Morphismus. Anicka Yi in der Basler Kunsthalle

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Schon bevor der Besucher den letzten Ausstellungssaal in der Basler Kunsthalle betritt, hat er das durchdringende Geräusch im Ohr. Einmal in den geheimnisvoll erhellten Saal eingetreten, kann er seine Quelle rasch identifizieren. Ihn empfangen im Halbdunkel drei durchsichtige, ovale Plastikblasen von 3m Durchmesser und 1,5m Höhe und indem er ihren Inhalt genauer untersucht, auf Leuchtkästen verheißungsvoll exhibitionierte phallusartige Figuren, Gnome, gut einen halben Meter hoch, bunt, mit einer schrumpeligen Oberfläche, wird er auch der drei Gebläse-Motoren gewahr, die die drei Blasen über breite Schläuche ununterbrochen mit Luft versorgen.

Bis dahin hat der Besucher Anicka Yis Ausstellung „7.070.430K of Digital Spit“ schon einiges hinter sich. Ihm wurde glibberiges grünes Gel in Plexiglaskisten präsentiert („Shameplex“, 2015), Seifenobjekte (u.a. „Lung Condom“ 2015) und wuchernde Bakterienkulturen (u.a. „Embassy Row“, 2015), Geruchsproben aus Wäschetrommeln („The Last Diamond“, 2015) oder Kunstlederfetzen, die wie verbannte Haut über Chromgestänge drapiert wurden („Middle Earth Medical“, 2015). Hin und her gerissen von der zweifellosen Schönheit der Objekte, die doch im Kern als Abjekte zu bezeichnen sind, abstoßende, weil vergänglich- ungreifbare Wucherungen, Auswürfe der Natur, die sich der Gestaltung eigentlich entziehen. Dass sie dennoch in die Kunst Einzug halten können, hat bereits Eva Hesse mit vergänglichen Latexobjekten, Joseph Beuys mit Fettecken vorexerziert und Dieter Roth mit Schimmelbildern und Verfallsmonstranzen weiter kultiviert. Doch der Zauber der drei Arbeiten, ihre Anziehung und Abstoßung übertrifft alles bisher Gesehene, das nunmehr im Crescendo zu einem triumphalen Finale präludiert. Das penetrante Geräusch tritt rasch in den Hintergrund und legt sich wie eine akustische Schutzhülle um die Plastikblasen, die sich als Teil der skulpturalen Setzung wiederum schützend um die Sockel blähen, die die drei amorphen Figuren tragen und als einzige Lichtquelle im Saal von unten geheimnisvoll beleuchten. Die Figuren sind bei näherem Besehen aus Wachs und an einem Drahtgestell befestigte, im Teigmantel frittierte Blumen, deren reizend blass-bunte Farben in einem krassen Gegensatz zu ihrer abstoßend schrundigen Oberfläche steht, die sich in den Plastikblasen verwunschen spiegeln.

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Wie soll diese faszinierende Parade gedeutet werden, wenn man sie nicht als bloßes Faszinosum hinnehmen will? Ihre Titel bieten keine Lösung an. Im Gegenteil. Sie treiben das Numinose der Inszenierung noch an. „ALZ/AZN“ heißt die erste Arbeit, „Maybe She`s Born with It“ die zweite, „Lipidary Tea Slave“ (alle 2015) die dritte. Obwohl sich die Arbeiten mit ihren ausgestellten Figuren kaum voneinander unterscheiden, führen die Titel in individuelle, private Narrative, die hier sakral überhöht wider ihre vergängliche Materialität Anspruch auf Dauer und Allgemeingültigkeit erheben. Wer oder was ist hier am Werk? Verdrängung, Rationalisierung, Sublimierung einer allerdings sehr konkreten, auch traumatisch besetzten Materialität? Eine einfache Antwort entfällt. Der Betrachter sieht sich mit Reibungsflächen und Widersprüchen konfrontiert, die sich nicht auflösen lassen.

Die New Yorker Künstlerin Anicka Yi, 1971 in Seoul geboren, darf ohne Umstände zur derzeit gehypten Post-Internet-Kohorte „junger vielversprechender“ Künstler gezählt werden, denen zugetraut wird, das künstlerische Schaffen über den Zeitgeist hinaus voranzutreiben. Yi ist in diesem Kreis eine Spätberufene. Nach einem Studium am Hunter College, der City University of New York, arbeitete sie in der Modeindustrie und hatte erst 2008 eine erste Ausstellungsbeteiligung, zwei Jahre später allerdings bereits ihre erste Einzelausstellung in der 179 Canal Gallery in New York. Dort seitdem hoch geschätzt, hat sie nun die mit der dortigen Szene gut vernetzte Nachfolgerin von Adam Szymczyk an der Basler Kunsthalle Elena Filipowic zu einer im Ergebnis bemerkenswerten Einzelausstellung an den Rhein geholt. Schon der trocken rotzige Titel der Ausstellung „7.070.430 K of Digital Spit“, der frei mit „7,07 Gigabyte digitaler Spucke“ übersetzt werden kann, gibt einen Takt vor, der ihr künstlerisches Schaffen zwischen Netzkultur und Abject-Art verortet. Digitale Zeitgenossenschaft auf der Suche nach Bodenhaftung. Minimalistische Strenge paart sich mit immersiver Inszenierung und unkontrollierbarer Prozessualität ihres ephemeren Materials. So begibt sich der Besucher der fünf Erdgeschosssäle der Basler Kunsthalle auf die Reise in ein dunkles Reich voller merkwürdiger Gegenstände, konkret durch ihr flüchtiges Material, abstrakt dadurch, dass sie nichts unmittelbar Biographisches repräsentieren auch wenn sie von der Künstlerin in ein Konzept von „Denail (Ablehnung)“, „Divorce (Trennung)“ und „Death (Tod)“ gepasst wird, das die vergangenen fünf Jahre ihrer künstlerischen Tätigkeit umspannen, erinnern und vergessen will. Von der Erinnerungsökonomie Sophie Calles zum Beispiel ist sie weit entfernt.

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Dennoch verbinden sich Narrative und Erzählungen. Die sieben Plexiglaskästen des ersten Raums („Shameplex“, 2015) bereiten die drei Figuren im letzten vor. Gleichsam zur Initiation taucht der Besucher auch hier in eine immersive Inszenierung ein, die ihn mit der Serie der Kästen an Donald Judds minimalistische „Specific Objects“ denken lässt, doch beim Blick hinein mit Eva Hesses Konzept der „Accession“-Serie 1967 konfrontiert. Die Anziehung durch den verheißungsvollen grünen Glanz am Boden der Kästen kippt in ein Gefühl der Abstoßung, indem der Betrachter erkennt, dass sich hier Myriaden von Stecknadeln unendlich langsam in eine Gallertmasse bohren und rostig verfärben. Auch hier gibt eine steril wirkende, serielle Struktur Raum für eine ephemere, vergängliche Materialität. Erfährt der Besucher, dass es sich bei der grünen Masse um Ultraschallgelee aus der Vorgeburtsdiagnostik handelt, rückt das Thema Kreatürlichkeit, Geburt, Leben und Tod wieder in den Vordergrund. Er ist wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Spannend ist das auf dieser ästhetischen Höhe allemal.

Zur Ausstellung erscheint in einer Auflage von 500 das Künstlerbuch Anicka Yi: 7,070,430K of Digital Spit, A Memoir, Hrsg. Elena Filipovic, Basel 2015, 250,00 CHF.

Zuerst erschienen in der Juli-Ausgabe von Kunstforum international Bd. 235

Über Max_Glauner

Lecturer, Researcher, Autor & Cultural Journalist Zürich | Berlin
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