Im Kunstmuseum Bern wird seit Anfang letzter Woche neben der Bundeskunsthalle in Bonn der unverdächtige Teil der Sammlung Gurlitt gezeigt – der Sprengsatz Beutekunst ist damit noch lange nicht entschärft.
Mit großen Augen guckt der Maler unter seinem Strohhut hervor. Scheu, fast verängstigt blickt er aus dem verschatteten Gesicht an seinem Betrachter vorbei. Der Künstler, es ist der Maler Lovis Corinth, inszeniert sich mit dem Ölbild aus schnell hingeworgenen, groben Pinselstrichen in der Sommerfrische am See mit Tanne und Bergen im Hintergrund, als wollte er bedeuten: „Seht her, Ich bin eigentlich nicht da!“ Das 70 x 85 cm große Bild entstand nach einem Schlaganfall Corinths 1923 zwei Jahre vor seinem Tod. Nun ist es wie verirrt und doch passgenau im Mittelpunkt der mit Spannung erwarteten Ausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt. `Entartete Kunst –Beschlagnahmt und verkauft“ im schweizerischen Kunstmuseum Bern gelandet.
Obwohl es nicht zu den über 1.500 Kunstwerken aus dem Nachlass des Sonderlings und Sohn eines NS-Kunstverwerters mit „Flair“ für Zeitgenössisches gehört, scheint es in der Ausstellung wie ein guter Geist die bösen bannen zu wollen. Man war in Bern in ein Dilemma der Memorialkultur geraten: So kritisch und aufgeklärt man sich von Museumsseite gäbe, würde mit der Ausstellung der Name Gurlitt weiter erinnert und gehypt. Die Menschen, an denen man sich bereicherte, die abertausende Ermordeten bleiben dagegen namenlos und vergessen. Hätte man das gurlittsche Vermächtnis ausschlagen müssen? Der Widerstand einer kritischen Öffentlichkeit gegen die Flick-Collection 2001 in Zürich war so stark, dass der Flick-Erbe Friedrich-Christian seine Museumspläne in der Stadt aufgeben musste, während ihm Berlin drei Jahre später die Türen im Hamburger Bahnhof Museum für Gegenwart weit öffnete,
Am 6. Mai 2014 verstarb Cornelius Gurlitt und setzte die Kunstmuseum Bern als Alleinerben ein. Vier Jahre zuvor war er den Bayerischen Zollbehörden bei einer Routinekontrolle im Zug zwischen Zürich und München ins Visier geraten. Seine Kunstsammlung im Münchner Appartement mit Schwerpunkt modernistischer Kunst der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts aus dem Erbe seines Vaters fiel auf. Das Magazin Fokus bekam Wind und skandalisierte den „Schwabinger Kunstfund“, dessen Wert gleich hinter dem Nibelungenhort zu taxieren wäre. Doch der Verdacht, dass hier vor allem Raubkunst zu finden war, also Kunst, die ihre Besitzer unter Druck der Verfolgung veräußern oder zurücklassen mussten, erhärtete sich nicht, obwohl der Vater Hildebrand Gurlitt zu den wichtigsten Kunstbeschaffern des NS-Regimes zählte. Nur bei vier Werken konnte der Raubkunstverdacht bestätigt werden – weitere, deren Besitzerfiliation bis heute nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte sind, nun in Bonn zu sehen (siehe Freitag xx/2017).
Bern hatte sich skrupulös wie die Berner sind, von der Bundesrepublik ausbedungen, sich nur jener Kunstwerke anzunehmen, die eine unbedenkliche Provenienz aufwiesen, also lückenlos frei vom Raub- oder Beutekunstverdacht sind. Das kann so aussehen: Bei Corinths „Selbstportrait“ sieht das so aus: Es kam noch im Jahr seiner Entstehung über den Berliner Kunsthandel mit der Inventarnummer A II 409 in Besitz der Nationalgalerie im Kronprinzenpalais unter den Linden. 1937 flog es dort raus. Corinth galt mit seinem deftigen Postimpressionismus als „Entartete Kunst“. Unter der Nummer 12087 landete das Sommerfrischebild neben vielen anderen als „international verwertbares“ Kunstwerk im Depot Schloss Schönhausen. Sonst hätte man es verbrannt. So kam es mit der Losnummer 19 durch die legendäre Auktion „Gemälde und Plastiken moderner Meister aus deutschen Museen“ der Luzerner Galerie Fischer am 30. Juni 1939 an das Kunstmuseum Bern – natürlich zum Schnäppchenpreis.
Freilich kann der Museumsbesucher heute froh sein, dass die peinlich raunende Legitimationsrhetorik der Nachkriegsjahre, so sei die Moderne gerettet worden, verklungen ist. Die Alternative dazu zeigt sich in Bern in einer Zweiteilung des Ausstellungsdisplays das Aufklärung und Unterhaltung, Ethik und Ästhetik, Schwarz und Weiss ostentativ trennt, auch wenn sie in einem großen Souterrainsaal vereint gezeigt werden. In 9 Abteilungen mit schwarzen Stellwänden wird die NS-Kunstpolitik und die Karriere Hildebrand Gurlitts und der Erwerb und Stellenwert seiner Sammlung nachgezeichnet, während in kunsthistorisch abgesicherten Kapiteln auf weißen Wänden der schönste Teil der nach Bern übernommenen Arbeiten gezeigt wird, vorwiegend Grafiken, nur vier Gemälde, überwiegend von hoher Qualität, die üblichen Verdächtigen, Mark, Macke, Kirchner, Heckel, Dix. Es gibt, wie zu erwarten keine Überraschungen. Aber unter den Werkangaben jedes Bildes findet sich die Liste seiner Vorbesitzer. Und das ist Fortschritt. Denn nicht nur Bern, sondern jedes Museum mit Werken aus der Moderne vor 1945 wird sich dieser Recherche-und Restitutionsarbeit stellen müssen – allen voran das Zürcher Kunsthaus, das mit der Eröffnung seines Neubaus die mit dem Flackkanonenkapital finanzierte modernistische Kunstsammlung des Mäzens Emil Bührle zeigen will oder das Humboldt-Forum in Berlin, das kolonial akquiriertes Kulturgut – mit unklarer, sicher oft blutiger Vergangenheit – aus den Depots holen möchte. Die Diskussion drüber hat erst begonnen.
Zuerst veröffentlicht in redaktionell überarbeiteter Fassung am 9. November 2017 in der Printausgabe Der Freitag.