunden bedeckte die Arbeit „Check Point Prosfygika. 1934–2034. 2016–2017“ des Ghanaers Ibrahim Mahama ein Stück des Syntagma-Platz vor dem Parlament. „Mitarbeiter“, laut Katalog „Landflüchtige aus anderen Ländern“, vernähten die gebrauchten Jute-Säcke, die bei der letzten Venedig Biennale eine lange düster mahnende Passage überzogen. In Athen genügte offensichtlich eine ephemere Geste und der Besucher mochte darüber spekulieren, ob und wie Mahama in Kassel noch einen Auftritt hat.
Warben auf der Kasseler documenta schon veritable Schweine für die Kunst, erweitern jetzt bei Aboubakar Fofana blau gefärbte Schafe das Bewusstsein der Besucher, ebenso wie die Gesänge und Musikdarbietungen in dem schamanischen Lagerplatz des Norwegers Joar Nango. Und „du must dein Leben dringend ändern“ lautet das unausgesprochene Motto auch bei der griechischen Performerinnen Georgia Sagri, die ihre Workshop-Teilnehmerinnen im Kasernenton kommandiert. Bemüht nehmen sich auch die Musik-Möbel von Nevin Aladağ aus, die auch dadurch nicht interessanter werden, wenn sie von einer Hand voll Nerds gespielt werden. Und ähnlich oberflächlich gibt sich Daniel Knorrs Müllbuch-Presse „Βιβλίο Καλλιτέχνη“ (2017) im Hof des Konservatoriums, eine angestrengte Politallegorie, die sich zwischen Dieter Roths und Mike Bouchets künstlerischen Interventionen zum Thema Müll aufhält. Knorr holt diese Benchmarks leider nicht ein.
Dass Kunst dem Künstler wie dem Publikum neben sinnlicher Energie auch Arbeit und reflexive Kraft abverlangen kann, zeigt zum Beispiel Maria Eichhorn, im Nationalen Museum für Zeitgenössische Kunst. Es wurde aus Geldmangel bis heute nicht eröffnet. Analog dazu entzog Eichhorn ein Athener Haus dem spekulativen Kreislauf und dokumentierte den Vorgang in „Building as unowned property“ (2017).
In diesem heterogenen Umfeld mutete das Künstlerpaar Wolfgang Prinz und Michel Gholam mit seinen Reenactemts angenehm deplaziert und charmant an. Sie arbeiten seit 2001 zusammen und gestalten in „edler Einfalt und stiller Größe“ Tableaux Vivants nach klassischen Antiken. Das machen sie meist im Kunstkontext, in Museen oder Galerien. Wenn sie nun in den Ruinen der antiken Agora oder zwischen den erhaltenen Säulen des Zeus-Tempels auftreten, scheint ihr Bewegungsrepertoire an seinem referentiellen Ursprungsort, das klassisch antike Athen anzukommen. Zwischen irritierten Touristen und aufmerksamen Zuschauern stehen, liegen, posieren sie im Staub, eine Skurrile narzisstische Geste künstlerischer Selbstermächtigung. Das erfreut. Doch es erinnert im Kontext der Großveranstaltung auch daran, wie prätentiös, staubtrocken und humorlos die Athener documenta-Veranstaltung daherkommt.
Zuerst im Print und Online bei Kunstforum international Band 246, Mai-Juni 2017