Die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel zeigt den Maler Balthazar Klossowski, bekannt unter dem Künstlernamen Balthus in einer groß angelegten Retrospektive und beweist neben ihrem Sinn für große Kunst wieder einmal das Gespür für Blockbuster und Kommerz
Im Vorfeld seiner Retrospektive 1968 in der Londoner Tate Gallery ließ der Maler Balthus aka Balthazar Klossowski de Rola in einem Telegramm wissen: „Keine biografischen Details. Beginnen Sie mit: Balthus ist ein Maler von dem nichts bekannt ist. Wenden wir uns nun seinen Gemälden zu. Hochachtungsvoll, B.“ Wider alle Vorbehalte, lohnt ein genauerer Blick: Der polnisch-deutsch-jüdische Künstleraristokrat Balthazar Klossowski mit französischer und schweizerischer Staatsbürgerschaft lebt von 1908 bis 2001. Rainer Maria Rilke, der Liebhaber der Mutter, verlieh ihm den Künstlernamen, er sich selbst den Adelstitel „de Rola“. Er bewegt sich als Spätgeborener Maler der klassischen Moderne eigensinnig zwischen neuer Sachlichkeit und Surrealismus und präsentiert tonige Farbskalen, düstere
Szenografien und pubertierende Mädchen als Alleinstellungsmerkmale. Das machte Skandal. Dennoch oder gerade darum blieb er, befreundet mit Federico Fellini oder Alberto Giacometti, Liebling des Establishments und empfing bis ins hohe Alter Showbiz-Größen. Die Vermarktungsmaschine lief auch nach seinem Tod rund, wozu zählt, dass der kalkulierte Skandal zu besseren Verkaufszahlen führt. Balthus wird vom Markführer, der New Yorker Gagosian Gallery, vertreten. In deren Portfolio passt nun, dass die Fondation Beyeler bis Ende des Jahres zu einer neuerlichen „Balthus“ Bestandsaufnahme lädt, die anschließend bis Ende Mai ins Madrider Museo Nacional Thyssen-Bornemisza wandert.
Doch Balthus lässt sich noch von einer anderen Seite betrachten. Zum Beispiel von dieser: Das Bernische Historische Museum zeigt eine der originellsten doch wenig bekannten Kunstschätze der Schweiz: 125 von ehemals 140 gleich großer Trachtenbildnisse in Öl, meist Doppelportraits, die der Aarauer Seidenfabrikant, liberale Politiker und Philanthrop Johann Rudolf Meyer 1789 bei dem Luzerner Portraitmaler Josef Reinhard in Auftrag gegeben hatte.
Sie müssen schon zur Zeit ihrer Entstehung merkwürdig gewirkt haben, ging es dem Künstler offenbar mehr um die charakteristische Physiognomik der Dargestellten, als um die landestypischen Trachten. Wie sonst ist zu erklären, dass ihre oft grob gezeichneten Gesichter wie Karikaturen viel zu groß für die schmächtigen Körper erscheinen?
Mindestens vier davon kopiert der vierundzwanzigjährige Balthazar Klossowski im Sommer 1932, nachdem er fünfzehn Monate Militärdienst in der französischen Armee in Marokko absolviert hat.
Der junge Autodidakt hatte zuvor in Italien die Meister der Frührenaissance Masaccio und Pietro della Francesca kopiert. Hier findet er Gleichmaß, klassizistische Statuarik. Doch Klassizismus liefert Anfang der 1930er-Jahre kein Alleinstellungsmerkmal. Das besorgt ihm nun die spezielle Physiognomik des Schweizer Sonderlings. Ihr bleibt er bis zum Lebensende treu. Und Balthus steigt damit bereits nach seiner ersten Ausstellung 1934 in der angesagten Pariser Galerie Pierre zum gefragten Portraitisten der französischen Gesellschaft auf. In Basel wird das mit dem ganzfigurigen Ölbild Portrait de femme (Madame Hilaire) 1935 wunderbar dokumentiert: Der viel zu große, puppenhaft wirkende Kopf der skeptisch dreiblickenden Dame, ihre blasierte Haltung das blaue Brokatabendkleid, der Kontrast zwischen leer Wand rechts und möblierter Bildhälfte links, all das produziert eine schwer erträgliche Spannung und zieht den Betrachter noch heute in Bann.
Und ein Zweites fällt auf: Balthus ist ein Frühreifer, ein Destillierer, bei dem bereits in der ersten Ausstellung alles zu sehen ist, was sich über ein langes Künstlerleben hinweg in Variationen und Arabesken entwickeln wird: das deviante Portrait, die puppenhaften Figuren, die kühlen Interieurs und klaustrophoben Szenografien. Basel kann vier der sieben damals gezeigten Bilder präsentieren. Darunter das monumentale 195x240cm große Ölbild La Rue (Die Strasse, 1933), das heute durch Schenkung dem New Yorker Museum of Modern Art gehört. Nun kann es mit dem noch größeren, zwanzig Jahre später entstandenen Bild Passage du Commerce-Saint-André (1952-54), eine dauerhafte private Leihgabe an die Fondation Beyeler, direkt auf Gemeinsames und Abweichendes hin verglichen werden.
In beiden Gemälden entfaltet sich ein rätselhaftes Bühnenleben, eine somnambule Parallelwelt, kühl, statuarisch, wie eingefroren und der Betrachter ist natürlich versucht die Figuren aus dem Jahr 1933 – zwei Frauen in Rückenansicht rechts, davon eine Haushälterin mit kleinwüchsigem Mann im Arm, den Studenten, den Handwerker, den Koch, das spielende Mädchen und die junge Frau, die sich des jungen Mannes erwehrt, der ihr von hinten zu nahe kommt – auf die Figuren der 1950er-Jahre zu übertragen, um die Bilder zu entschlüsseln. In beiden sind es genau neun. Nachdenklich blickt ein Mädchen mit blauem Rock und gelbem Pullover aus dem jüngeren Bild. Ist sie ein Reflex auf die angedeutete Gewaltszene im älteren Bild, das spielende Kleinkind ein Echo auf das spielende Mädchen, der sitzende Alte ein ironisches Selbstportrait, während der selbstbewusste Student im Bildzentrum zum Schreitenden mit Baguette oder Architektenrolle mutierte? All diese Narrative liegen im Auge des Betrachters, dem freilich, wie in der Moderne zu erwarten, kein eindeutiger ikonografischer Schlüssel hingelegt wird. „La Rue hat nichts Komisches (…) sondern auf ihr lastet ein bedrohliches Geheimnis“, schreibt Balthus an seine Angebetete und spätere Frau, die Schweizer Offizierstochter Antoinette de Watteville, freilich ohne ihr dieses zu enthüllen, denn auch hier gilt das Credo Marshall McLuhans: „The medium ist the message“. Und tatsächlich streicht sich jede Zuschreibung und Deutung recht schnell durch und wie bei einem alten Meister bleibt der Betrachter bei Farbnuancen, Kontrasten und Stufungen des tonigen Kolorits hängen und da ist Balthus ein Kolorist der Sonderklasse.
Die Ausstellung in Basel zeigt das mit einer repräsentativen Auswahl von 45 der nur knapp 350 Gemälde, die der Künstler bis zum Tod mit 93 Jahren geschaffenen hatte. Und selbstverständlich waren, kalkulierter Skandal als sicherer Pluspunkt in der allgemeinen Aufmerksamkeitsökonomie, nackte Mädchenbrüste in der ersten Ausstellung 1934 zu sehen. Basel kann von den zwei Skandalbildern La Toilette de Cathy (1933) zeigen, womit der Künstler auf Emily Brontës Roman Wuthering Heights anspielt und somit verschiedene Lesarten anbietet, die das sichtbar nackte Fleisch im Erzählerischen neutralisieren. Der Künstler als Roman-Protagonist Heathcliff ringt mit Eifersucht und Liebessehnsucht auf seinem Stühlchen, während sich die Begehrte von einer alten Kupplerin die Haare kämmen lässt und sich nackt mit spitzen Brüsten als Barockherrscherin inszeniert.
Das Bild, 1977 vom Pariser Centre Pompidou angekauft, wirkt heute angesichts der Bilderflut von ausgestellter Nacktheit im Internet zunächst harmlos, beim zweiten Besehen aber wirkt Cathys Körper durch die Überlängtheit der Gliedmaßen, die Figurinen-artige Haltung und die unbehaarte Vulva auch wieder herausfordernd, provozierend.
Das zweite Bild des kalkulierten Skandals verbarg der Galerist hinter einem Vorhang. La Leçon de guitare (1934) sollte nicht jedem zugänglich sein. Es befindet sich heute in einer Privatsammlung. In der Ikonografie einer klassischen Pieta, liegt ein Mädchen mit entblößtem Unterleib ohnmächtig auf dem Schoß einer Frau. Während ihre Rechte den Kopf des Kindes nach unten zieht greift ihre linke den linken Oberschenkel kurz unter der Scham, während das Kind, eine Gitarre auf dem Dielenboden, mit letzter Kraft eine Brust entblößt. Das Spiel von erotischem Sujet mit christlicher Ikonologie überwölbt die Raffinesse von Kolorit und Inkarnat. Wohl darum hat man es in Basel wie La Chambre (1952-1954) nicht angefragt, genauso wenig wie die Polaroidfotos, die der Künstler über Jahre von der Tochter seines Hausarztes als Ersatz für Skizzen gemacht hatte.
Als man sie 2014 in Essen zeigen wollte, zog man die Ausstellung, die Affäre um den SPD-Mann Edathy war im Rollen, nach Protesten, hier werde der Pädophilie Tür und Tor geöffnet, zurück. Solche Debatten möchte man in der Schweiz nicht haben. Dafür bricht die Fondation Beyeler mit Thérèse (1938) und Thérèse revant (1938) für Balthus und die Kunst eine Lanze, indem hier zwei kürzlich inkriminierte Bilder zu sehen sind, deren Entfernung aus dem Metropolitain Museum of Art gefordert wurde. Sicher, durch ihre subtile Blick-Politik stehen sie weit entfernt von pädophiler Anwandlung und Pornografie. Eine Provokation und Herausforderung an unsere Sehgewohnheiten stellen sie bis heute dar. Diese Möglichkeit sollte man sich durch nichts und niemanden nehmen lassen.
Balthus Fondation Beyeler Basel, bis 1. Januar 2019. Der Text erschien unter dem Titel „Vorher-nachher-Bilder“ redaktionell überarbeitet im Berliner Freitag im Print am 15.11.2018