
Um 1874 etabliert sich in der Schweiz ein nationaler Wahlspruch, der für die religiös-kulturellen und sozialpolitischen Spannungen des jungen Bundesstaates den nötigen Kit beisteuerte, „Einer für alle. Alle für einen.“ Damit er auch in den romanisch-sprachigen Kantonen funktionierte, ist er auf Flugblättern, Publikationen, Festdekorationen und auch in der verglasten Kuppel des Berner Bundeshauses auf Latein zu lesen: „Unus pro omnibus, omnes pro uno.“
Im Widerspruch zur egalitären Devise etablierte sich als deren sichtbarer Niederschlag die Geschichte des Arnold Winkelried. Der Legende nach soll er 1386 in der Schlacht von Sempach gegen die Habsburger Herzöge die entscheidende Wende herbeigeführt haben, indem er sich mit dem Ruf, „ich will euch eine Gasse machen“ in die gegnerischen Lanzen warf. Der rhetorisch-performative Bogen schliesst sich mit dem Apell an das überlebende Gemeinwesen: „Sorget für mein Weib und Kinder.“

Devisen und ihre mediale Ausschmückung haben sich heute aus den nationalen Repräsentationsformen weitgehend verflüchtigt. Winkelried und Wilhelm Tell als nationale Gründungsmythen eignen sich, wenn überhaupt, nur noch für die Fremdenverkehrswerbung. Wahlsprüche kehren als Mission Statements in der Ökonomie wieder.
Nun lebe ich seit seit zwölf Jahren in der Schweiz. In dieser Position mittendrin als Schwabe jedoch auch immer von aussen die Schweizer, wie früher die Berliner zu sehen, lässt, um das Leben hier zu begreifen, häufiger fragen, nach welcher klandestinen Devise das Gemeinwesen in Zürich, Luzern, Basel, St. Gallen, Altdorf, Genf so funktioniert. Durch einen Zufall bin ich auf einen Imperativ aus dem Berndeutsch gestossen, der, obwohl ausserhalb Berns kaum gebräuchlich, mir den Kern der Schweizer Charaktereigenschaften und Haltungen zur Welt blitzlichtartig zu erhellen scheint. Er lautet: Nume nid g’sprängt!
In meinem schwäbischen Dialekt übersetzt hiesse es, „No ed hudl’e“, im Hochdeutschen, „Nur mit der Ruhe!“, „Mach mal langsam!“, Neudeutsch „keep cool!“ Damit öffnet sich ein dissonanter Echoraum, in den hineinzuhören sich lohnt, denn keine der dialektalen Wendungen vermag die Valenzen des anderen abzubilden oder gar einzuholen. Das Berndeutsche „Nume ned g’schprängt!“ erweist sich als besonders reich.

Ich vermute, dass es wie die Redewendung „etwas von der Pike auf lernen“, aus dem Kontext militärischer Neuorganisation des 14. und 15. Jahrhundert stammt, in der die Schweizer innovativ eine hocheffiziente Wunderwaffe entwickelten, den Gewalthaufen. Er war bis ins frühe 18. Jahrhundert auf allen Schlachtfeldern Europas derart überlegen, dass er mit seinen disziplinierten Soldaten, den Reisläufern, zum eidgenössischen Exportschlager wurde, der – win win Situation – fremden Fürsten eine schlagkräftige Truppe besorgte, den alpinen Bauerssöhnen, die den Hof nicht erbten, ein Auskommen verschaffte und ihren Vermittlern in den Hauptorten, als Kriegsgewinnlern ein Vermögen.
Der Ruf des Schweizer Reisläuferverbands als zuverlässige Militäreinheit reicht bis in die Moderne. Noch 1792 verteidigten Schweizersoldaten das Tuilerienschloss gegen das revolutionäre Paris. Thorwaldsens sterbender Löwe am Luzerner Gletschergarten memoriert. In der Schlacht an der Beresina 1812 deckten 1300 Schweizer im Korps Michel Ney verlustreich den Rückzug der napoleonischen Grande Armée (1). Und als das älteste noch existierende Militärcorps der Welt bewacht das Pontificia Cohors Helvetica mit Morion und Hellebarde bewehrt seit 1506 bis heute Papst und Vatikan.
Was hat das mit dem „Nume nid g’sprängt“ zu tun? Im 14. Jahrhundert beginnt in Europa eine dramatische Veränderung des Kriegswesens, die zum Ende des 15. Jahrhunderts in den Grundzügen abgeschlossen ist. Ihr Motor, die Schweiz, die bestimmende Handlungsanweisung jenes „Nume nid“, das bis heute in allen Bereichen der Schweizer Kultur, vom privaten Umgang, der Ökonomie, bis zur Politik den Takt vorgibt.

Versetzen wir uns ins Jahr 1476. In diesem Jahr bescherte das Eidgenössische Heer unter Berner Führung in zwei Schlachten, Grandson und Murten, einem als militärisch weit überlegen geltenden Heer des Herzogs von Burgund, Karl dem Kühnen, vernichtende Niederlagen. Wie? Indem man die vermeintliche Stärke des Gegners konterkarierte. Bis dahin war die Schwere Reiterei, als Import, englische Langbogenschützen und allerdings selten Artillerie schlachtentscheidend. Darüber verfügten Bern und seine Bundesgenossen nicht, oder nicht im ausreichenden Masse. Schon seit Anfang des 14. Jahrhundert hatte man dies durch ein Heer von leicht bewaffneten Fusssoldaten kompensiert, die sich den Gegner ohne teure Armierung und Ausbildung mit Lanzen vom Leib halten konnten – die Schlachten von Morgarten 1315 und Sempach 1386 gegen die Habsburger zeigten, dass so mit vergleichsweise geringen Investitionen und Verlusten grosse Erfolge möglich waren. Das Ende der Ritterheere war eingeläutet.

Damit ein Haufen Bauernsöhne gegen eine Kavallerie bestehen kann, muss er organisiert werden. Wir müssen uns nun den 16-järhrigen Urs Künzli aus Nidwalden mit einer drei Meter langen Stange in der Hand vorstellen und dicht gedrängt knapp 100 Kollegen um in herum. Nun sieht er zum ersten Mal in seinem Leben eine Front Panzer-Reiter mit angelgten Lanzen auf sich zusprengen. Todesangst steigt auf. Der erste Impuls: Weg hier!
Doch Urs Künzli läuft nicht davon. Er ist Teil einer hocheffizienten Kriegsmaschine, in der die Hundertschaft nah aneinander im Quadrat formiert wird und nach Aussen einem unüberwindlichen Lanzenwall gleicht, der Gewalthaufen. Urs Künzli rammt also wie die Jungs neben ihm die Stange im 30-Grad-Winkel in den Boden, und wartet.
Bis 1476 ist diese Kriegsformation durch Ordonnanzen, geregelte Befehlsketten, kommunikative Leitstellen und Gefechtsaufstellungen in Gevierthaufen mit Vor- und Nachhut klar organisiert. Der Gevierthaufen wird in der Weiterentwicklung perfektioniert und macht Schweizer Legionäre zum Exportschlager.
<p class="has-drop-cap" style="line-height:1.7" value="<amp-fit-text layout="fixed-height" min-font-size="6" max-font-size="72" height="80">Nicht, dass die Handlungsanweisung "nume nid g'sprängt" aus diesem historischen Zusammenhang direkt überliefert wäre – der Autor ist über jeden Hinweis aus den Archiven dankbar -, doch sie indiziert diesen Kontext. Denn im Gegensatz zur Kavallerie hatte der Schweizer Infanterist sich ins Glied zu fügen, Ruhe zu bewahren. "Nume nid" dürfen wir jetzt mit "ja nicht übereilen", "abwarten" übersetzen. "Sprängen" allgemein, ethymologisch verbunden mit Springen, als unkontrollierte, heftige Bewegung. Ebenso wie beim Sprengen des Rasens, dem Sprengen eines Gebäudes, oder wie ein Pferd im Galopp sprengt, droht mit der unberechenbaren Bewegung Kontrollverlust. Der Reiter sprengt voran. Das Fussvolk harrt ersteinmal aus, um nach dem abgewehrten Angriff vielleicht nach vorn zu gehen. Dann aber geordnet, diszipliniert. Arnold Winkelried widerspricht dieser Haltung. Der Schweizer wartet ab, er sprengt nicht.
(1) Das Lied vom Leben als Wanderung durch die Nacht bringt man damit im 19. Jahrhundert als Beresinalied in Zusammenhang. Später wird es zur geistigen Lanesverteidigung neben der Nationalhymne gesungen.