Max Glauner
KARTOGRAFIEN. Der Schreiber-Sammler-Künstler Georges Adéagbo legt in der Galerie Barbara Wien seine Findungen aus
Der pralle Bauch aus Holz wölbt sich dem Betrachter entgegen, als wollte er den Schaukasten, in dem er neben anderen Fundstücken, Büchern, Broschüren, Fotos, Notizzetteln, zu sehen ist, im nächsten Augenblick zum Platzen bringen. Der antike Torso aus Westafrika, ist Teil der überbordend über Wand und Boden verteilten Mixed-Media-Installation „L’Abécédaire de Geoges Adéagbo: la civilisation parlant et faisant voir la cultur“, übersetzt, „Das A-B-C des Künstlers Adéagbo: Die Zivilisation spricht und zeigt die Kultur“.
Bevor sich die Besucherin, der Besucher sich über den Spruch Gedanken macht, fällt ihr respektive ihm auf, dass nicht nur der Titel der Ausstellung in der Galerie Wien am Landwehrkanal so lautet, sondern jede der elf aus Fundstücken und kollaborativen Auftragsarbeiten wuchernden Installationen, allesamt in diesem Jahr entstanden, unter diesem Slogan firmieren. Das hat Prinzip. Denn nichts stellt sich bei Adéagbo über oder vor das Andere – alles ist gleich-gültig. Das provoziert, fällt aus dem Rahmen. Die Auslage auf dem Boden zum Beispiel: Sie ist Gebetsteppich und Bodenschoner zugleich, umgeben und bedeckt von Büchern, Fetischfiguren und Zeitungsausrissen, die dem Besucher einen großzügigen Bedeutungshof öffnen, der zu Vitrinen und weiter zu Wandobjekt zu Wandobjekt führt, Schallplattenhüllen, naiven Bildtafeln, afrikanischen Skulpturen, Magazinbildern und vielem mehr. Der Betrachter wandert, liest, um sich schließlich in den ausgelegten Fallstricken von High-and-Low, Hochkultur und Mainstream und des post-kolonialen Hier-und-Da des mittlerweile achtundsiebzig-jährigen Künstlers aus Benin zu verheddern.
Damit diese fröhlich wuchernden Assemblagen nun in Barbara Wiens Galerie zu bewundern sind, bedurfte es einiges Glück. Denn Adéagbo versteht sich bis heute nicht als Künstler und passt nicht in den Kunst-Betrieb. Dahin hat ihn der Zufall getrieben. Er wurde 1942 im damaligen Dahomey in der bedeutenden westafrikanischen Hafenstadt Cotonou geboren, wo er bis heute im elterlichen Gehöft am Rande der Stadt ein Atelier unterhält. Der Älteste der Familie entronn den häuslichen Zwängen mit einem Jurastudium in die benachbarte Elfenbeinküste und Frankreich, musste aber nach dem Tod des Vaters dessen Stelle einnehmen, was er verweigerte und mit Isolation und Zwangseinweisung in die Psychiatrie bezahlen musste. Die Zeit vertrieb er sich derweil mit Schreiben und Sammeln, wobei er in den Tätigkeiten keinen grossen Unterschied machte. Beides, Geschichten und Gegenstände, die ihm der Zufall auf der Straße oder Flohmärkten zutrieb, legte er zu breiten Mind-Maps aus, in denen sich Erzählungen mal verdichten, mal auseinanderbewegen konnten. Erst nach zwanzig Jahren Einsamkeit entdeckte ihn ein französischer Kurator 1993 in der ehemals französischen Kolonie. 2006 wurde Adéagbo zu einem der herausragenden Stars der documenta 11 von Okwui Enwezor.
Nun ist diese Ausnahmepersönlichkeit in zweites Mal bei Barbara Wien präsent. Doch nicht als Master of Ceremony, wie man vermuten könnte, sondern als Princeps inter pares einer multiplen Autorenschaft, zu der die Galeristin ebenso gehört wie der Hamburger Freund und Kurator Stephan Köhler oder der malende Kollege, der die naiven Text-Bild-Tafeln beigesteuert hat. Das ist unbedingt sehenswert, zumal es eine feinsinnige Antithese zur vermessenen Herrschaftsarchitektur der Kreuz-und-Adler-bewehrten Stadtschloss-Idiotie des Humboldt-Forums herstellt, von dem man wider besseres Wissens glaubt, gerade solche diskreten Zivilisationsgaben angemessen präsentieren zu können.
Zuerst erschienen in zitty Berlin, Nr. 06, 2020