Wer kennt die Künstlerin Gertrud Debrunner? Selbst in der Schweiz, ihrem Heimatland, wo die Fabrikantentochter in Wädenswil im Kanton Zürich 1902 geboren wurde und in bescheiden-bürgerlichen Verhältnissen 2000 verstarb, kaum jemand. Dabei hat sie ein beachtliches malerisches und graphisches Oevre hinterlassen. Noch zu Lebzeiten hatte ihr 1990 das Aargauer Kunsthaus eine kleine Ausstellung ermöglicht.
Nun gibt ihr das Kunsthaus in Aarau unter dem Titel „Auf der Grenze“ einen zweiten fulminanten Auftritt. Dazu trugen vor allem zwei kuratorische Entscheidungen bei: Zum Einen, sich weitgehend auf die Präsentation ihrer grafischen Arbeiten zu beschränken, zum Anderen ihr geistesverwandte Positionen aus der klassischen Moderne, aus ihrer Generation und von Gegenwartskünstlern aus der hauseigenen Sammlung gegenüberzustellen. So gelingt ein stimmiges Rencontre der Künstlerin mit bekannten Namen wie Ferdinand Hodler, Paul Klee, Adolf Wölfli, Annelies Strba und jenen, die für viele eine Entdeckung sein dürften, wie Ilse Weber, Ernst Maass, Charles Wyrsch oder die jüngere Silvia Bächli.
Schon der Auftakt im Untergeschoßfoyer ist nach Maß wuchtig und schön: Kommt der Besucher die großzügige Wendeltreppe herunter, empfängt ihn ein monumentaler Bronzetorso „Halbfigur“ (1995/96) des kürzlich verstorbenen Wahlzürchers aus Königsberg Hans Josephsohn (1920-2012) mit seiner schrundigen Oberfläche, dem Betrachter abgewandt, in sich gekehrt und bei aller Kraft und Masse empfindsam und verletzlich. Gegenüber an der Wand die Arbeit Gertrud Debrunners „Bahnungen, Nr. III“ (1968, ca. 1,30 x 1 m), eine Collage aus blau, rot und gelb eigefärbten Papierfetzen und ausgerissenen Landkarten unter denen verklebte Fäden mäandern. Sie gaben der Collage ihre erste Spur, ihren ersten Kontur, einen sehr persönlichen Ariadnefaden. So wenig der schwere Torso Josephsohns und die gut gelaunte Collage Debrunners auf den ersten Bick teilen, zeigen sie Gemeinsamkeiten: die Addition des Materials, die offene Form, die Transzendierung von Wahrnehmung und Wirklichkeit. Auch wenn „Bahnungen“ zunächst als formales Experiment erscheint, nah an den Collagen Jan Arps oder den zeitgleichen Plakatabrissen, den „Affiches lacérées“ von Jacques Villeglée , sieht Gertrud Debrunner Kunst zuerst als Ausdruck eines diskreten Seelenlebens, das sich darin entdeckt. Bloße Abstraktion bleibt ihr fremd, eine nach Innen gekehrte Mimesis zeitlebens Programm.
Vielleicht wäre es nicht nötig gewesen ihr in den ersten drei Räumen, in denen sie nicht vertreten ist, mit Karl Ballmer (1891-1958), Bruno Jakob (geb. 1954), Annelies Strba (geb. 1947), Ferdinand Hodler (1853-1918), Ilse Weber (1908-84), Adolf Wölfli (1864-1930) und Emma Kunz (1892-63) gleichsam ein Glacis zu ebnen. Hier wird eine expressiv figurative Seite der Moderne beschworen, die ihre Formensprache mimetisch, divinativ auf der Grenze zwischen Innen und Außen, Imagination und Realität, Traum und Wirklichkeit sucht. Doch dieser Parcours ist dramaturgisch klug und anregend. Ballmers abstrakte Figurinen aus den 1950er-Jahren erinnern an das puppenhaft Allgemeine in Strbas Fotografien der Tochter Sonja oder in Hodlers somnambuler Schönen aus „Heilige Stunde“ (1910). Keines ist von dieser, alles von einer anderen Welt. Wie Ballmer beschwört Ilse Weber in Max Beckmanns Duktus oder der von Stimmen geplagte Alfred Wölfli mit spitzem Stift deren Nachtseite.
Hält Debrunners Malerei den Vergleich nicht aus? Mag sein. Die Ausstellung verzichtet ganz darauf, wohl auch, um die Qualität ihrer grafischen Arbeiten hervorzuheben. Sie hat erst mit Anfang zwanzig zur bildenden Kunst gefunden. Ihr Schaffen, von familiären Verpflichtungen, Krankheit und Selbstzweifeln unterbrochen, kannte nur zwei wirklich produktive Phasen: In den 1940er-Jahren, als Mitglied der progressiven schweizerischen Künstlergemeinschaft „allianz“, an deren Ausstellungen sie sich von 1947 bis zu deren Auflösung 1954 regelmäßig beteiligte, und in den frühen 1970er-Jahren, nachdem sie sich im Aargauer Biberstein niedergelassen hatte. Im vierten Saal gelingt dann die Paarung mit sieben kraftvoll wilden Gouachen des Künstlers, Musikers und hospitalisierten Psychopathen Louis Soutter aus den 1930er-Jahren. Soutters schattenrissartige Personnagen sind hier unter anderem Debrunners „Entfaltung auf der Grenze“ (1949) gegenübergestellt, das kleiner im Format, und mit Tusche und Deckweiß, statt Ausrissen, mit einem verspielt-kringelnden Faden die Collage aus dem Jahr 1968 vom Eingang antizipiert. An der gleichen Wand nehmen sechs 50 x 30 cm große Querformate, Tuschzeichnungen mit schwarzem Filzstift den Takt wieder auf. „Rücklings“ (1972) und die fünf Arbeiten „Ohne Titel, Blindzeichnungen“, zwischen 1974 und 1976 entstanden, folgen wie durch den Faden aleatorisch gesetzten Linien und Flächen, die nachträglich durch expressive Schraffuren zur Geltung und Bedeutung gebracht werden, Gefühlslandschaften, Seelenkartografien. Wie Silvia Bächli mit ihren zarten Tuschzeichnungen aus den 1980er-Jahren zwei Räume weiter ein direktes Echo auf Louis Soutters zeichnerisches Werk zurückgibt, stehen Gertrud Debrunners stärksten Arbeiten aus den 1940er-Jahren im Echoraum Paul Klees. Von ihm zeigte die Kunsthalle Bern 1935 eine Retrospektive, 1940 das Kunsthaus Zürich eine Jubiläumsausstellung. Es ist wahrscheinlich, dass Debrunner diese Ausstellungen gesehen hat. Doch so nah ihre bezaubernde Tuschezeichnung „Ohne Titel, Skizze zum Traumbild Transzendenz“ (1946) auch an Klees Bilderwelt angesiedelt ist, besticht sie durch ihre sichere Hand und Anmut. Ihre Arbeiten halten auch den direkten Vergleich mit dem Klassiker der Moderne nicht nur mühelos aus, sondern geben diesem neuen Glanz zurück, wie es die beiden Collagen „Ohne Titel“ 1964, mit einem elektrisierenden Tuschekrakelee, zeigen, wenn sie Klees „Garten im November“ (1929) oder „Wochenende im Wasser“ (1935) gegenüberstehen.
Dem Aargauer Kunsthaus ist eine eindringliche Ausstellung geglückt, die mit einer eigenwilligen Künstlerpersönlichkeit auch die eigene Sammlung neu entdeckt.